Einen sogenannten "Klassiker" zu beurteilen, ist nie ganz einfach. Man muss sich ein bisschen einlassen auf die damalige Zeit und deren Besonderheiten. Aber nachdem ich "Nach Mitternacht" von Irmgard Keun sehr lesenswert fand, wollte ich nun ihr berühmtes Werk "Das kunstseidene Mädchen" lesen. Auch
hier ist der Schreibstil einigermaßen gewöhnungsbedürftig, passt jetzt doch letztlich zum Buch und…mehrEinen sogenannten "Klassiker" zu beurteilen, ist nie ganz einfach. Man muss sich ein bisschen einlassen auf die damalige Zeit und deren Besonderheiten. Aber nachdem ich "Nach Mitternacht" von Irmgard Keun sehr lesenswert fand, wollte ich nun ihr berühmtes Werk "Das kunstseidene Mädchen" lesen. Auch hier ist der Schreibstil einigermaßen gewöhnungsbedürftig, passt jetzt doch letztlich zum Buch und zu der Protagonistin sehr gut.
In diesem Buch geht es um die junge Doris. Sie arbeitet bei einem aufdringlichen Rechtsanwalt und erzählt von ihrem Leben, sie hat ihre ganz eigene Art zu sprechen und zu schreiben:
"Und ich denke, das ist gut ist, wenn ich alles beschreibe, weil ich ein ungewöhnlicher Mensch bin. Ich denke nicht an Tagebuch - das ist lächerlich für ein Mädchen von 18 und auch sonst auf der Höhe. Aber ich will schreiben wie im Film, denn so ist mein Leben und wird noch mehr so sein."
Doris ist es leid, täglich Briefe zu tippen, sie will ein Star werden, „ein Glanz“:
"Ich will eine werden. Ich will so ein Glanz werden, der oben ist."
"Ich werde ein Glanz, und was ich dann mache, ist richtig - nie mehr brauche ich mich in acht nehmen und nicht mehr meine Worte ausrechnen und meine Vorhabungen ausrechnen."
Sie flieht nach Berlin, was für sie die große weite Welt bedeutet. Sie hat kein Geld, keine Arbeit, aber jede Menge Träume. Sie stürzt sich ins Leben der Bars und Cafés und lässt sich auf Affären mit Männern ein, die Geld haben. Diese Affären sind meist nur von kurzer Dauer und mit der erträumten Karriere klappt es nicht wie erhofft ...
"Und er bot mir eine Wohnung und Geld - mir kam die Gelegenheit zu einem Glanz, und es ist leicht mit Alten, wenn man jung ist - sie tun, als könnte man was dafür, und als hätte man es geleistet. Und ich wollte, ich wollte."
"Liebe Mutter, du hast ein schönes Gesicht gehabt, du hast Augen, die gucken, wie sie Lust haben, du bist arm gewesen, wie ich arm bin, du hast mit Männern geschlafen, weil du sie mochtest, oder weil du Geld brauchtest - das tue ich auch. Wenn man mich schimpft, schimpft man dich... Ich hasse alle, ich hasse alle - schlag doch die Welt tot, Mutter, schlag doch die Welt tot."
Doris wirkt bisweilen vielleicht etwas naiv durch ihre Art zu reden, doch betrachtet man ihr Leben und wie sie sich durchgeschlagen hat im Berlin der 30er Jahre, war sie bewundernswert gewieft und klug auf ihre Art. Dazu noch sehr eigenständig und selbstbewusst. Viele ihrer Gedankengänge fand ich sehr reflektiert für so ein junges Mädchen.
"Ich bin ihr dankbar, und wir haben dieselbe Art und machen uns keine böse Luft. Wenn ich ihr Gesicht sehe, wenn es schläft, habe ich gute Gedanken um sie. Und darauf kommt es an, wie man zu einem steht, wenn er schläft und keinen Einfluss auf einen nimmt."
Das Buch ist nicht ganz einfach zu lesen, auch aufgrund des doch recht speziellen Schreibstils, der bestimmt nicht allen Leser*innen gefällt. Dass der Roman nicht in Kapitel, sondern lediglich in drei große Abschnitte eingeteilt ist, erschwert das Lesen ebenfalls ein wenig. Stellenweise fand ich das Buch auch etwas zu langatmig (manche Passagen), doch insgesamt ist es sprachlich und literarisch wirklich wert, es zu lesen. Irmgard Keun gilt zu Recht als eine der wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen des 20. Jahrhunderts!
Auch das Nachwort, indem man viel über ihr Leben erfährt, fand ich überaus lesenswert.
"Ob man wohl ein Glanz werden kann, wenn man es nicht von Geburt ist?"
"Das ist so furchtbar viel, wenn einem einer gefällt - Liebe ist noch so ungeheuer viel mehr, dass es sie wohl gar nicht, vielleicht kaum gibt."
"Und da fragt er mich: wie siehst du aus? Das war mir ganz komisch, ich wollte mich selber sehen von außen und nicht wie ein Mann sonst mich beschreibt zu mir, was ja doch immer nur halb stimmt."
"Ich hatte in eine Materie zu dringen. Und habe mir eine Liste gemacht mit Fremdworten, daneben schrieb ich, was sie heißen, ich musste mir die Erklärungen manchmal selber suchen. Die Worte machen sich gut, wenn man sie anwendet."
"Ich mag ihn gar nicht so furchtbar, aber ich bin bei ihm, weil daß jeder Mensch ein Ofen ist für mein Herz, was Heimweh hat und nicht immer nach Hause, sondern nach was wmWirklichem zu Hause - das sind Gedanken in mir, die wälzen sich. Was mache ich wohl falsch mit meinem Leben?
Aber vielleicht verdiene es gar nicht es gar nicht anders."
"Vater Unser, mach mir noch mit einem Wunder eine feine Bildung - das übrige kann ich ja selbst machen mit Schminke."
"Ich glaube nicht eher, daß ich tot sein kann, als bis ich tot bin - und dann ist es zu spät und nichts mehr zu wollen - aber bis dahin ... da lebe ich eben."