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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
ElliP
Wohnort: 
Hessen

Bewertungen

Insgesamt 152 Bewertungen
Bewertung vom 17.04.2025
Die erste halbe Stunde im Paradies
Adomeit, Janine

Die erste halbe Stunde im Paradies


ausgezeichnet

Drei sind eine Party
Eine interessante Konstellation, die beiden unzertrennlichen Geschwister Anne und Kai und die alleinerziehende Mutter, die Multiples Sklerose bekommt und sich von der fröhlichen, musikalischen und temperamentvollen Frau zum Pflegefall entwickelt.
Die Kinder werden im Laufe der Zeit überfordert, als es der Mutter immer schlechter geht, denn sie müssen sich kümmern und die Kranke pflegen. Die Krankheit übernimmt die Regie, die Mutter wird immer abhängiger und die Geschwister können weder die Bedürfnisse der Kranken stillen noch werden ihre eigenen Bedürfnisse erfüllt. Es ist schmerzhaft zu sehen, wie die anfangs enge und positive Dreierbeziehung nach und nach auseinanderbricht, da die Aufgabe zu groß wird und die Situation zu sehr belastet. Aus der Fürsorge für die geliebte Mutter entsteht eine totale Überforderung, die emotionale Reife ist (noch) nicht vorhanden und die Jugendlichen können die Ansprüche nicht erfüllen. Und dann entsteht auf einmal die große Entfremdung, der Verlust der Nähe und der Liebe. Der Leser möchte wissen, warum? Was hat den Bruch ausgelöst? Der Umgang mit der Scham, mit der Krankheit? Eifersucht? Verlorenes Vertrauen? Hoffnungslosigkeit? Aus dem Wir entsteht ein Ich, das jeweils unglücklich ist und nicht ausreichend gesehen wird.
Die Loyalität wird auf die Probe gestellt, Schuldgefühle entstehen und Kommunikation bzw. die Suche nach Lösungen findet nicht statt, ein umfassendes Dilemma für alle drei Protagonisten.

Der Stil ist passend, unprätentiös, fast lakonisch erzählt erfahren wir den Handlungsstrang aus der Perspektive der Schwester / Tochter. Nach Annes Kindheit gibt es einen großen Sprung in die Zeit ihrer Berufswelt, der Bruch mit Kai hat stattgefunden und wir erleben eine junge Erwachsene, die mit dem jungen Mädchen kaum etwas gemein hat.
Sie hat in der Zwischenzeit aufgrund der gestörten Beziehungen eine totale Unabhängigkeit von sozialen Bindungen entwickelt, sie will sich vor Nähe und damit einhergehend vor möglichen Schmerzen und Enttäuschungen schützen. Dadurch ist sie immer bedürfnis- und kontaktloser geworden, ehrgeizig und erfolgreich im Beruf wirkt sie unabhängig und unnahbar. Aber Kai, der abwesende Bruder, taucht nach jahrelanger Stille plötzlich in ihrem Leben wieder auf, hilfesuchend und bedürftig bedroht er ihren Perfektionismus, ihre Abgeklärtheit und selbstgewählte Einsamkeit. Wird Anne dieses Eindringen in ihre Privatsphäre zulassen? Kann es eine Wiederannäherung und eine Versöhnung geben? Oder ist zu viel passiert, was nicht vergessen werden kann?
Ein wichtiges Thema, das sozialkritisch anspricht, was die Gesellschaft gerade auch in der Zukunft verstärkt leisten muss: Die Pflege alter oder kranker Menschen, entweder in Heimen oder privat zuhause durch Angehörige. Es geht um die Würde des Alters und der Krankheit, schwierige, schmerzhafte Prozesse, Themen, die aktuell und von allgemeinem Interesse sind, aber kaum im Rampenlicht stehen, sondern häufig kaschiert werden. Ein spannendes, emotional mitreißendes Buch, das Augen öffnet und Probleme sichtbar macht.

Bewertung vom 16.04.2025
Was hast du nur getan? (eBook, ePUB)
Kui, Alexandra

Was hast du nur getan? (eBook, ePUB)


sehr gut

Tod auf dem Schulhof
Rasanter Jugendthriller mit schillernden Charakteren und sprachlich salopper, schlagfertiger Schnodderigkeit.

„Arthur, du Idiot, was hast du nur getan?“ Tränen werden weggeblinzelt. Niemand sollte vorm Schulabschluss sterben müssen.

Alexandra Kuis Jugendthriller kommt sehr cool und frisch daher, spannend von der ersten Seite an, gleich mit einem Toten auf dem Schulhof, dann die spritzige und wortgewandte Queen, die ihre Clique, die Kobras, unter Kontrolle hat, sehr kratzbürstig, klug und gewitzt in die Welt hinausblickt und ihre Chancen nutzt. In diesem Roman ist Cassidy König, genannt Queen, die Protagonistin und unumstrittene Heldin des Romans, ein Teenagerin, der im Leben bisher nichts geschenkt worden ist, die von ihrer tablettenabhängigen Mutter erzogen wird, allerdings eher auf sich selbst gestellt ist und für ihre kleine Schwester mitverantwortlich ist. Die geliebte Großmutter fehlt, seitdem sie an Krebs gestorben ist, und der einzige Halt neben ihren Freunden ist aus ihrem Leben verschwunden.

Mit ihrer Freundesclique recherchiert sie zu dem Mord an dem begabten und beliebten Mitschüler und es stellt sich heraus, dass durchaus mehrere Personen einen Vorteil vom Verschwinden Arthurs haben, andererseits aber auch gebrochene Herzen zurückbleiben. Kann die eingeschworene Gang es schaffen, trotz der vielen Zerwürfnisse, Gefahren, Anschuldigungen und Drohungen ihre Freundschaft zu retten und gemeinsam den Mord aufzuklären? Lohnt es sich überhaupt, die Wahrheit ans Licht zu bringen?

Ein spannender Jugendthriller, der neben den Actionszenen auch immer gesellschaftskritische Fragen und typische Jugendthemen Themen aufwirft – Abhängigkeiten, Drogenkonsum, Jugendkriminalität, Gewalt auf dem Schulhof und innerhalb der Familie, Noten- und Erfolgsdruck, Polizeigewalt, Mobbing und Erpressung. Themen, die besonders auch Jugendliche beschäftigen, die sinnvoll behandelt werden und zum Nachdenken anregen können.

Sprachlich unheimlich schnell, witzig und schlagfertig, ein Genuss, der sicherlich bei Jugendlichen gut ankommt!

Als Schullektüre sicherlich ein Gewinn und durch die vielfältigen Charaktere und Problemfelder für Diskussionen und weiterführende Aufgaben bestens geeignet, außerdem aufgrund des Plots ein Pageturner, der Jugendliche zum Lesen motivieren kann.

Bewertung vom 15.04.2025
Die schlechteste Idee in der Geschichte der schlechten Ideen
van de Wijdeven, Herman

Die schlechteste Idee in der Geschichte der schlechten Ideen


ausgezeichnet

Eine leise Geschichte der ganz großen Gefühle, emotional, sprachgewaltig, ein kleines Meisterwerk.

Selten hat mich ein Jugendbuch derart gepackt. Die Geschichte ist einfach erzählt, aber atmosphärisch dicht, von sprachlich außergewöhnlicher Schönheit, die Charaktere werden mit wenigen Strichen gezeichnet und sind doch so überzeugend und nahbar.

Bent, der eher zurückhaltende und ruhige Ich-Erzähler, treuer Freund Juris, der das Pendant bildet: ungestüm, mutig, sportlich und zu jedem Abenteuer bereit. Immer hat er eine verrückte und ansteckende Idee im Kopf und die beiden Freunde setzen sie gemeinsam in die Tat um. Diese fast ideale Freundschaft wird nach den Sommerferien durch einen Neuankömmling gestört, bis ins Mark erschüttert und infrage gestellt.

Der Neue heißt Finn, ist auf den ersten Blick wenig anziehend und wird aus Bents Perspektive negativ beschrieben: dürr, still, mit dünner Stimme. Aber er scheint sich mit Juri bestens zu verstehen und Bent fühlt sich schnell ausgegrenzt und als drittes Rad am Wagen. Die Gefühle rangieren zwischen Eifersucht, Wut, Verlustängsten und Erstaunen darüber, dass nichts mehr so ist, wie es einmal war. Und diese vertrackte Dreiecksbeziehung entwickelt sich in kürzester Zeit zu einer explosiven Mischung, die den Jungen den Boden unter den Füßen wegzieht. Es geht um die große Frage nach Loyalität, Freundschaft, Vertrauen, Eifersucht, es geht auch um Schuld und persönliches Wachstum.

Herman van de Wijdeven schafft es, diesem kurzen Roman, die richtigen Worte zu verleihen, poetisch, intensiv, voller wahrhaftiger Beobachtungen und Gedanken, die ein Elfjähriger genau wie ein Erwachsener empfinden kann. Die zeitlich gestückelten Episoden, Vor- und Rückblenden lassen einen Sog entstehen, so dass man den Roman nicht mehr aus der Hand legen möchte. Sprachlich voller Schönheit, ein ungewöhnliches und besonderes Jugendbuch, das sich sensibel und ehrlich mit den Themen der Eifersucht und Verlustängsten auseinandersetzt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.04.2025
Dunkle Momente
Hoven, Elisa

Dunkle Momente


gut

Nach mehr als 30 Jahren gibt die erfolgreiche Anwältin Eva Herbergen ihre Anwaltszulassung vorzeitig zurück, was ist vorgefallen? Warum zögert sie erst und überlässt diese wichtige und lebensverändernde Entscheidung dem Zufall? Ein spannender Einstieg, Rahmenhandlung für den Roman „Dunkle Momente“ von Elisa Hoven.
Nun folgen neun ihrer spektakulärsten Fälle, nach und nach werden sie aufgerollt,, die Vorgeschichte, die Verhandlung, das Verhalten der Strafverteidigerin, der Ausgang des Gerichtsprozesses und als besonderes Bonbon noch wie die Geschichte für den Täter oder das Opfer weitergeht.

Die Autorin selbst ist Professorin für Strafrecht an der Uni Leipzig, Richterin am Sächsischen Verfassungsgerichtshof und Verfasserin mehrerer Bücher, also Kennerin des Systems.
Aber ganz ehrlich: Ich kann diesen Roman von Elisa Hoven kaum lesen - das ist ein Sammelsurium an Gräueltaten, die Elite der skurrilen und in der Öffentlichkeit häufig bekannten Fälle, die es auf die Titelseite der Zeitungen geschafft haben. Teilweise muss ich die Schilderung der Taten überfliegen, da die Bilder nicht im Kopf bleiben sollen. Es ist schon äußerst sensationell und auch Effekthascherei dabei, eine Sammlung der schrecklichsten und unvorstellbarsten Fälle der deutschen Justizgeschichte. Nichts für schwache Nerven, gerade weil wir auch wissen, dass die Schilderungen im Gegensatz zu grausamen Psychothrillern auf der Realität basieren.

Mein Fazit:
Der Roman ist auf alle Fälle interessant zu lesen, er ist sehr kurzweilig, unterhaltsam, häufig atemberaubend und sprachlich ansprechend. Allerdings habe ich mich immer wieder über das Verhalten der Anwältin gewundert bzw. teilweise auch geärgert. Wer handelt so unklug? Ist das für eine angesehene und erfolgreiche Juristin noch glaubhaft? Welchen Eindruck bekommen Laien von der Justiz? Recht und Gerechtigkeit scheinen nicht im Gleichgewicht zu sein.

Außerdem waren für mich die Fälle zu sensationell, eine Gräueltat folgt der nächsten, ein Fall ist schockierender als der letzte, es wird gemordet, vergewaltigt, getötet, geraubt, hintergangen, betrogen – für True-Crime-Fans aber sicherlich ein intensiver Leckerbissen.

Den Roman werde ich an einen jungen Studenten verschenken, er studiert Jura im 4. Semester und erzählt immer ganz begeistert von diversen Fällen, die er wieder an der Uni diskutiert hat – in seinem jugendlichen Eifer sind die Gedankenspiele und Reflexionen zu dem Verhalten der Juristin und den Entscheidungen des Gerichts sicherlich noch sehr anregend und faszinierend. Diesen Punkt möchte ich auch positiv herausstellen: Die Frage nach Recht und Gerechtigkeit steht im Zentrum und immer wieder kann man sich fragen, wie hätte man selbst in bestimmten Momenten reagiert, wie beurteilt man die Situation, welche Entscheidungen wären denkbar. Wie wird ein Mensch zum Täter? Wer ist Täter? Wer ist Opfer? Es geht um den dunklen Moment im Leben eines Menschen, und dieser ist immer einen genauen Blick und auch eine Geschichte wert.

Bewertung vom 15.04.2025
Ámbar
Ferraro, Nicolás

Ámbar


ausgezeichnet

Die blutige Emanzipations- und Coming-of-Age-Story einer ungewöhnlichen Heldin
In Nicolas Ferraros Thriller „Ambar” gibt es eine außergewöhnliche, starke junge Heldin, Ambar, Tochter des argentinischen Gangsters Víctor Mondragóns, mit dem sie ein Leben voller Gefahren, roher Gewalt, Problemen, Entbehrungen und Kriminalität teilt. Im Laufe des Coming-of-Age-Romans emanzipiert sie sich allerdings, wird erwachsen, erlebt ihre erste große Liebe und beginnt, den Ehrenkodex und die Moralvorstellungen ihres Vaters zu hinterfragen und als Zukunftsvision eventuell sogar zu überwinden.

Der Roman spielt in Argentinien, findet an diversen namenlosen Orten statt und Vater und Tochter sind immer unterwegs, ein Road Movie, das sicherlich auch das Tempo, den Hintergrund und genügend Actionszenen für eine coole, spannende Verfilmung a la Tarantino böte. Der beste Freund ihres Vaters wird erschossen und verantwortlich ist ein maskierter Mann mit Schlangentattoo. Und mit diesem fulminanten Auftakt beginnt der Rachefeldzug des Vaters, dessen Handlungen und Motive nicht hinterfragt werden. Stattdessen kümmert sich die 16-jährige Ambar um seine Schussverletzungen, holt die Kugel aus der Wunde und verarztet ihn professionell mit Stichen. Und weiter geht es zum nächsten Schauplatz, zum ehemaligen Weggefährten, zu Kleinkriminellen, zu Prostituierten, zu Drogendealern und Glücksspielern. Ambar ist immer an seiner Seite, steht Schmiere, befolgt Befehle, kann mit dem Gewehr umgehen und ist die perfekt instruierte Begleiterin. Doch dieses Leben auf der Flucht und in Anspannung macht sie mürbe und müde, sie wünscht sich Normalität, Freundschaft, Liebe und all das wird ihr besonders dann deutlich, als sie sich in einen jungen Mann verliebt. Aber kann sie es schaffen, ihren Vater zu enttäuschen, seinen Plänen zuwiderzuhandeln, sich einen eigenen Weg zu suchen?

Der Roman erzählt spannend und emotional, nimmt einen auf diesen fesselnden Roadtrip mit und die kernige, mit allen Wassern gewaschene, unprätentiöse Ambar, deren selbstgewähltes Wappentier ein Jaguar ist, zieht den Leser gleich in ihren Bann. Die vom Machismus geprägte und äußerst gewalttätige Männerwelt wird detailliert beschrieben, bei den Inszenierungen von Gräueltaten fällt die Abgestumpftheit der Protagonisten auf, für die solche Szenen im kriminellen Bandenmilieu zur Tagesordnung gehören. Das ist keine Wohlfühlwelt, kein Ponyhof, keine Schulbildung oder Aufstiegschancen in Sicht. Da kann man sich nur wundern, wie eine mutige Frau sich dem entgegenstellt und ihr Schicksal in die eigene Hand nimmt – wünschen wir ihr das Beste auf ihrem weiteren Weg.

Bewertung vom 28.03.2025
Hinters Licht
Avdic, Åsa

Hinters Licht


weniger gut

In Åsa Avdics Roman “Hinters Licht” geht es um die großen Themen Liebe, Eifersucht, Trauer, Tod und Spiritualität und im Zentrum stehen die Mathematikerin Ruth Doran, Witwe und Mutter dreier Kindern, und Thomas Bradford, einem verheirateten Wissenschaftler, welcher sich mit Spiritismus beschäftigt. Letzterer ist überzeugt, bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse über die Möglichkeiten der Verbindung zwischen Leben und Tod gewonnen, einen Weg zwischen beiden gefunden zu haben, der von beiden Seiten aus gegangen werden kann. Ruth unterstützt ihn als seine Assistentin und eine schicksalsträchtige Liebesaffäre beginnt.
Im Jahr 1919 begibt sich Doran in ein Arbeitsverhältnis mit dem Professor, sie ist eine erstaunlich selbstbewusste und engagierte Wissenschaftlerin, die ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau kaum nachkommen kann. Im Laufe der Beziehung verändert sie sich aber und ihre Abhängigkeit vom angebeteten Mann lassen sie wie ein unsicherer Teenager erscheinen.
Die Liebesbeziehung steht im Zentrum und die pseudowissenschaftlichen Machenschaften stehen an der Peripherie und dienen als Staffage. Die Beziehung und die Gefühlsausbrüche der eigentlich reifen Ruth sind teilweise unerträglich und der Leser fragt sich, wie eine gestandene kluge Frau sich in eine derartige Abhängigkeit vom Geliebten, der sie sicherlich nicht auf Rosen bettet, begeben kann. Die Leidenschaft zu ihrem Chef nimmt einen zu großen Raum ein, die Handlung geht nur schleppend voran und ich werde von diesen häufig an der Grenze zum Kitsch stehenden Szenen gelangweilt. Es wird detailliert beschrieben wie sie guckt, was er sagt, was sie denkt, was die Ehefrau meint, wie die Tochter dasteht, wie sie als Mutter reagiert, welche Gefühlswallungen bestehen und die clevere Ruth ist zu gefühlsduselig und ihre Anwandlungen zu klischeehaft: „Du hast mir ein neues Leben geschenkt und jetzt habe ich furchtbare Angst, dass ich es wieder verliere."

In seiner Mission ist Thomas auf der Astralsuche nach seiner geliebten Tochter, er will sie zurückbringen oder ihr zum ewigen Frieden verhelfen und das große, unglaubliche Ziel ist die Überwindung des Todes.
Der Roman versucht durch die unterschiedlichen Zeitsprünge und Wechsel der Perspektive an Tiefe zu gewinnen, allerdings verwirrt er dadurch und teilweise schwirrt mir der Kopf. Die Tagebucheinträge sollen die unbedingte Liebe und die Zerrissenheit Ruths betonen, durch sie erfahren wir ihre Gefühlswelt aus erster Hand, trotzdem bleibt sie - wie auch alle anderen Charaktere - fremd und distanziert.
Der Abschluss hat etwas Thrillerhaftes, es bleibt aber verworren und man wird von einem wahren Knaller überrascht.
Eine Empfehlung kann ich nicht aussprechen, obwohl mich das Thema interessiert, aber es ist keine Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Theorien zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit Parapsychologie oder Psychoanalyse, sondern eine unglückliche, einseitige, fast toxische Liebesbeziehung, die zum Scheitern verurteilt ist.
Interessant ist, dass Ruth, die Hauptfigur eigentlich eine reale, relativ emanzipierte Person ist, aber Avdic betont im Nachwort auch, dass sie angelehnt an diese Frauenfigur einen fiktiven Charakter und einen Roman erschaffen hat. Wer historische Liebesromane mit einer gewissen Schauerromantik schätzt, wird vermutlich auf seine Kosten kommen und dieses Werk schätzen.

Bewertung vom 16.03.2025
Papas Tattoos
Schuff, Nicolas

Papas Tattoos


sehr gut

Ein Gespräch mit einem Totenkopf oder ein Treffen mit einem Seemann? Die geheimnisvolle Panterdame oder die kleine Meerjungfrau? Immer wenn Emilia die Langeweile überkommt und ihr großer, tätowierter Papa auf dem Sofa eingeschlafen ist, werden die vielen Tattoos lebendig und leisten ihr Gesellschaft. Jedes Bild hat seine eigene Geschichte und seinen eigenen Charakter und sie beflügeln die Fantasie.
Was für eine wunderbare Idee – die Erinnerungen und Andenken des Vaters als Zeichen auf seiner Haut, als bunte Bilder, die in der Dunkelheit ein Eigenleben führen, zum Leben erwachen und mit Emilia auf eine Reise voller Abenteuer gehen.
So wunderschön und originell wie die Geschichte von Nicolas Schuff sind die bunten Illustrationen von Anna Sender. Man kann sich kaum satt sehen, die eigene Fantasie wird angeregt und beim Vorlesen können gemeinsam neue Abenteuer mit den Figuren und Bildern erlebt werden.
Eine Leseempfehlung zum Staunen und Vorlesen für Kinder ab 3 Jahren, die aber auch Größeren Freude bereiten kann, eine bunte Geschichte über einen alleinerziehenden Vater und seine aufgeweckte Tochter. Sicherlich hätten längere Texte den Reiz des Kinderbuchs noch erhöhen können, die Geschichten waren sehr kurz – da hätte ich mich noch umfangreichere Abenteuer gewünscht.
Dennoch ein wunderschönes und unkonventionelles Vorlesebuch!

Bewertung vom 08.03.2025
Wild wuchern
Köller, Katharina

Wild wuchern


ausgezeichnet

Katharina Köllers zweiter Roman „Wild wuchern“ entpuppt sich als grandioses, düsteres Kammerspiel, eine Begegnung zweier Cousinen jenseits des Alltags, aus der Zeit gefallen, sich dem Existenziellen widmend, ein Kampf zwischen den beiden unterschiedlichen Frauen, von Liebe und Hass geprägt. Unausgesprochenes, Vergangenes, Verdrängtes tritt an die Oberfläche und wird zur Zerreißprobe für das Weiterleben und die Beziehung der beiden.
Viele Fragen tauchen immer wieder auf, die erstmal unbeantwortet bleiben und der Leser fiebert mit, was es mit diesen dunklen Andeutungen wohl auf sich hat.
Die beiden jungen Frauen treffen sich nach Jahren das erste Mal in der Abgeschiedenheit der Berge wieder. Die Ich-Erzählerin Marie, schön, reich, wortgewandt und selbstbewusst ist auf der Flucht aus der Hauptstadt vor ihrem Mann und sucht Unterschlupf bei Johanna, Eremitin, Sonderling, schon in der Schule auffällig und jetzt in der Einsamkeit der Berge wohnend. Diese ist nicht begeistert von dem Besuch und die beiden müssen sich erst langsam wieder aneinander gewöhnen. Die beiden umkreisen sich wie Rivalinnen im Ring, nähern sich aneinander an, suchen nach alten Verbindungen, die Wunden reißen wieder auf und alte Verletzungen werden sichtbar. Der Wolkenbruch in den Bergen wirkt wie eine Strafe Gottes, großartig beschrieben die Schrecken der Natur und die Reaktionen der Tiere und Menschen und hinterher ist alles wie reingewaschen.
Der Roman ist eine Wucht, ein Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher Frauen, zweier Welten, zweier Rollenbilder und beide vereint die gemeinsame Vergangenheit, der Wunsch nach Selbstbestimmung, nach Widerstand, die Suche nach dem Glück. Die beiden Charaktere sind komplex dargestellt und wir tauchen tief in das Innenleben der beiden ein, können beide verstehen und ihr Verhalten nachvollziehen, so unterschiedlich sie auch sind. Mitleid und Sympathie, Unverständnis und Verärgerung wechseln sich ab. Aber werden beide nebeneinander existieren können? Sich gegenseitig retten? Können sie die Vergangenheit überwinden und neu beginnen?
Thriller, Drama, Kammerspiel – eine großartige Lektüre, die eine intensive Atmosphäre schafft und einen starken Sog ausübt – eine klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 16.02.2025
Stadt der Hunde
de Winter, Leon

Stadt der Hunde


ausgezeichnet

Die Absonderlichkeiten des Lebens
Im Zentrum Leon de Winters neuen Romans „Stadt der Hunde“ begegnen wir einem älteren Neurochirurgen, Jaap aus Holland, einer Koryphäe auf seinem Gebiet, persönlich aber fragwürdig, emotional verschlossen, ein Frauenheld, der stets auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist, der sich nicht in seine Mitmenschen einfühlen kann, seine Frau betrügt und sich seiner einzigen Tochter kaum widmet. Aufgrund verschiedener Umstände gerät sein Leben allerdings durcheinander, durch einen Schicksalsschlag verliert er das Einzige, was ihm wirklich etwas bedeutet und er setzt alles daran, seine Chance nach Wiedergutmachung zu nutzen und sein schlechtes Gewissen zu bezwingen. Die verlorene / verschwundene Tochter, der suchende Vater, die beiden Familien, die Trennung – eine wilde Mischung an Handlungssträngen, man sympathisiert mit den Figuren oder sie polarisieren, hat Verständnis, kann Emotionen nachvollziehen, die Figuren sind in jedem Fall gleich greifbar und immer etwas widersprüchlich wie im wahren Leben.
Durch einen weiteren Schlag in seinem Leben und der Erkenntnis der eigenen Fragilität und Vergänglichkeit beginnt er, die Vergangenheit zu reflektieren und sein Handeln zu hinterfragen - sein Verhalten als Mediziner, als Chef, als Liebhaber, als Vater, als Ehemann. Und wieder handelt er extrem rational, geht fast kaltblütig alle Möglichkeiten durch, will vorbereitet sein auf alle Eventualitäten: Er lässt ein Testament anfertigen, das von seiner Freundin unterschrieben wird, richtet eine Stiftung für junge Mediziner ein und will weiterhin alles veranlassen, sodass seine Tochter gefunden wird.
Eine weitere ironische Wendung des Schicksals, erst extremes Ärgernis und dann größtes Glück, bestimmt und verändert sein Leben und die Geschichte schlägt wieder eine ganz neue Richtung ein.

Der Roman ist aufregend, voller komischer, absurder Elemente, dann auch wieder emotional ergreifend. Ich bin begeistert!
Mir gefällt diese Vermischung der Ebenen, Wahn oder Realität, sind es Nachwirkungen einer OP, Halluzinationen, Träume, wird Jaap wieder im Hier und Jetzt aufwachen? Oder verschwindet er in einer irrealen Welt?
Diese unrealistischen Fantasien sind spannend, aufwühlend, wirken wie ein Drogentrip, eine Erweiterung des Bewusstseins, eine Traumreise, es hat etwas von Magischem Realismus, aber der Naturwissenschaftler Jaap hinterfragt selbst, ob dieser Irrsinn wahr sein kann.
Er hat jedenfalls nichts zu verlieren und lässt sich auf das größte "Abenteuer" seines Lebens ein, seine Möglichkeit sich der Vergangenheit zu stellen, Buße zu tun und seine Tochter wiederzusehen.

De Winter hat mich wieder einmal mitgerissen, ich bin in diese vielen Facetten mit Vergnügen eingestiegen - die eher wissenschaftlichen Erklärungen zu neurologischen Operationen, die Risiken, Vorbereitungen, Fragen, das Dilemma der Entscheidung für oder gegen eine fast aussichtslose OP, sein Unfall, seine Krankheit, dann eine verrückt-originelle Fahrt ans Ende der Welt, die Szene in seinem riesigen Haus, wo er die wichtigste Personen seines Lebens trifft, dann wieder die grotesken Situationen mit einem sprechenden Hund, eine philosophische Auseinandersetzung über den Sinn des Lebens, eine geplante Reise zum Rave, das mögliche Attentat, die Bejahung des Lebens und das Abschiednehmen und Loslassen und außerdem die politische Komponente des Nah-Ost-Konflikts.
Eine krude, verrückte Mischung aus Realität und Fantasie, bei der im Moment des Lesens erstmal nicht erschlossen werden kann, wie die Situation einzuordnen ist, beste Unterhaltung auf hohem Niveau - und das ist es, was ich an de Winters Romanen so schätze und weshalb ich mich immer wieder gerne darauf einlasse und mich in den Geschichten verliere.
Ich bin begeistert und habe die Lektüre uneingeschränkt genossen! Klare 5 Sterne 

Bewertung vom 25.01.2025
Umlaufbahnen
Harvey, Samantha

Umlaufbahnen


sehr gut

„Die Milchstraße ist die qualmende Schmauchspur einer in den seidenglänzenden Himmel geschossenen Ladung Schießpulver.“
Vom Beginn des Romans bin ich wirklich bezaubert, es gibt diese Umkehr - den Blick auf die Erde von außerhalb und die darin verborgene Schönheit.
Ich bin auch begeistert von der wunderbaren Sprache, den Metaphern und Vergleichen. Schon der erste Satz ist ein großartiger Einstieg: Es geht um Träume und Mythologien, Einsamkeit und Nähe, die schlichte Ewigkeit des Universums.
Wir begleiten sechs Astronauten aus aller Welt auf ihrem Weg um die Erde, die sie pro Tag mehrfach umrunden. Dieser Roman spielt an einem Tag, wir sind vom Morgen bis zum Abend anwesend und erkunden diese Zeit gemeinsam – diese Zeitspanne, die so viel Normalität und auch so viel Ungeheuerliches birgt: den Tod, Naturkatastrophen, Zerstörung, das Wissen um die Begrenztheit des Lebens, aber auch die Liebe und die Zuversicht.

Vor unseren Augen eröffnet sich eine unglaubliche Farbenpracht: Großartige Farbbeschreibungen explodieren, ein Fest für Künstler entsteht, unglaublich sinnlich, wie ein barockes Gemälde - später werden wir auch mehrfach auf das Gemälde von Velasquez stoßen. Bildhafte Farbkombinationen werden evoziert, Kobaltblau, blaue Sphären, energiegeladenes Schwarz, das All als Panther, ungezähmt und ursprünglich, wolkenverhangene Goldglut, neonfarbene Kuppel, eine zarte Bresche flüssigen Lichts und vieles mehr - da entstehen gleich Bilder und Farben im Kopf, reine Poesie.
„Die Erde ist wie das Gesicht einer Angebeteten (…) Die Erde ist eine Mutter, die darauf wartet, dass ihre Kinder zurückkehren, voller Geschichten und Begeisterung und Sehnsucht. (...) Ihre Augen voller Eindrücke, die sich nur schwer in Worte fassen lassen.“
Im Training haben die Astronauten gelernt, dass sie Listen führen sollen, dass sie dem Alltag mit Pragnatismus begegnen sollen, um das eigene Gleichgewicht zu bewahren, pro Tag sehen sie 16 Sonnenaufgänge, umkreisen 16 mal die Erde. Die Uhr dient als Anker für den Verstand. Es ist unglaublich, wie viele unterschiedliche Perspektiven pro Tag entstehen, die sich aber jeweils wiederholen. Fünf Kontinente werden überschritten, Herbst und Frühling, Gletscher und Wüste, Wildnis und Kriegsgebiet. Eine Fülle an Eindrücken entsteht aus der Distanz heraus.
Es ist schon ein besonderer Text, wenn auch kein Pageturner, für mich entsteht eine Art Gedicht, ein Anthem.
Bei der englischen Hörversion ist die weibliche Stimme sanft, präzise, etwas abgesetzt und wird wie ein Gedicht vorgetragen, sehr gut zur verstehen, durch das vielfältige und teilweise ungewöhnliche Vokabular ist es durchaus anspruchsvoll, aber immer ein Genuss.
Zum Roman passt das offenen Ende und deshalb gibt es bei mir auch Abzüge, kein Knall, kaum Spannung, stattdessen viele intime Beobachtungen, schöne Beschreibungen, voller Poesie, teilweise fast wie Auszüge aus einer Doku, wie ein Bericht. Sprachlich ist der Roman von Harvey sehr ansprechend, aber das Emotionale, Aufwühlende fehlt doch und die Figuren bleiben relativ fremd. Deshalb gibt es von mir 4 von 5 Punkte.