Produktdetails
- Verlag: Darmstadt. Primus-Verlag.
- ISBN-13: 9783896782090
- Artikelnr.: 07926377
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Maria Todorova kritisiert westliche Klischees vom Südosten
Für die einen beginnt der Balkan schon in München, für die anderen erst in Ottakring, manche rechnen auch Tschechen, Slowaken und Ungarn dazu, und wieder andere, so die bulgarische Autorin, beschränken ihn auf Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Albanien, die Staaten des früheren Jugoslawien und in gewissem Maße auch die Türkei. Jeweils stehen andere Vorstellungen von dem, was der Balkan sei, dahinter, und mit diesen Vorstellungen setzt sich Maria Todorova auseinander. Sie liebt den Balkan, "ohne stolz oder beschämt sein zu müssen", so die Widmung des Buches an ihre Eltern, und zu einer solchen ausgewogenen Perspektive gelangt sie am Ende des Textes. Der Weg dahin ist lang, und die Frage ist, ob er wirklich zu einem Ende führt.
Der Ausgangspunkt für die jetzt in Amerika lebende Autorin scheint ein Balkanbild in den Vereinigten Staaten zu sein, das sich erst kürzlich im Verlauf der Kriege herausgebildet hat, die die Auflösung Jugoslawiens begleiteten und immer noch begleiten. Danach ist der Balkan anscheinend eine Weltgegend, in welcher nur Hass, Mord, Totschlag und gegenseitiges Abschlachten unter unzivilisierten, halb barbarischen Volksstämmen herrschen. Mit Recht weist die Autorin auf den Zweiten Weltkrieg oder auf den nordirischen Bürgerkrieg hin, die beide nur Beispiele dafür sind, dass auch der Westen oder das übrige Europa nicht gerade die zivilisiertesten Umgangsformen obwalten lassen. Freilich vergaloppiert sie sich erheblich, wenn sie das westliche Eingreifen in den jugoslawischen Konflikt auch unter dieses Fehlverhalten bucht, "antikommunistische Paranoia" wahrnimmt oder gar von "Mördern" spricht, "die Jugoslawien in den Zerfall stürzten".
Allerdings gibt es auch andere negative Vorstellungen, die sich mit dem Begriff "Balkan" und "Balkanisierung" verbinden, und sie sind es doch wohl, die in Europa - einschließlich des Balkans selbst - vorherrschen. Auch sie werden von der Verfasserin benannt und bestehen, durchaus auch neben der Wahrnehmung heftiger interner Konflikte, eher in sozusagen liebenswürdigen Eigenschaften: "Unzuverlässigkeit, Lethargie, Korruption, Verantwortungslosigkeit" oder "eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber Regeln und Fahrplänen, ein gewisses je m'enfichisme". Aber auch hiermit scheint die Autorin nicht einverstanden zu sein, und sie unternimmt es, der Genese all dieser absprechenden Klischees auf die Spur zu kommen und schließlich ein eigenes Bild zu entwerfen. Dass dabei ein gewisser Bulgarozentrismus herrscht, soll die Leser nicht stören, störender ist, dass die Übersetzung aus dem Englischen gelinde gesagt holprig ist und nicht wenige Schnitzer enthält.
Ein Teil beruht auf mangelnder Sachkenntnis. Da das Stichwort Seifenoper anscheinend vor allem mit Weiblichkeit in Verbindung gebracht wird, erscheint König Carol, der "soap-opera Carol II", im Register als eine sonst unbekannte rumänische Königin Karola II.; da der Übersetzer (oder ist es eine Übersetzerin?) die "Schule der Weisheit" des Grafen Keyserling nicht kennt, die die Verfasserin zutreffend mit "school of wisdom" übersetzt, macht er daraus eine "Wissensfakultät"; das in Deutschland lebende slawische Volk der "Lusatians" übersetzt er oder sie mit "Lausitzer" statt mit "Sorben"; "clans" sind keine "Sippschaften"; und so hässlich die Abkürzung GUS auch ist, ein "Commonwealth of Independent States" sollte man dennoch technisch genau als "Gemeinschaft" und nicht hilflos als "Commonwealth Unabhängiger Staaten" bezeichnen. Andere Fehler rühren anscheinend daher, dass mittels eines Taschenwörterbuchs übersetzt und Bedeutungen willkürlich ausgesucht oder erahnt wurden: So wird "check" im Sinne von "Kontrolle" zu einem "Scheck"; so werden aus "scholarly journals", also wissenschaftlichen Zeitschriften, "Studienjournale"; so wird aus "devout", also "fromm", das ähnlich klingende, aber anderes bedeutende "devot"; so werden aus von Nation zu Nation unterschiedlichen Arten des Reisens, also aus "national schools of travel", rätselhafte "Reisefakultäten". Gewiss steht im Wörterbuch unter "sway" auch das deutsche "Wiegen", aber wenn es im englischen Text heißt, bestimmte Länder seien unter das "sway" Moskaus geraten, hätten Übersetzer oder Übersetzerin das Stichwort weiterverfolgen sollen: Dann hätte er - oder sie - nicht behauptet, diese Länder seien unter seltsame "Wogen Moskaus" gefallen, sondern wäre auf die richtigen Begriffe "Einfluss, Herrschaft, Gewalt, Macht" gekommen. Zurück zum Inhalt.
In einem einführenden Kapitel wird der Begriff des Balkanismus von dem des Orientalismus abgegrenzt, anschließend geht es um die ehemals geographische Bezeichnung Balkan, die die türkische Benennung des in der Antike Haimos oder Haemus genannten Gebirgszuges darstellt, weiter wird untersucht, wie aus balkanischer Sicht selber das Balkanische empfunden wurde, wobei eine "negative Eigenwahrnehmung" möglicherweise eine Übernahme der Fremdwahrnehmung darstellte und die "Selbststigmatisierung als Entstigmatisierung" dienen sollte. Ausführlich werden die Reiseberichte vorgestellt, aus denen das übrige Europa sein Balkanbild bezog und die, schon im Mittelalter beginnend, eine erhebliche Variationsbreite aufwiesen (die Schönheit der bulgarischen Frauen wird allerdings mehrfach gerühmt), je nach chronologischer und nationaler Herkunft - gut kommt übrigens Karl May weg, der "gut recherchiert" habe.
Im neunzehnten Jahrhundert begannen sich festere Vorstellungen von den Völkern des Balkans herauszubilden, wobei auch das Bild der Türken als Hintergrund wichtig ist, die ihrerseits bald als eine tüchtige Staatsnation, bald als selbst schlampig und balkanisch eingeschätzt wurden. Anschließend wird der "Mythos von Zentraleuropa" behandelt, der, unter Ausschluss der deutschsprachigen Länder, das wäre "Mitteleuropa", zum Missfallen der Autorin ein gewissermaßen zivilisiertes Gegenbild zum Balkan darstellen sollte, und schließlich macht sie sich selbst daran, ein nüchternes Balkanbild zu entwerfen.
Dieses Bild geht richtigerweise von dem alle Balkanvölker und -staaten bestimmenden Grundfaktor aus, nämlich dem "osmanischen Erbe", das je nach Blickwinkel als "fremde Bürde" oder als "komplexe Symbiose türkischer, islamischer und byzantinisch-balkanischer Traditionen" aufgefasst wurde und wird. Soziologische, politische, nationale, demographische und mentalitätshistorische Aspekte dieser Traditionen werden in einiger Ausführlichkeit und Anschaulichkeit vorgeführt - Schlamperei und Schlendrian werden allerdings mit Schweigen übergangen -, und sosehr die Autorin den tiefen Bruch betont, der mit dem Abschütteln der osmanischen Herrschaft stattgefunden hat, so sehr scheint sie deren Erbschaft als das zu betrachten, was in unterschiedlicher Ausprägung doch eine Art gesamtbalkanischer Identität stiftete und stiftet. Freilich fragt es sich, ob man das in Rumänien oder Griechenland auch so sieht, woran Zweifel erlaubt seien.
Muss es denn unbedingt eine solche Identität geben? Aber vielleicht könnte sich wirklich auf diese Weise in einem zukünftigen Europa eine spezifische, eben balkanische Ausformung des Europäertums herausbilden, die keine abschätzigen Wertungen durch die anderen mehr im Gefolge hat. Nicht einleuchtend und auch nicht kohärent abgehandelt ist allerdings die These, dass das negative Balkanbild in seinen verschiedenen Ausprägungen die Funktion habe, der westlichen Zivilisation Selbstbestätigung zu verschaffen und von eigenen Defizienzen abzulenken. Dass man in Amerika sehr kurzfristig gewonnene und sehr simple Vorstellungen hat, dürfte gewiss andere Ursachen haben, während die Vorstellung von einer gewissen balkanischen Mentalität, die vorhin als "liebenswürdig" bezeichnet wurde, denn doch wohl auf längeren Erfahrungen beruht und weniger ein Vorurteil als ein empirisches Urteil darstellt. Zu hoffen ist jedenfalls, dass eine spätere Balkan-Identität, wenn es sie denn in Zukunft geben sollte, nicht ganz auf die Elemente verzichtet, die von manchen schon in Ottakring oder gar bereits in München ausgemacht werden.
WOLFGANG SCHULLER
Maria Todorova: "Die Erfindung des Balkans". Europas bequemes Vorurteil. Aus dem Englischen von Uli Twelker. Primus Verlag, Darmstadt 1999. 360 S., geb., 68,- DM.
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