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Zauberberggast
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München

Bewertungen

Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 31.01.2025
Bible Bad Ass
Löhle, Edith

Bible Bad Ass


gut

“Vielleicht ist es an der Zeit, einen längst fälligen Frühjahrsputz in mir zu machen: verstaubte Glaubenssätze ab-swiffern, veraltete Rollenverhältnisse entsorgen, Werte neu anordnen. Ich will, dass es in mir glänzt.” (S. 109)

Viele junge und mittelalte Menschen kehren der Kirche heutzutage zurecht den Rücken. Was in diesem konservativen Männerverein abgeht, ist leider ganz und gar nicht mehr feierlich. Da können sie noch so viel Wein trinken und Hostien essen. Die Diskriminierung von Frauen und queeren Menschen zieht sich bis in unsere heutige, man sollte meinen, moderne und aufgeklärte Zeit.
Am allerschlimmsten sind aber die furchtbaren Missbrauchsskandale, die vertuscht und verschleiert werden.

Die Protagonistin des Romans “Bible Bad Ass”, Klara, hat ebenfalls mit der konventionellen Kirche gebrochen. Sie ist Journalistin bei einem hippen Frauenmagazin und als sie für ihren Chef - ausgerechnet während ihrer MENstruation - mal wieder eine tolle Story aus dem Hut zaubern soll, stößt sie auf die Geschichte der queeren evangelischen Pfarrerin Annina Ligniez, die ihr eine andere, sehr weibliche Sicht auf Bibel und die Kirche offenbart. Annina Ligniez ist eine reale Person, mit der Edith Löhle für den Roman tatsächlich zusammengearbeitet hat. Als Klara plötzlich in eine Whatsapp-Gruppe gerät, in der biblische Frauen ihre realen Geschichten erzählen, kommt es bei der Journalistin zu einem Umdenken: Können wir nicht zu einer modernen Form des Glaubens finden, indem wir den Fokus auf Schwesternschaft und Liebe lenken, statt auf Männerwirtschaft und Ausgrenzung?

Das positive und das negative Element dieses Romans sind für mich eins: eine Flut an Informationen. Wenn man böse ist, könnte man sagen: Infodump, wenn man nett ist: Aufklärung. Man merkt einfach, dass die Autorin Journalistin und mit dem Finger stets bei Google ist. Für einen Roman mit Ich-Erzählerin fehlt mir die detaillierte Herausarbeitung des inneren Konflikts der Hauptfigur. Klar geht es auch immer wieder darum, dass sie angepisst ist von ihrem frauenfeindlichen, nicht-gendernden Umfeld und um die Probleme mit ihrem Freund Nico. Letzteren liebt sie eigentlich, aber er nimmt sie in ihrer extrem feministischen Haltung nicht immer ernst und das führt zu Problemen. Aber ich habe die Figur Klara dennoch nicht ganz greifen können, sie kam oft rüber wie ein wandelndes Klischee. Eigentlich Katholikin mit schwäbischen Wurzeln, die im hippen Berlin wohnt. Prenzlauer-Berg-Drama ick hör dir trapsen…

[Spoiler ahead] Als Realistin finde ich es nicht gut, dass uns das Buch mit einer metaphysischen Erklärung für den Chat mit den biblischen Frauen abspeist. Woher kam dann das Ganze jetzt? Ist es fake oder real hardcore metaphysisch? Und dass die Protagonistin am Ende als esoterische und singuläre Spinnerin dasteht, hat mir auch nicht gefallen. Eine potenzielle Pseudo-Reformatorin, die alle Beziehungen zu ihrem bisherigen Leben abbricht? Interessant wäre gewesen zu wissen, was sie jetzt daraus macht. Aber an dieser Stelle endet leider das Buch.

Das heißt jetzt allerdings nicht, dass ich aus “Bible Bad Ass” nichts mitgenommen habe. Während das Buch als Roman für mich kaum funktioniert, ist es als Informationsquelle für die jahrhundertelange Frauenfeindlichkeit der Institution Kirche Gold wert. Ich habe sehr viel gelernt über weibliche Geschichte und die Ungerechtigkeiten, die Männer den biblischen Frauen - angetan haben, indem sie deren Geschichte und Bedeutung z.B. für Jesus fehlinterpretiert oder klein gehalten haben. Ob es sie nun gab oder nicht, ist dabei irrelevant.

Eigentlich ein sehr tolles, informatives und wichtiges Buch. Als erzählendes Sachbuch hätte es mir aber noch besser gefallen.

Bewertung vom 26.01.2025
Der Klavierschüler
Singer, Lea

Der Klavierschüler


sehr gut

“...man muss nicht Thomas Mann sein. In jedem Menschen lebt vermutlich der Wunsch, erkannt zu werden. Erkannt als das, was er ist oder war.” (S. 126)

“Der Klavierschüler” von Lea Singer hat meines Erachtens ein klares Zielpublikum: Intellektuelle. Wer sich so gar nicht mit der Welt der europäischen Künstler*innen der 1930er Jahre auskennt, der hat hier schlechte Karten, überhaupt einen Einstieg zu finden. Klar, es geht eigentlich um eine Liebesgeschichte und die sollte ja für jede/n zugänglich sein, oder? Aber die Liebe zwischen dem Protagonisten, dem Schweizer Musiker Nico Kaufmann (1916-1986) und dem russischen Star-Pianisten Vladimir Horowitz (1903-1989) wird schon auf sehr verkopfte Weise präsentiert. Klar, das Buch ist hervorragend recherchiert und komponiert, aber selbst für die, denen Namen wie Antonio Borgese und Nathan Milstein etwas sagen, ist es eher geistige Arbeit als Lesevergnügen.

"Der Klavierschüler” ist mehr fiktionalisierte Zeitgeschichte und literarische Autobiografie als ein klassisches Stück Literatur. Die Autorin hat sich am realen Leben von Nico Kaufmann orientiert. Als Basis ihrer Erzählung hat sie die Briefe von Horowitz an seinen Schüler Nico Kaufmann aus den Jahren 1937-1939 und dessen unveröffentlichte Romanfragmente quasi als Erste gesichtet und ausgewertet. Sie bilden das Grundgerüst der Handlung. Einzig durch den “Fremden” (Donati), den Singer als fiktionale Figur (glaube ich) einführt und der wegen der von Kaufmann gespielten Musik noch am Leben ist und jetzt seine Geschichte hört, verleiht sie der erzählten Biografie eine literarische Komponente.

Die Handlung ist spröde und an sich schon nicht so leicht zugänglich. Das liegt meines Erachtens an der verschachtelten Erzählsituation und auch an den fehlenden Anführungszeichen bei der direkten Rede. Man muss sich vieles erschließen: Wer spricht und welche Zeitebene wird besprochen. Die Rahmenhandlung spielt 1986 in Zürich, wo Nico Hoffmann auf den suizidgefährdeten Donati trifft. Am Anfang wird dieser Donati von der Schweizer Gesellschaft für Sterbehilfe gesucht, um ihn seinen finalen Drink, für den er unterschrieben hat, zu verabreichen. Donati entkommt aber, weil er Musik (Schumanns “Träumerei”) hören möchte. In einem Luxushotel trifft er auf Kaufmann, der ihm das Stück spielt und anschließend seine Lebensgeschichte erzählt. Dafür machen sie einen kleinen Roadtrip durch Zürich und drum herum. Bis auf ganz zu Beginn fehlt der Spannungsbogen und ich tat mich etwas schwer, an der Geschichte dranzubleiben.

Wenn ich an den Roman denke, kommen mir Nomen in den Sinn, die sich leitmotivisch durch dieses Buch ziehen: Musik, Klang, Sünde, Tod, Unsterblichkeit. Außerdem die Missachtung und Verfolgung, der Homosexuelle im 20. Jahrhundert ausgesetzt waren. Eine traurige Zeit und es bleibt uns allen zu hoffen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Momentan sieht die Zukunft nicht so rosig aus und wir sollten wo es geht, die Fahne der Menschlichkeit und Toleranz hoch halten.

Ein sehr gutes, aber schwer zugängliches Buch mit einem schweren geistigen Überbau, in dem wir zwar eine Liebesgeschichte, aber nur wenig direkte erzählte Interaktion zwischen den Liebenden haben. Ich kann “Der Klavierschüler” allen empfehlen, die sich für queere Geschichte und Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts interessieren.

Bewertung vom 22.01.2025
Das verwinterte Herz
Pfalzgraf, Jennifer

Das verwinterte Herz


ausgezeichnet

Es begab sich vor langer Zeit, etwa um das Jahr 1780 herum. Da lebten in der Hauptstadt des französischen Reiches zwei Menschen, die einander spinnefeind waren. Zum einen der Junker Miłosz Lepiński, der die Profession eines Magiers unterhielt. Diese musste er im Untergrund ausüben, denn diejenigen, die der Magie mächtig waren, wurden von der französischen Polizei dazumal, der Maréchaussée, sträflich verfolgt. Miłosz war ein Vicomte aus den polnischen Königslanden.
Zum anderen war da die Maid Germaine de Saint-Nazaire. Auch sie war von adeligem Geblüt, eine Comtesse gar. Sie zählte gerade einmal 23 Lenze, hatte aber schon viele arme Seelen auf dem Gewissen. Das lag an ihrem gar unüblichen Broterwerb - sie wurde bezahlt, um Menschen ins Jenseits zu befördern. Die beiden Leute hatten gar schon viel erlebt in ihrem jungen Leben, doch nun mussten sie miteinander eine Reise antreten, die ihrer beiden Dasein für immer verändern sollte. Diese wunderschöne winterliche Mär erzählt euch die ehrenwerte Schriftgelehrte Jennifer Pfalzgraf in ihrem Buche “Das verwinterte Herz”.

Und ich erzähle euch jetzt, wie ich diese “Mär” so fand. Zuallererst muss ich sagen, dass in diesem kurzen Werk von 218 Seiten, das die Autorin als “Dark Fantasy Novelle” bezeichnet, kein Wort zu viel oder zu wenig ist. Eine eingängige Prosa, die das Wichtige erzählt, das Unwichtige ausspart und trotzdem nicht mit einem detaillierten Setting und einer einnehmenden winterlichen Atmosphäre geizt. “En point” könnte man passend zum französischen Handlungsort wahrheitsgemäß sagen. Neben der wirklich märchenhaften Liebesgeschichte, die den roten Faden der Erzählung bildet, lebt diese von ihren beiden hervorragend ausgearbeiteten Protagonist*innen Germaine und Miłosz. Ich habe selten “lebensechtere” Charaktere kennenlernen dürfen, die sich beim Lesen förmlich materialisieren und lebendig werden. Ich habe das Geplänkel und den gewitzten Schlagabtausch der beiden sehr genossen. Ebenso das Gefühl, wie langsam aber sicher die Liebe zwischen den Seiten emporsteigt wie der winterliche Morgennebel über dem Meer bei Nantes, dem letzten Schauplatz der Novelle. Der metaphorische Überbau und die literarischen Querverweise überzeugen auf ganzer Linie. Ich bin wirklich beeindruckt, wie viel schriftstellerische Könnerschaft im Selfpublishing möglich ist. Schön und wichtig finde ich auch die Content Notes/Triggerwarnungen am Ende des Buches. Ich habe dennoch zwei kleine Kritikpunkte: Erstens hätte ich mir gewünscht, dass das Buch tatsächlich noch länger gewesen wäre. Das Ende huschte etwas zu schnell herbei und ich hätte Germaine und Miłosz gerne noch viel ausführlicher begleitet. Ich weiß aber auch, dass die Autorin das Buch bewusst als Novelle konzipiert hat, um sich von Fantasy-Epen abzuheben und aus rein pragmatischen Gründen des Büchermachens und des Vertriebs.
Zweitens fand ich es nicht allzu "dark". Ich hätte es vielleicht eher als eine “Historical Fantasy Novelle” statt “Dark Fantasy” bezeichnet. Die Autorin erklärt es aber damit, dass in Dark Fantasy eben Dinge vorkommen, die sensible Leser*innen abschrecken könnten wie z.B. Gewalt, Mord/Tod oder die Verfolgung von Andersdenkenden. Deshalb auch die Content Notes.

Allen Leser*innen, die “aus ihrem Herzen keine Mördergrube machen”, sei dieses magische, warmherzige, aber stellenweise auch düstere Werk - trotz seiner Kürze und dem meiner Meinung nach nicht ganz so dunklen Dark - wärmstens an selbiges gelegt.

Bewertung vom 15.01.2025
Wackelkontakt
Haas, Wolf

Wackelkontakt


ausgezeichnet

“Es ging darum, mit seinen Worten den Übergangsbereich zu berühren. Die unsichtbare Nahtstelle zwischen den Welten des tatsächlich Geschehenen und des möglich Gewesenen. Wie ein Kletterer durfte man von diesem Grat nicht abrutschen und weder in den Himmel reinen Wortgeklingels noch in die Faktenhölle des gelebten Lebens stürzen.” (“Wackelkontakt”, S. 147)

Die eben zitierten Gedanken stammen aus dem Kopf unseres Protagonisten Franz Escher, der über seine Profession als Trauerredner nachdenkt und die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. Was ist wirklich passiert und was ist Wunschdenken oder Fiktion? Das sind Fragen, die sich Escher im Laufe der Handlung, von der ich auf keinen Fall zu viel verraten darf, noch öfter stellen wird.

Franz Escher und Elio Russo alias Marko Steiner.
Das sind zwei Männer, die von der seltsamen Geschichte des jeweils anderen fasziniert sind. Escher liest ein Buch über Elio/Marko und vice versa. Sie haben viele Gemeinsamkeiten und doch auch wieder gar keine. Irgendwie eint sie aber die Leidenschaft für das Zusammensetzen. Escher ist leidenschaftlicher Puzzler, Steiner setzt Fahrräder und Elektronisches wieder zusammen.
Aber Escher und Steiner sind eben auch ganz surrealer Weise zwei literarische Figuren, die den jeweils anderen als literarische Figur kennen und innerhalb eines literarischen Werkes das literarische Werk lesen, in dem der jeweils andere vorkommt. Simpel, wie Wolf Haas selbst über seine Geschichte sagte, aber genial (wie das Feuilleton und meine Wenigkeit über die Idee sagen). Das ist verrückt, kafkaesk, meta- und intertextuell, das ist spaßig und traurig und so spannend, dass ich das Buch kaum links liegen lassen oder nicht an es denken konnte, während ich es las (und das war keine lange Zeit).

Dieser raffinierte erzählerische Trick, dass die Handlung immer häppchenweise so weit voranschreitet, bis Franz oder Marko/Elio sowie andere in der Geschichte eine Rolle spielende Personen das Buch mit der Geschichte des jeweils anderen zur Hand nehmen, ist einfach genial! Ich frage mich, wie es sein kann, dass bislang noch niemand auf diese brillante Idee gekommen ist.

Ungefähr auf Seite 116 habe ich erst gecheckt, auf was das Ganze erzähltechnisch hinausläuft und war von meiner Erkenntnis getroffen wie ein Stromschlag - passend zum Titel. Einfach so unfassbar genial dieser Plot und natürlich die erzählerische Umsetzung.

Das Leitmotiv des Romans ist die Kunst von M.C. Escher, dem Namensvetter unseres Protagonisten Franz Escher. Seine Puzzle-Leidenschaft beginnt mit einem 1000-Teile-Puzzle von Eschers zeichnenden Händen, die sich selbst zeichen. Das ist natürlich eine Anspielung auf die Unmöglichkeit dieses metatextuellen Romans selbst, in dem zwei Geschichten einander spiegeln und sich der Kausalität von Raum und Zeit entziehen. Wolf Haas fungiert hier also als literarischer M. C. Escher.

Dieser Roman ist beileibe keine Coverschönheit. Hier kommt die Schönheit wahrlich von innen. Es ist eine, die sich aus einem Mix aus feinsinnigem Humor, literarischer Perfektion, meisterhafter Wortgewandtheit und einem scharfen Blick für die Unzulänglichkeiten des Menschlichen speist. Unbedingt lesen!

Bewertung vom 11.01.2025
Not your Darling
Blake, Katherine

Not your Darling


gut

Orgien im prüden Amerika der 1950er Jahre? Ja, laut Katherine Blake und ihrem Buch “Not your Darling” (übersetzt von Astrid Finke) gab es sie zu Hauf - zumindest in Hollywood, in den nur von außen weißen Villen der skrupellosen Filmemacher und glamourösen - männlichen - Stars. Eine Frau, die hier ihr blaues Wunder erlebt und doch ihren Weg relativ unbeirrt fortschreitet, ist die 21-jährige Protagonistin Loretta Darling. Ein Künstlername, denn eigentlich heißt sie Margaret und stammt aus einem englischen Küstenstädtchen, wo sie in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs. Sie möchte im Sündenpfuhl Hollywood groß rauskommen - als Visagistin der Stars. Außerdem ist es ihr Wunsch, Make-up im großen Stil verkaufen - die Kunst des Schminkemachens lernte sie von ihrer Mutter. Ein ehrenvoller Plan, wenn da nicht die Männer wären, die ihren Weg kreuzen. Wird Loretta ihr Ziel trotz in den Weg gelegter Steine erreichen?

In guter Literatur sind die Charaktere so gezeichnet, dass wir uns mit ihnen identifizieren können und das Gefühl haben, sie wären wirklich “echt”. Bei Loretta hatte ich dieses Gefühl der Authentizität ihrer Persönlichkeit leider an keiner Stelle. Sie wirkt wie eine belebte Barbie, die eine pseudo-feministische Geschichte vorspielt, aber keinerlei Tiefe besitzt. Auch die anderen Charaktere sind nicht sehr differenziert und meist entweder “gut” oder “böse”. Blake zeichnet ein sehr eindimensionales, toxisches Bild vom Hollywood der frühen 1950er Jahre. Praktisch jeder ist machtgeil, dauerhorny und skrupellos - nur wenn man in der Vergangenheit Traumata und schwere Verluste erlebt hat, kann man, wie Scott Elliott (Lorettas “Love Interest”) ein halbwegs "normaler" Mensch bleiben in der Traumfabrik. Auch für Loretta wurde eine melodramatische Background-Story erdacht, die ihren Charakter quasi tiefenpsychologisch unterfüttern soll. Jo, überzeugt mich hier leider nicht und wirkt wie ein sehr durchschaubarer "Kunstgriff" in die Trickkiste literarischer Klischees.

Was mich immer tierisch stört - wir haben in der Handlung keinerlei Marker für das tatsächliche Vergehen der Zeit. Wir wissen zwar, dass Loretta am Tag ihres 21sten Geburtstages heiratet, aber die Autorin lässt uns über das Datum im Unklaren, wir kennen noch nicht einmal die Jahreszeit. Gut, in Los Angeles gibt es nicht wirklich Jahreszeiten, aber auch als die Handlung nach New York wechselt, wird nichts darüber verraten. Warum haben nicht mal die Briefe, die Loretta an ihre Schwester Enid schreibt, eine Zeitangabe. Loretta sagt an einer Stelle, dass ihr die englischen Jahreszeiten fehlen würden, weil wieder ein sonniger Tag sei. Es ist mir schleierhaft, wie man ohne die Nennung auch nur eines Monatsnamens ein komplettes Buch von fast 400 Seiten schreiben kann. Schließlich gibt es auch Feiertage wie Unabhängigkeitstag, Thanksgiving, Weihnachten, die in den USA eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Alles wird nur sehr vage verortet. Zum Beispiel heißt es “es war ein Sonntag” als sie ihren Ex-Mann Raphael wiedertrifft. Er möchte nicht, dass sie auf das Ereignis an ihrem 21. Geburtstag zu sprechen kommt, das zur Trennung der beiden führte: “Wie du sagst, es ist ja lange her.” Ich will als Leserin wissen, wie lange das her ist. Vor ein paar Kapiteln hat Loretta da noch gesagt, dass sie immer noch 21 ist. Ein bisschen “Worldbuilding” erwarte ich auch von Nicht-Fantasy-Romanen. Nämlich dass sie unsere Welt - auch in historischer Form - plastisch abbilden und nicht in einem luftleeren Raum verharren, in dem sich Lesende nicht orientieren können. Das alles erinnert mich an Seifenopern im TV, die ebenfalls an jeder Stelle schreien: wir sind gescriptet und haben absolut nichts mit dem echten Leben zu tun.

Was die Plotentwicklung und Spannungskurve angeht, so ist der meiner Meinung nach interessante Teil nach nur einem Drittel des Romans bereits vorbei. Ab diesem Höhepunkt ist die Handlung kein tosender Sturm mehr, sondern nur noch ein laues Lüftchen. Oder, um im Vokabular von Lorettas Metier zu sprechen: Das Gesicht des Buches legt sein glamouröses Oscar-Make-up ab, um einen alltagstauglichen und unspektakulären Nude-Look aufzutragen. Gegen Ende passiert dann noch einmal etwas, aber das kann die unnötig aufgeblähte Story auch nicht mehr retten.

Obwohl mich der Anfang des Romans bis zum (ersten) Höhepunkt ganz gut unterhalten hat, habe ich mir wesentlich mehr von dem Buch versprochen. Die gestalterische Aufmachung ist wirklich sehr schön, der Inhalt eher mau. Wie bei einer Person, die durch ein glamouröses Make-Up ein “Durchschnittsgesicht” zu verbergen sucht. Schade.

Bewertung vom 21.12.2024
Mord im Stadtpalais
Maly, Beate

Mord im Stadtpalais


ausgezeichnet

Für mich ist Beate Maly schon seit vielen Jahren die Queen des unterhaltsamen Historienromans. Oft sind ihre Romane historische Krimis, die wiederum sehr oft ihre Heimatstadt Wien als Schauplatz des Geschehens haben. Ich persönlich liebe die Reihe um Ernestine Kirsch und Anton Böck, in der es ein älteres Paar immer wieder mit Mordfällen zu tun bekommt. Aber Maly hat noch viel mehr im Repertoire und kann definitiv schneller schreiben als ich dazu komme, ihre Bücher zu lesen. Ich kenne kaum eine schreibende Person, die produktiver ist als sie.

Der vorliegende “Weihnachtskrimi” ist diesmal kein Teil einer Reihe, sondern ein eigenständiges Buch. Wir befinden uns natürlich in Wien, im Dezember 1910. Vom Elend in der Vorstadt ist in der Wiener Innenstadt mit ihrer prachtvollen neuen Ringstraße und Prestigebauten wie dem Eislaufverein - der im Roman auch eine Rolle spielt - vor wunderbarer Kulisse, nichts zu merken. Diesmal tauchen wir mit dem Fall in die vornehmen Kreise Wiens ein. Das Mordopfer ist ein reicher älterer Tabakfabrikant namens Steinhäusel, der in seinem dekadenten Stadtpalais in der altehrwürdigen Herrengasse - in nächster Nähe zur Hofburg - während der Adventszeit seine gesamte Familie mit Anhang empfängt. Ganz im Geiste der vor einigen Jahren verstorbenen ersten Frau Steinhäusel, die die Weihnachtszeit liebte und ihre Familie während dieser um sich scharen wollte. Protagonistin des Romans ist die böhmische Köchin Mila, die seit ihrem zehnten (!) Lebensjahr in Wien arbeitet. Mittlerweile ist sie über Fünfzig und spürt die jahrelange harte Arbeit in ihren Knochen. Mila arbeitet erst seit wenigen Monaten im Palais Steinhäusel, wo sie für das leibliche Wohl der Herrschaften zuständig ist. Allerdings darf der Hausherr keinen Zucker essen und auch dessen neue Ehefrau, eine ehemalige Schauspielerin, verzichtet auf Milas Mehlspeisen, achtet sie doch auf ihre schlanke Linie. Gut, dass es bereits zwei Enkelkinder gibt, die gerne naschen. Als der Hausherr nach dem Genuss zweier zuckerfreier "Marillentascherl" tot umfällt, bricht ein Familienstreit um das Erbe aus. War es vielleicht doch Mord? Mila und nette Kommissar Felix Zack, der aussieht wie der Nikolaus, ermitteln.

“Mord im Stadtpalais” ist ein sehr atmosphärischer, ruhiger Krimi. Maly versteht es wunderbar, die historischen Weihnachtsbräuche lebendig werden zu lassen. So bekommen die Kinder z.B. Nikolausstiefel, die mit traditionellem Naschwerk, Früchten und Nüssen befüllt werden. Man riecht beim Lesen förmlich die weihnachtlichen Gerüche, die die Küche des Palais ausstrahlt. Historisches Setting kann Beate Maly aus dem EffEff. Genauso wie ausführliche Charakterisierungen, bei denen die Figuren bis ins kleinste Minenspiel Gestalt annehmen. Sie hat einen besonderen Schreibstil, den ich unter Hunderten anderen blind wiedererkennen würde. Die Figur des Felix Zack und dessen traurige Geschichte gehen absolut ans Herz. Schön dass es Hoffnung für ihn gibt und er jetzt einen “Gankerl” hat. Hier wird das weihnachtliche Bedürfnis nach Harmonie und Glück für alle befriedigt, was für die zerstrittene Familie Steinhäusel natürlich nicht gegeben ist.

Der Krimi ist ähnlich gestrickt wie die von Agatha Christie - am Ende gibt es die Auslösung, bei der alle Verdächtige zugegen sind. Und anders als Beate Maly zunächst dachte - wie sie im Nachwort sagt - passen Weihnachten und Krimi sehr wohl zusammen. Für alle die historische Wohlfühlkrimis mögen, ein absolutes Muss.

Bewertung vom 18.12.2024
Flimmern im Ohr (eBook, ePUB)
Schibli, Barbara

Flimmern im Ohr (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

“Daheim beim Üben fühle ich mich einsam, wenn ich die Musik von damals höre, denn damals war das Hören ja immer ein kollektives Erlebnis. Wir gehörten zusammen, denn dabei ging es letztlich beim Hören dieser Musik. Aber das Hören, oder wie immer man das nennen will, was ich mit den Platten mache, lässt mich meine Einsamkeit, die ja eh schon da ist, noch deutlicher fühlen.” (S. 101)

In “Flimmern im Ohr” geht es um die 53-Jährige Schweizerin Priska. Der Roman, der aus der Ich-Perspektive der Protagonistin erzählt wird, spielt im Sommer 2010, Priska ist also etwa Jahrgang 1957.

Priska kämpft nach einem Unfall (welcher das ist, werden wir später im Buch erfahren) mit einem schwerwiegenden Hörverlust. Vor Kurzem wurde ihr ein sogenanntes Cochlea-Implantat eingesetzt, das ihr dank modernster Technik wieder einen Zugang zum Hören verschaffen soll. Ihre Musiktherapeutin Frau Häusermann hat ihr empfohlen, die alten Platten ihrer Jugend abzuspielen, um Musik wieder wahrnehmen zu lernen. Die Songs vergangener Zeiten triggern eine gedankliche Reise in die Vergangenheit und lassen die Eckpfeiler von Priskas Biografie für die Lesenden lebendig werden. Vor allem die Zeit der späten 1970er und frühen 1980er Jahre wird beleuchtet.

Gefiltert durch Priskas Gedankenwelt werden Tabuthemen des weiblichen Intimbereichs ganz offen auf den Tisch gelegt. Scheidenflüssigkeit (bzw. ihr Fehlen), Periode, Masturbation, Wechseljahre, Hitzewallungen, Pille und diesbezügliche Trigger-Themen wie Abtreibung, (gewollte) Kinderlosigkeit und Vergewaltigung sind Schlagworte, die auf dem Tablett von Priskas Erinnerungen einen ungezwungenen Tanz tanzen. Die Lesenden hören sie förmlich rufen: Schaut uns an, hier sind wir, uns gibt es auch noch! Auch das Stichwort Bisexualität ist untrennbar mit der Protagonistin verbunden - und auch mit David Bowie, der selbst bi war und dessen Aussage “Was sind wir sexy, alle!” sich leitmotivisch durch den Roman zieht.

Eigentlich vermeide ich die typische Rezi-Phrase “das liest sich flüssig”. Aber jetzt muss ich sie mal wieder aus der Mottenkiste oder dem Phrasenschwein hervorholen, denn ich kann das Lesegefühl tatsächlich nicht anders beschreiben. Hier stockt nichts, alles ist im Flow, wie bei einem guten Musikstück, von denen viele im Roman zitiert werden. Die Prosa von Schibli gibt einen gewissen Takt vor und wir als Lesende freuen uns, wenn wir den Refrain wiedererkennen. Es ist eine emotionale und interessante Reise und es macht Freude, am wechselhaften Leben der Hauptfigur Priska teilzuhaben - sowohl an ihrem gegenwärtigen mit dem Möchtegern-Dandy Bengt, als auch an ihrer bewegten Vergangenheit mit der Revoluzzerin Gina. Gina ist eine überaus spannende Frauenfigur, die den Feminismus in Reinkultur verkörpert. Dass sie dennoch enigmatisch und vielschichtig bleibt und nicht zur eindimensionalen Chiffre verkommt, ist der gekonnten Charakterisierung der Autorin zu verdanken. Die Protagonistin Priska selbst ist ohnehin sehr facettenreich und das übergeordnete Thema mit dem Hörverlust und dem Implantat ist keines, über das man in jedem zweiten Roman etwas lesen würde.

Ich bin ehrlich: Mit der Schweizer Geschichte kenne ich mich so gut wie gar nicht aus. Dass es so eine Art “Stasi” gab und eben diese Fichen-Affäre, die im Jahr 2010 nochmal ein Revival erlebte, war mir völlig unbekannt. Barbara Schibli schafft es wunderbar, die historischen Zusammenhänge auch für Unkundige transparent zu machen und zwar ohne dass es je dröge oder langatmig wird.

Dies ist ein Buch über weibliche Selbstbestimmung/Feminismus, versehrte Körper und einen wachen Geist, der zurückblickt auf ein Leben - voller Fülle und Musik, Liebe und Schmerz - in dem Wissen, dass da trotzdem und hoffentlich noch ganz viel Zukunft ist. Beeindruckend.

Bewertung vom 06.12.2024
Wir finden Mörder Bd.1
Osman, Richard

Wir finden Mörder Bd.1


gut

"Wir finden Mörder” könnte man wohl am besten mit Begriffen aus der Filmwelt beschreiben. Der Roman ist ein Crossover aus Krimikomödie und Actionthriller, gewürzt mit ein bisschen Spionage-Vibes, wobei ein ultratrockener englischer Humor tatsächlich der rote Faden ist, der das Konglomerat zusammenhält. Wer also keine witzigen Krimis mag, der ist bei Osman definitiv fehl am Platz. Ich persönlich kenne seine “Donnerstagmordclub”-Cosy Crime-Romane nicht, dies war meine erste Begegnung mit dem Autor.

Wir begeben uns mit diesem Buch auf eine mörderische Schnitzeljagd rund um den Erdball. Es gab einige Morde an Influencer:innen auf der ganzen Welt, die bei einer mysteriösen britischen Agentur unter Vertrag waren - und auf Protagonistin Amy, ihres Zeichens Bodyguard, hat es ein Auftragskiller abgesehen.

Die Figurenkonstellation fand ich mit das Beste an dem Buch - also der ehemalige britische Cop Steve Wheeler, der seiner Schwiegertochter Amy bei der Mörderjagd hilft. Im Schlepptau noch eine Ex-Britin und weltberühmte Schriftstellerin namens Rosie d'Antonio, die für den Glamourfaktor zuständig ist. Während Amy als die toughe “Hau-druff-Frau” mit der schrecklichen Kindheit als Protagonistin wenig greifbar bleibt, ist das mit Steve eine andere Geschichte. Er ist mit Abstand der Sympathieträger in “Wir finden Mörder”. Steve hat dem Londoner Trubel seiner Berufszeiten Adieu gesagt und lebt ein beschauliches Leben im idyllischen Dörfchen Astley in Hampshire. Leider ist seine Frau Debbie vor kurzem verstorben, weswegen ihn eine gewisse Melancholie umgibt. Zum Glück gibt es seinen Kater Trouble, das Pubquiz, seine Freunde, kleinere Detetektivjobs - z.B. das Wiederauffinden verlorener Tiere - sowie die täglichen Telefonate mit Amy, die wie sein Sohn Adam in der Welt herumjettet.

Was den Humor betrifft: Ja, typisch britisch und trocken, wie gesagt, teilweise Richtung Slapstick gehend. Die oft absurden Dialoge haben mich manchmal an Agentenfilm-Parodien wie “Pink Panther” erinnert. Ein Beispiel: “‘Du bist nicht zufällig ein Auftragskiller?’ ‘Mit meiner Arthritis?’” (S. 314) Obwohl der Roman in der Jetztzeit spielt (ca. 2023), haben viele Settings einen 60er-oder 80erJahre-Flair, vor allem dank der exzentrischen Schriftstellerin und Grande Dame Rosie di Antonio. Auch kommt man sich aufgrund der schwerreichen und skrupellosen Geldwäscher (ein astreiner Bösewicht) und Multimillionäre sowie der Jagd um den Erdball mit elitären Privatjets, mit einer Prise “Good Old England” als Kontrastprogramm, vor, wie in einem “James Bond”-Film.

Ein großes Problem des Buches ist mal wieder die Länge. Mit 420 Seiten zwar noch gerade so im Rahmen für einen Krimi, wäre nicht die Spannung mit zunehmender Länge auf der Strecke geblieben. Die Anzahl der Kapitel ist mit 101 auch überdurchschnittlich hoch - die Szenerien, Perspektiven und das Personal wechseln rasend schnell. Viele Namen und Decknamen muss man sich hier merken. Ich hätte mir etwas mehr Plot über die Influencer-Szene gewünscht, das wird aber nur anhand einer Person etwas näher beleuchtet. Stattdessen geht es eben viel um Multimillionäre, Geldwäscher und Personenschützer:innen.

Ein Krimi, der ganz okay ist, der sich für mich aber nur aufgrund der liebenswerten Szenerie rund um Steve (ich sage nur Parkbank) zu lesen gelohnt hat. Ich glaube eher nicht, dass ich die Reihe weiterlesen werde.

Bewertung vom 26.11.2024
Wandern bei Nacht
Lewis-Stempel, John

Wandern bei Nacht


ausgezeichnet

“...rings um uns herum hatte die Erde sich aufgetan und silberne Kaninchen hervorgebracht, die ihre Gesichter in Mondtau wuschen. Ich hätte sie berühren können. Der Farn hatte funktioniert. Ich war unsichtbar.” (John Lewis-Stempel “Wandern bei Nacht”, Aus dem Englischen von Sofia Blind, Dumontverlag, S. 65)

Andere machen Yoga oder meditieren, um sich zu erden und runter zu kommen. Ich lese zu diesem Zweck ganz einfach die Bücher von John Lewis-Stempel, vor allem, wenn ich gerade keine Zeit und Muße habe, selbst in die Natur zu gehen - oder, wenn es Nacht ist. Denn wie Lewis-Stempel sagt: “Nachts sind die normalen Regeln der Natur außer Kraft. [...] Die Tiere rechnen nicht damit, dass wir Menschen im Dunkeln draußen sind; das ist ihre Zeit, und die Welt gehört noch ganz ihnen.” (S. 14) Nur die Wenigsten wagen sich im Dunkel nach draußen, vor allem nicht auf dem Land, wo die wirklich wahre Dunkelheit herrscht. Denn wir modernen Menschen “haben die Nacht verbannt, schon vor langer Zeit.” (S. 16)

Lewis-Stempel nimmt uns mit auf vier Nachtspaziergänge, die er in seiner heimatlichen englischen Grafschaft Herefordshire unternommen hat. Viermal Nachterlebnisse in vier Lebensräumen (Wald, Fluss, Hügel, Feld) zu allen vier Jahreszeiten. Alles in Begleitung seines Hundes Edith, denn: “ein Mann, der nachts alleine herumläuft, wird als Krimineller betrachtet. Es sei denn, er führt seinen Hund aus.” (S. 18) Ich mag den sehr feinen Humor von Lewis-Stempel und ich mag seine wunderschöne Prosa, von der sich manche Literat:innen eine Scheibe abschneiden können. Ich könnte euch jetzt seitenweise Zitate hier einfügen, um dies zu belegen und muss mich sehr zurückhalten, diese Rezension nicht nur aus Zitaten bestehen zu lassen. Habe ich schon die “Nachtnotizen” erwähnt, die sich an die Schilderungen der Spaziergänge anschließen? Eine Art Tagebuch Lewis-Stempels, in dem er die nächtlichen Beobachtungen zur jeweiligen Jahreszeit festhält. Die Begegnungen mit verschiedenen Tieren (Fledermaus, Fuchs, Eule, bellende Rehe, Igel, etc.) und Gedanken zur nächtlichen Fauna und zum Wetter. Der Autor ist auch Landwirt, was im Buch immer wieder eine Rolle spielt. Wir begleiten ihn also durchaus auch, wenn er um fünf Uhr früh aufsteht, um seine Kühe zum Tuberkulosetest von der Weide zu holen. Wer sich also für den Alltag eines Landwirts interessiert, sollte das Buch auch lesen.

“Wandern bei Nacht” ist ein “Wohlfühlsachbuch” zum Schwelgen und Schwärmen. Durch die poetischen Worte des Autors werden wir Zeug*innen ganz wundersamer Naturschauspiele - ob es der “Mondbogen” (ein nächtlicher Regenbogen) im Winter ist, das “Irrlicht”/”Elfenfeuer” im Frühling oder “foxfire”, das Leuchten mancher Pilzarten in der Finsternis einer Herbstnacht. Typisch für das Schreiben Lewis-Stempels ist die Untermalung seiner Prosa mit Auszügen aus Gedichten berühmter Schriftsteller:innen. Das macht das Ganze fast mehr zu einem literarischen Gesamtkunstwerk als zu einem Sachbuch. Aber auch den “Faktenfreund:innen” wird der Autor mehr als gerecht. Neben dem Faktenwissen im Fließtext gibt es ein ausführliches “Glossar für Nachtwanderungen”, ein Quellenverzeichnis und im Epilog interessante Fakten zum Thema “Lichtverschmutzung” - für die Tiere ist diese leider eine zunehmend große Bedrohung. Dass es auch in Deutschland sogenannte “Lichtschutzgebiete” gibt, war mir z.B. völlig neu.

Lewis-Stempel öffnet mit seinen Büchern unseren Blick für die Schönheit und Magie der Natur. Anhand seiner Nachtwanderungen versetzt er uns in eine Welt, die uns modernen Menschen scheinbar verschlossen scheint. Möglicherweise wird die ein oder andere lesende Person nun selbst dazu animiert, auf eine ganz besondere eigene Entdeckungsreise im Dunkeln zu gehen.

Wunderschön, zum “immer-wieder-Lesen” und perfekt als Geschenk geeignet, auch für Menschen, die scheinbar schon alles besitzen. Alle Sterne des Nachthimmels für dieses Buch!

Bewertung vom 03.11.2024
Tage einer Hexe
Dimova, Genoveva

Tage einer Hexe


sehr gut

“Sie ging zum Fenster. Die Vorhänge waren zurückgezogen und gaben den Blick auf die verschneite Straße frei. Auf dem Dach gegenüber glitzerte etwas. Der Schatten einer großen Frau duckte sich hinter den nächstbesten Schornstein. Nur der Rauch ihrer Pfeife kräuselte sich noch erkennbar im Wind.” (Genoveva Dimova: Tage einer Hexe. Aus dem Englischen von Wieland Freund und Andrea Wandel, Klett-Cotta, S. 386)

Die Handlung spielt in einer fiktiven Version eines slawischen Landes (die Autorin wurde in Bulgarien geboren) während der zwölf “Schmutzigen Tage”, beginnend in der Silvesternacht, die den Start dieser Tage im Roman markiert. Bei uns gibt es ja die Raunächte, die von Weihnachten bzw. in der heidnischen Tradition von der Wintersonnenwende bis ca. zum 6. Januar andauern. Beide Zeiten haben gemeinsam, dass man ihnen nachsagt, der “Schleier zwischen den Welten” würde dünner werden und Magie in der Luft liegen. In Chernograd, einem ummauerten Ort, der aus Schwarzweiß-Tönen, Rauch, Traurigkeit und Magie zu bestehen scheint, treiben während der "Schmutzigen Tage” waschechte Monster und Geister ihr Unwesen: Upire, Karakonjule, Ruba, Rusalken, Samodiven, Varkolaks… Um die Stadt vor diesen Monstern zu beschützen, braucht es Magie und die wird dort von Hexen ausgeübt. Bzw. die Hexen versorgen die “normalen” Chernograder*innen mit Amuletten, Talismanen, Zaubertränken und anderen magischen Artefakten zur Verteidigung gegen die bösen Kreaturen.

Unsere Protagonistin Kosara Popova aus Chernograd ist eine Feuerhexe. Aber dummerweise verzockt sie ihren Schatten in der Neujahrsnacht an einen Fremden, weil er sie vor dem Zmey, dem Zar der Monster, beschützen soll. Welche Vorgeschichte Kosara mit dem Zmey hat, erfahren wir erst nach und nach. Der Fremde teleportiert Kosara nach Belograd, die Stadt auf der anderen Seite der Mauer, in der alles anders und vor allem positiver ist als in Chernograd. Wie es Roxana, eine andere Hexe aus Chernograd formuliert: “Alles ist so neu und aufgeräumt und sauber. Und die Leute sind so nett. Das ist irgendwie unheimlich. Warum lächeln sie die ganze Zeit? Was ist so verdammt lustig? Was haben sie zu verbergen?” (S. 68) Der erste Teil des Buches besteht aus dem Spiel mit der dichotomen Topographie der beiden Städte: Chernograd vs. Belograd. Aber obwohl Belograd so viel angenehmer und bunter ist als Chernograd, weiß Kosara, wo sie hingehört und vor allem, dass sie als Hexe ohne Schatten nicht überleben kann…

Der Plot dieses Fantasy-Romans, der den ersten von bislang zwei Teilen markiert, ist actionreich und spannend. Wir fiebern mit Kosara mit, wie sie versucht, den Zmey zu besiegen und ihre Magie zurückzuerobern. Dabei treffen wir nicht nur die blutrünstigen Monster und Geister, sondern auch allerlei schräge menschliche Gestalten an. Wir hängen auch das ein oder andere Mal auf dem Friedhof ab, denn viele der Monster sind nichts anderes als Zombies. Bei allem Gruselfaktor, der hier zum Tragen kommt: Ein bisschen “Romantasy” ist auch dabei, denn in Belograd lernt Kosara den schmucken Bullen Able kennen, wobei es der ansonsten einsamen (mal vom Geist ihrer Schwester abgesehen) Feuerhexe etwas wärmer ums Herz wird. Das alles ist gewürzt mit einer ordentlichen Portion Humor und Augenzwinkern.

Besonders hervorheben möchte ich die wirklich beeindruckend “herbeigeschriebene” winterliche Atmosphäre, die dieser Roman von der ersten Zeile an ausstrahlt. Man möchte sich als Leser*in sofort mit einer Decke und einem Punsch/Tee einkuscheln und noch tiefer in die fantastisch-magische Welt eintauchen, die Genoveva Dimova sich ausgedacht hat.

Wer actionreiche Fantasy-Geschichten mag, die etwas gruselig sind und dabei oft ins Skurrile und Groteske gehen, eine tolle winterliche Atmosphäre aufweisen und eine starke, etwas “andere” (weibliche) Protagonistin haben, die auch dem ein oder anderen Love Interest nicht abgeneigt ist, der ist mit “Tage einer Hexe” an genau der richtigen Adresse. Zum absoluten Mega-Highlight hat es bei zwar nicht gereicht, aber es ist ein sehr unterhaltsamer Fantasy-Roman, der mit Sicherheit viele begeisterte Leser*innen finden wird.