Produktdetails
- Verlag: Theiss in Herder
- ISBN-13: 9783806221053
- Artikelnr.: 25665329
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Geschichte hat stets einen Raum. Die Tradition des analytischen oder philosophierenden Historiographierens hat diese Tatsache zuweilen aus dem Blick geraten lassen, doch die allerersten Geschichtsschreiber - wie Herodot und Hekataios von Milet - waren auch Geographen, und wer ein modernes Schulbuch aufschlägt, der sieht dort zwischen Schlachtengemälden, Politikerköpfen und Bevölkerungsstatistiken vor allem eines: Landkarten.
Ohne Karten ist es oft gar nicht möglich, sich über historische Prozesse eingehend zu informieren, und das gilt insbesondere für die Vorgeschichte. Unser Wissen über Zeiten und Menschen, die keine schriftlichen Quellen hinterlassen haben, schöpft fast ausschließlich aus materiellen Relikten von bestimmten Orten: Hallstatt, La Tène, das Neandertal. Wörter geographischer Herkunft dominieren die prähistorische Fachterminologie, was dem Laien den Überblick nicht gerade leichter macht. So hat die Kultusstufe der altsteinzeitlichen Höhlenmaler des Magdalénien ihren Namen von La Madeleine in der Dordogne, doch waren diese kunstsinnigen Jäger von Spanien bis nach Polen verbreitet. Dabei passt das Magdalénien noch auf eine einzige Karte. Mit steigender Dichte und Vielfalt der Funde aus späteren Zeiten wird die Situation immer unübersichtlicher - und spätestens die Jungsteinzeit versteht niemand mehr ohne einen guten Atlas.
Der nagelneue "Atlas der Vorgeschichte" allerdings ist mehr als bloß ein gutes historisches Tafelwerk ("Atlas der Vorgeschichte". Europa von den ersten Menschen bis Christi Geburt. Theiss Verlag, Stuttgart 2009. 240 S., 120 Karten, 150 Abb., geb., 49,90 [Euro]). Das von Siegmar von Schnurbein, dem ehemaligen ersten Direktor der Römisch-Germanischen Kommission, herausgegebene Werk behandelt das prähistorische Europa von den ersten Belegen für die Anwesenheit der Gattung Homo vor 1,7 Millionen Jahren in Georgien bis zu den eisenzeitlichen Völkern, mit denen Griechen und Römer zu tun hatten. Anders als in manchen für den reinen Schulgebrauch bestimmten Geschichtsatlanten findet der Leser hier aber nicht nur Karten, sondern auch kompakte und trotzdem sehr lesbare Texte, mit denen man sich schnell und mühelos über einzelne Epochen informieren kann.
Diese durch thematische Kästen sinnvoll ergänzten Texte können und wollen kein Lehrbuch ersetzen, aber sie erhöhen den Gebrauchswert des Werkes enorm. Wer etwa bei einem Museumsbesuch im Dänemarkurlaub mit der Ertebølle-Kultur konfrontiert wurde, erfährt nun nicht nur, wo diese späten Wildbeuter ihre Spuren hinterlassen haben, sondern auch, in welchen Kontext sie gehören. Besonders nützlich gerade für Lehrer, Schüler oder eben passionierte Museumsbesucher sind auch die ergänzenden Abbildungen von exemplarischen Vertretern wichtiger Fundgruppen - vom Faustkeil über mittelsteinzeitliche Pfeilspitzen bis zu diversen Keramikformen des Neolithikums.
Andere Bilder hingegen locken mit Prominentem. Der Tollund-Mann fehlt ebenso wenig wie Stonehenge oder die Himmelsscheibe von Nebra, und sie laden gerade Nichtfachleute ein, sich den anspruchsvollen kartographischen Kern des Werkes genauer anzusehen, um solche schon zu Medienikonen avancierten Funde einzuordnen. Die Karten sind wissenschaftlich auf dem neuesten Stand und infographisch von hervorragender Qualität - weder redundant noch überfrachtet.
Dass nicht alle Gebiete Europas in gleicher Intensität kartiert werden konnten, räumt Siegmar von Schnurbein in seiner Einführung selber ein und deutet an, dies habe auch Zeitgründe gehabt. Den Leser aus dem deutschsprachigen Raum, der sich über das prähistorische Geschehen in seiner Heimat hinaus auch für die fundreichen Regionen Frankreichs oder des Balkans interessiert, dürfte das kaum stören. Und mit gerade mal 240 Seiten ist dieser Atlas auch nicht so dickleibig, dass man ihn nicht in späteren Auflagen noch etwas erweitern könnte.
Dann ließe sich vielleicht auch das wenige verbessern, was man an dem vorliegenden Atlas bemängeln könnte. So sind die klimahistorischen Randbedingungen menschlichen Wanderns und Siedelns nur für die Altsteinzeit und Aspekte der Vegetation und der Böden so gut wie gar nicht erfasst. Auch hätte man beim Register ruhig über ein strenges Ortsregister hinausgehen können: Nicht jeder Ort oder Fluss, der einer auf den Karten eingezeichneten Kultur ihren Namen gab, findet sich dort. Auch wohin etwa die Trichterbecherkultur gehört, erfährt der vorgeschichtlich noch unbeschlagene Leser nur durch ein Studium der engbedruckten chronologischen Tabellen am Ende des Werkes - oder aber durch Blättern.
Andererseits gibt es, abgesehen vielleicht vom Besuch eines guten Museums, kaum eine schönere Weise, sich der Vorzeit zu nähern, als in diesem Buch zu blättern.
ULF VON RAUCHHAUPT
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