In einem Dorf an der englischen Ostküste betreibt Fran gemeinsam mit ihrem Mann Dom eine Wohnwagensiedlung, doch im Winter bleiben die Touristen eher aus. Umso mehr Zeit hat sie, ihrer eigentlichen Leidenschaft nachzugehen: der Beobachtung von Vögeln im Marschland. Vor allem die seltene
Zwergseeschwalbe hat es ihr angetan. Als in der Nähe eine Gruppe von Roma ihr Lager aufschlägt, scheint es mit…mehrIn einem Dorf an der englischen Ostküste betreibt Fran gemeinsam mit ihrem Mann Dom eine Wohnwagensiedlung, doch im Winter bleiben die Touristen eher aus. Umso mehr Zeit hat sie, ihrer eigentlichen Leidenschaft nachzugehen: der Beobachtung von Vögeln im Marschland. Vor allem die seltene Zwergseeschwalbe hat es ihr angetan. Als in der Nähe eine Gruppe von Roma ihr Lager aufschlägt, scheint es mit der winterlichen Ruhe jedoch vorbei zu sein. Spätestens als die Lehrerin ihres Sohnes Bruno vermisst wird, beginnen die Leute zu reden. Und ist es tatsächlich nur Zufall, dass zeitgleich auch ihr alkoholabhängiger Schwager Ellis wie vom Erdboden verschluckt ist?
"Das Nest" ist der zweite Roman von Sophie Morton-Thomas, dessen Originaltitel "Bird Spotting in a Small Town" lautet. In der deutschen Übersetzung von Lea Dunkel ist er bei Pendragon erschienen. Einmal mehr beweist der kleine Bielefelder Verlag damit sein Gespür für besondere, anspruchsvolle Genreliteratur. Schon die Übersetzung des Titels ist hervorragend, fasst er mit dem "Nest" die Vogelthematik und die "Small Town"-Bezeichnung doch genial in einem Begriff zusammen. Nicht zu Unrecht ist der Roman im letzten Monat in die renommierte monatliche Krimibestenliste von Deutschlandfunk Kultur aufgenommen worden. Doch, Vorsicht: Wer einen klassischen Krimi erwartet, könnte vielleicht enttäuscht werden.
Denn tatsächlich bietet Sophie Morton-Thomas' Werk mehr als einen schnöden Kriminalroman. Fast schon elegisch langsam ist das Erzähltempo in der ersten Hälfte des Buches. In wechselnden Perspektiven erzählen Fran und Tad, ein Rom, von ihren Beobachtungen, ihren Erlebnissen und Gefühlen. Jeder Blick, jede Geste wird gedeutet, immer wieder ergeben sich unterschiedliche Figurenkonstellationen. Durch die genauen Schilderungen bilden sich nach und nach Psychogramme der einzelnen Figuren, wobei die beiden Erzählstimmen und ihre Andeutungen mit größter Vorsicht zu genießen sind.
Das Besondere ist, dass es Morton-Thomas gelingt, eine unterschwellige Spannung zu kreieren, eine höchst bedrohliche Atmosphäre - obwohl zunächst so gut wie gar nichts passiert. Dazu trägt einerseits die seltsame Anspannung der Figuren bei, vor allem aber das wirklich wunderbar ausgewählte und beschriebene Setting. Die raue Küstenlandschaft, das Bangen um das irgendwann auftauchende Nest der seltenen Zwergseeschwalbe: All das schildert die Autorin in ruhigen melancholischen Bildern größtmöglicher Intensität, die ein wenig an Delia Owens' "Gesang der Flusskrebse" erinnern mögen. "Selbst der lauteste Teil der Traurigkeit wird übertönt von meinen klappernden Zähnen und dem eisigen Wind, dem ich nicht entkommen kann", heißt es beispielsweise an einer Stelle. Und genauso wenig entkommt man als Leser diesem Roman, dieser merkwürdigen Protagonistin, die die Vögel mehr zu lieben scheint als die Menschen.
Ein weiteres zentrales Thema des Romans ist die Mutterschaft. Mit zunehmender Dauer entpuppt sich Fran als spröde, lieblose Mutter, die mit dem zehnjährigen Sohn Bruno nichts anzufangen weiß. Immer wieder scheint ihre Unzufriedenheit durch, Fußballspiele des Jungen werden schon mal verpasst und warum schlurft Bruno eigentlich immer als Letzter aus dem Unterricht? Da blickt Fran lieber auf die vernachlässigt wirkende Nichte Sadie, die mit dem bereits erwähnten Ellis und ihrer Mutter Ros derzeit kostenlos in einem der Mobilheime lebt. Und natürlich schaut Fran wie gebannt auf die Zwergseeschwalbenmutter und ihr Nest. Bei der zweiten Erzählstimme Tad ist es die fehlende Mutter, die den Roman prägt. Nach dem Tod seiner Frau ist Tad nämlich dazu gezwungen, die geistig beeinträchtigte Tochter Jade allein großzuziehen und höchstens einmal Hilfe von seinem deutlich jüngeren Bruder Charlie bei der Erziehung zu bekommen.
Morton-Thomas setzt auf ein buntes und vielfältiges Personal, dessen zwischenmenschliche Beziehungen und Begegnungen einen großen Teil des Charmes von "Das Nest" ausmacht. Erst in der zweiten Hälfte erhält der Roman den Charakter eines Krimis, als es die beiden Vermisstenfälle zu lösen gibt. Und man könnte das Buch auf Seite 280 zuschlagen und hätte einen wirklich hervorragenden Roman gelesen. Doch leider verheddert sich Morton-Thomas auf den letzten 20 Seiten und bietet eine dermaßen konstruierte Auflösung des Kriminalfalls an, dass man das Buch in erster Instanz etwas verärgert zuschlägt.
Reflektiert man jedoch noch einmal die kompletten 300 Seiten, muss man konstatieren, dass "Das Nest" letztlich eine äußerst gelungene, atmosphärisch gediegene Mischung aus Psychogramm und Krimi geworden ist, bei der die Autorin ständig die Erwartungen der Leserschaft bricht und sich nicht um Genrekonventionen schert.
4,5/5