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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Erniedrigt und beleidigt: Maxim Billers neuer Roman
Auch mit Maxim Billers neuem Roman wird man nicht leicht fertig. Und vielleicht ist es jetzt, da die allermeisten Rezensionen erschienen sind, erlaubt, gleichsam einen Schritt beiseitezutreten und dabei für einen Moment sogar das Thema Judentum auf sich beruhen zu lassen, über das Biller sich im Sommer mit Max Czollek in die Haare gekriegt hatte (F.A.Z. vom 2. und vom 14. September). Konzentrieren wir uns auf die Konstruktion dieses schmalen Bandes, dem Ingeborg Harms in der Wochenzeitung Die Zeit Hinterhältigkeit attestiert hat.
Erck Dessauer, der vor publizistischem Ehrgeiz brennende Ich-Erzähler von "Der falsche Gruß", ist zugleich dessen ausführendes Organ: Am Stammtisch des Berliner Großfeuilletonisten Hans Ulrich Barsilay entbietet er diesem den Hitlergruß - eine riskante, sich einem Kurzschluss verdankende Protestnote, die vor dem Hintergrund des Konkurrenzverhältnisses dieser beiden, von dem bis zuletzt offenbleibt, ob es nicht bloß Dessauers Fantasie entspringt, eine gewisse Triftigkeit entfaltet. Dessauer hat diesen Kulturschickerialiebling durchschaut, der einen Konzentrationslager-Besuch samt Erweckungserlebnis frei erfunden und für diese spezielle Auschwitz-Lüge also eine Abreibung verdient hat.
Es wäre wohl etwas kühn, hinter Barsilay Max Czollek zu vermuten, der, so Biller in seiner sommerlichen Attacke, den deutschen Linken, "nach dem Mund redet" und bei seiner jüdischen Herkunft geschummelt hat. Doch selbst wenn es schon rein chronologisch nicht hinhauen sollte - als Biller eine Indiskretion Czolleks parierte, hatte er seinen Roman längst fertig -, es kommt auf die diagnostische Kraft an und ist nicht das erste Mal, dass Biller aus einer Figur des Literatur- oder, allgemeiner, des Debattenbetriebs die Luft herauslässt. Grundsätzlich darf man vermuten, dass der legendäre Verfasser von "100 Zeilen Hass" diese Dinge weniger persönlich nimmt, als seine Heftigkeit vermuten lässt. Ihn ruft vielmehr das Exemplarische solcher Figuren auf den Plan; und er stellt einer Öffentlichkeit, die auf sie hereinfällt und sich eine Moral, die nichts kostet, andrehen lässt, kein gutes Zeugnis aus.
Dass er die romanhafte Abrechnung einen nervenschwachen, ebenso wehleidigen wie ambitionierten Ich-Erzähler mit gleichfalls nicht ganz astreiner Vergangenheit erledigen und die Angelegenheit in dem fast slapstickhaften Gruß kulminieren lässt, ehrt ihn unbedingt: Temperament schlägt Prätention. Biller, der nichts ohne Absicht tut, wird sich jedenfalls gut überlegt haben, welcher Zeitpunkt günstig dafür sein würde, mit einer Czollek-Attacke die Aufmerksamkeit auf sein aktuelles Romanpersonal zu lenken. Solche Manöver gehören in die Kategorie "literarisches Leben"; und Biller spielt darin, keineswegs unbeherrscht, aber doch ziemlich ungeschützt, als einer der Letzten seiner Art eine Hauptrolle.
Auch dieser mit erfrischender Direktheit erzählte, witzig-unterhaltsame und trotz seiner Kürze auf mehreren Zeitebenen spielende Roman ist ein Spiegelkabinett, aus dem es kein Entrinnen gibt, in dem jede Verbindung, jede Anspielung denkbar ist. Staunend registriert man, wie die Selbstreferenzialität diesmal auf die Spitze getrieben wird, eine handgreifliche "Esra"-Anspielung inbegriffen: "Sie redete dann auch darüber, dass man Barsilays Buch, das eigentlich für immer und ewig verboten sei, trotzdem überall kriegen könne, sogar bei Amazon, für 200 Euro, dass also immer noch jeder lesen könne, wie sie im Bett sei." Valeria verklagt ihren ehemaligen Liebhaber Barsilay wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten, wie dies Biller im wirklichen Leben auch passiert ist, wobei sein verbotener Roman "Esra" zumindest bei Amazon so billig gar nicht zu haben ist; eine aktuelle Anfrage ergab 489 Euro.
Es gibt vermutlich nicht viele Schriftsteller, die sich trauen, ihren (Anti-)Helden in eine dermaßen unerhörte Begebenheit zu verwickeln. Und es gehört zu Billers Kunst, Dessauer mit nicht rundum lauteren Ansichten und Motiven auszustatten, ihn in seiner ganzen Schwäche aber menschlich, ja sympathisch erscheinen zu lassen. Von Anfang an wirkt der falsche Gruß wie ein Dummejungenstreich, der sich nur in Dessauers Vorstellung zu einem ruinösen Skandal auswächst. Am Ende reüssiert er, dessen Magisterarbeit den Titel "Spätbolschewismus als Identität und Nachteil" trug, als Autor einer Naftali-Frenkel-Biographie: über den Erfinder des betrieblichen Massenmords in Stalins Diensten - ein Stoff, von dem Dessauer lange fürchtete, Barsilay würde ihm den vor der Nase wegschnappen.
Die kulturbetrieblichen und zeitgeschichtlichen Versatzstücke, mit denen Biller hantiert - von der hohepriesterlichen Suhrkamp-Verlegerin über Herfried Münkler und Rainald Goetz bis hin zum Historikerstreit -, sind mit Händen zu greifen. Dreh- und Angelpunkt ist, wieder einmal, der Holocaust: Dessauer schreibt seine erste große Radiorezension über das "Zwiebel"-Buch, in dem Günter Grass seine SS-Vergangenheit ausbreitete.
Über dem zeitgeschichtlichen Gehalt sollte man das Nervenkostüm, das auch dem Roman gleichsam übergeworfen ist, nicht übersehen. Dessauer, außerordentlich reizbar, nah am Wasser gebaut, dem die Angst vor einer gesellschaftlichen Blamage im Nacken sitzt, hat in Barsilay einen inneren, spiegelverkehrten Doppelgänger, dem er den Erfolg, die Freundin und die Selbstsicherheit, mit der er auftritt, neidet. Biller macht ihn dabei nicht besser, als er ist, zeigt ihn in seinem Einzelgängertum, sogar in einer gewissen Schäbigkeit, durch welche die Sehnsucht, doch auch dazuzugehören, permanent hindurchschimmert.
Die Selbstkritik, die dabei abfällt, überführt er in Zeitkritik. So richtet sich Billers schriftstellerische Aggression weniger gegen das Personal, sondern vielmehr gegen eine Öffentlichkeit, die solche Wichtigtuer zu Einfluss kommen lässt. Dies alles geschieht zulasten auch des Protagonisten: Er erfährt in seiner konsequent literarischen Aneignung der Welt einen persönlichen Substanzverlust, der durch die Reibung an Barsilay erst recht hervortritt.
Für diesen Antihelden-Typus gibt es ein berühmtes Urbild: Es ist Dostojewskis namenloser Verfasser der "Aufzeichnungen aus dem Untergrund" (wahlweise "Kellerloch"). Dieser aus einem fortschrittskritischen Monolog und einer Gesellschaftsburleske zusammengezimmerte Novellenzwitter führt, wohl erstmals in der literarischen Moderne, die einerseits zerstörerische, andererseits aber auch erkenntnisstiftende, ja geradezu hellsichtige Kraft des Ressentiments vor, sodass Nietzsche darin ganz richtig einen psychologischen Geniestreich sah.
Auch Billers Ich-Erzähler fördert aus dem Untergrund wenig Schmeichel-, gar Heldenhaftes zutage, immer vor dem Hintergrund, vor dem sein Werk grundsätzlich zu lesen ist und dem man den Arbeitstitel "Spätjudentum als Identität und Nachteil" geben könnte. Es ist verblüffend, wie rückhaltlos er hier wieder (seine eigene?) Feinnervigkeit zum Sujet macht. Dessauer räsoniert über die Bistrogäste, unter die er sich immer wieder mischt: "Sie alle strahlten so viel unneurotisches Selbstbewusstsein und professionelle Ellbogenhaftigkeit aus."
Dostojewskis früher Geist, der von religiöser Ergriffenheit noch einigermaßen frei war, ist hier recht lebendig, Billers Sympathie für die Erniedrigten und Beleidigten notorisch. Zu deren Ehrenrettung ist ihm jedes Mittel recht. Der titelgebende Gruß mag dabei falsch sein, der Roman ist es nicht. EDO REENTS
Maxim Biller: "Der falsche Gruß". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 128 S., geb., 20,- Euro.
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