Im Mittelpunkt des zweiten Bandes dieser "mitreißenden Goethe-Biographie"? (Süddeutsche Zeitung) stehen die beiden Revolutionen, die die Welt und damit auch das Leben Goethes radikal verändert haben: die Revolution in Frankreich und die Philosophie Kants. Die Epoche, von der Nicholas Boyle hier erzählt, wird für Goethe zur Geburtsstunde einer neuen Dichtung und der lebensbestimmenden Freundschaft mit Schiller. Nicholas Boyle breitet in diesem Band, der von den Jahren zwischen 1790 und 1803 erzählt, mit dem Leben des Dichters auch das überwältigende Panorama einer Zeit vor uns aus, in der sich die europäische Welt vollständig veränderte. Es ist die Epoche, in der die politische Revolution in Frankreich eine Dynamik entfaltet, die das Alte Reich zum Einsturz bringen sollte, und in der die von Kant ausgehende philosophische Revolution das gesamte geistige Leben umstürzte. Durch seine Teilnahme an dem Einmarsch der Alliierten in Frankreich im Jahre 1792 erlebt Goethe die Greuel des Krieges und die Wirren der Revolution als unmittelbarer Zeitzeuge, hellsichtig überzeugt von der historischen und geistigen Wende, die mit diesem Krieg ein ganzes Zeitalter beschließt. Gleichzeitig wächst eine neue Generation junger Intellektueller heran - von Fichte und Hölderlin bis zu den Schlegels und Schelling -, die sich als Bahnbrecher einer neuen Welt verstehen. Zugleich aber begegnet Goethe in diesen Jahren in der Liebe zu Christiane und seinem kleinen Sohn, aber auch in seiner staunenswerten Naturforschung, das Element irdischer und schöpferischer Dauer. Und es ist die Zeit der Freundschaft und der Zusammenarbeit mit Schiller. Geht das Gespräch der beiden, in über tausend Briefen bezeugt, aus Goethes Naturverständnis hervor, so wird Kants Philosophie einer neuen Weltansicht und Menschenerfahrung zum Angelpunkt eines gemeinsam erarbeiteten Begriffs von Kunst und Natur. Neben einer Fülle anderer Zeugnisse dieses Wirkens wird im Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre, dessen Entstehung Schiller kritisch mitdenkt, an der historischen Wende das Modell einer kommenden Gesellschaft entwickelt. Boyles Biographie begreift die vielen Facetten der Goetheschen Existenz in diesen ereignisreichen Jahren als komplexe Einheit. Sie ist geschrieben mit der unvergleichbaren Souveränität des Kenners, der die Kunst des Erzählens mit durchdringender Analyse verbindet. Die stupende Kenntnis auch entlegener Quellen vermittelt uns ein überraschend anderes, kaum je wahrgenommenes Goethebild - dargeboten gleichwohl mit der Sensibilität für die Rätsel, die uns dieses Leben aufbewahrt hat.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit überschwänglicher Begeisterung bespricht Jörg Drews den zweiten Teil von Boyles Goethe-Biographie. Ein "kribbeliges Behagen" habe ihn beim Lesen dieser Seiten begleitet, die offensichtlich selbst dem Goethe-Kenner Überraschungen bieten: Dazu gehörten vor allem Boyles Überlegungen, welche welche Probleme es Goethe bereitet habe, sich ein Zielpublikum vorzustellen, und welchen Einfluss diese Vorstellung auf die Art seiner Dichtungen gehabt habe. Ebenso überraschend erscheint Drews, welches Gewicht Boyle der philosophischen Lektüre Goethes beimisst, und er schliesst daraus, dass sowohl Goethes Dichtung wie auch seine naturwissenschaftlichen Aktivitäten demzufolge stärker unter diesem Aspekt betrachtet werden müssen. Dass Boyle sich häufig "unendlich apologetisch" gegenüber manchen Dichtungen zeigt, wertet Drews eher positiv: Er fühlt sich dadurch ermutigt, von nun an etwas mehr Geduld beim eigenen Lesen aufzubringen. Boyle beschreibe die Werke so plausibel, dass man "Herrmann mit Dorothea" durchaus "zwerchfellerschütternd und windschief" finden könne. Insgesamt hält der Rezensent die Balance zwischen Biographischem und Werkdeutung für gelungen, ebenso die Übersetzung von Holger Fliessbach.
© Perlentaucher Medien GmbH
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