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Benutzername: 
ElliP
Wohnort: 
Hessen

Bewertungen

Insgesamt 143 Bewertungen
Bewertung vom 25.01.2025
Umlaufbahnen
Harvey, Samantha

Umlaufbahnen


sehr gut

„Die Milchstraße ist die qualmende Schmauchspur einer in den seidenglänzenden Himmel geschossenen Ladung Schießpulver.“
Vom Beginn des Romans bin ich wirklich bezaubert, es gibt diese Umkehr - den Blick auf die Erde von außerhalb und die darin verborgene Schönheit.
Ich bin auch begeistert von der wunderbaren Sprache, den Metaphern und Vergleichen. Schon der erste Satz ist ein großartiger Einstieg: Es geht um Träume und Mythologien, Einsamkeit und Nähe, die schlichte Ewigkeit des Universums.
Wir begleiten sechs Astronauten aus aller Welt auf ihrem Weg um die Erde, die sie pro Tag mehrfach umrunden. Dieser Roman spielt an einem Tag, wir sind vom Morgen bis zum Abend anwesend und erkunden diese Zeit gemeinsam – diese Zeitspanne, die so viel Normalität und auch so viel Ungeheuerliches birgt: den Tod, Naturkatastrophen, Zerstörung, das Wissen um die Begrenztheit des Lebens, aber auch die Liebe und die Zuversicht.

Vor unseren Augen eröffnet sich eine unglaubliche Farbenpracht: Großartige Farbbeschreibungen explodieren, ein Fest für Künstler entsteht, unglaublich sinnlich, wie ein barockes Gemälde - später werden wir auch mehrfach auf das Gemälde von Velasquez stoßen. Bildhafte Farbkombinationen werden evoziert, Kobaltblau, blaue Sphären, energiegeladenes Schwarz, das All als Panther, ungezähmt und ursprünglich, wolkenverhangene Goldglut, neonfarbene Kuppel, eine zarte Bresche flüssigen Lichts und vieles mehr - da entstehen gleich Bilder und Farben im Kopf, reine Poesie.
„Die Erde ist wie das Gesicht einer Angebeteten (…) Die Erde ist eine Mutter, die darauf wartet, dass ihre Kinder zurückkehren, voller Geschichten und Begeisterung und Sehnsucht. (...) Ihre Augen voller Eindrücke, die sich nur schwer in Worte fassen lassen.“
Im Training haben die Astronauten gelernt, dass sie Listen führen sollen, dass sie dem Alltag mit Pragnatismus begegnen sollen, um das eigene Gleichgewicht zu bewahren, pro Tag sehen sie 16 Sonnenaufgänge, umkreisen 16 mal die Erde. Die Uhr dient als Anker für den Verstand. Es ist unglaublich, wie viele unterschiedliche Perspektiven pro Tag entstehen, die sich aber jeweils wiederholen. Fünf Kontinente werden überschritten, Herbst und Frühling, Gletscher und Wüste, Wildnis und Kriegsgebiet. Eine Fülle an Eindrücken entsteht aus der Distanz heraus.
Es ist schon ein besonderer Text, wenn auch kein Pageturner, für mich entsteht eine Art Gedicht, ein Anthem.
Bei der englischen Hörversion ist die weibliche Stimme sanft, präzise, etwas abgesetzt und wird wie ein Gedicht vorgetragen, sehr gut zur verstehen, durch das vielfältige und teilweise ungewöhnliche Vokabular ist es durchaus anspruchsvoll, aber immer ein Genuss.
Zum Roman passt das offenen Ende und deshalb gibt es bei mir auch Abzüge, kein Knall, kaum Spannung, stattdessen viele intime Beobachtungen, schöne Beschreibungen, voller Poesie, teilweise fast wie Auszüge aus einer Doku, wie ein Bericht. Sprachlich ist der Roman von Harvey sehr ansprechend, aber das Emotionale, Aufwühlende fehlt doch und die Figuren bleiben relativ fremd. Deshalb gibt es von mir 4 von 5 Punkte.

Bewertung vom 25.01.2025
Orbital
Harvey, Samantha

Orbital


sehr gut

„Die Milchstraße ist die qualmende Schmauchspur einer in den seidenglänzenden Himmel geschossenen Ladung Schießpulver.“
Vom Beginn des Romans bin ich wirklich bezaubert, es gibt diese Umkehr - den Blick auf die Erde von außerhalb und die darin verborgene Schönheit.
Ich bin auch verzaubert von der wunderbaren Sprache, den Metaphern und Vergleichen. Schon der erste Satz ist ein großartiger Einstieg: Es geht um Träume und Mythologien, Einsamkeit und Nähe, die schlichte Ewigkeit des Universums.
Wir begleiten sechs Astronauten aus aller Welt auf ihrem Weg um die Erde, die sie pro Tag mehrfach umrunden. Dieser Roman spielt an einem Tag, wir sind vom Morgen bis zum Abend anwesend und erkunden diese Zeit gemeinsam – diese Zeitspanne, die so viel Normalität und auch so viel Ungeheuerliches birgt: den Tod, Naturkatastrophen, Zerstörung, das Wissen um die Begrenztheit des Lebens, aber auch die Liebe und die Zuversicht.

Vor unseren Augen eröffnet sich eine unglaubliche Farbenpracht: Großartige Farbbeschreibungen explodieren, ein Fest für Künstler entsteht, unglaublich sinnlich, wie ein barockes Gemälde - später werden wir auch mehrfach auf das Gemälde von Velasquez stoßen. Bildhafte Farbkombinationen werden evoziert, Kobaltblau, blaue Sphären, energiegeladenes Schwarz, das All als Panther, ungezähmt und ursprünglich, wolkenverhangene Goldglut, neonfarbene Kuppel, eine zarte Bresche flüssigen Lichts und vieles mehr - da entstehen gleich Bilder und Farben im Kopf, reine Poesie.
„Die Erde ist wie das Gesicht einer Angebeteten (…) Die Erde ist eine Mutter, die darauf wartet, dass ihre Kinder zurückkehren, voller Geschichten und Begeisterung und Sehnsucht. (...) Ihre Augen voller Eindrücke, die sich nur schwer in Worte fassen lassen.“
Im Training haben die Astronauten gelernt, dass sie Listen führen sollen, dass sie dem Alltag mit Pragnatismus begegnen sollen, um das eigene Gleichgewicht zu bewahren, pro Tag sehen sie 16 Sonnenaufgänge, umkreisen 16 mal die Erde. Die Uhr dient als Anker für den Verstand. Es ist unglaublich, wie viele unterschiedliche Perspektiven pro Tag entstehen, die sich aber jeweils wiederholen. Fünf Kontinente werden überschritten, Herbst und Frühling, Gletscher und Wüste, Wildnis und Kriegsgebiet. Eine Fülle an Eindrücken entsteht aus der Distanz heraus.
Es ist schon ein besonderer Text, wenn auch kein Pageturner... für mich entsteht eine Art Gedicht, ein Anthem.
Bei der englischen Hörversion ist die weibliche Stimme sanft, präzise, etwas abgesetzt und wird wie ein Gedicht vorgetragen, sehr gut zur verstehen, durch das vielfältige und teilweise ungewöhnliche Vokabular ist es durchaus anspruchsvoll, aber immer ein Genuss.
Zum Roman passt das offenen Ende und deshalb gibt es bei mir auch Abzüge, kein Knall, kaum Spannung, stattdessen viele intime Beobachtungen, schöne Beschreibungen, voller Poesie, teilweise fast wie Auszüge aus einer Doku, wie ein Bericht. Sprachlich ist der Roman von Harvey sehr ansprechend, aber das Emotionale, Aufwühlende fehlt mir doch und die Figuren bleiben mir relativ fremd. Deshalb gibt es von mir 4 von 5 Punktkn.

Bewertung vom 18.01.2025
American Mother
McCann, Colum;Foley, Diane

American Mother


gut

„Nichts bereitet einen darauf vor, angemessen auf das Undenkbare zu reagieren.“

Das Undenkbare, das Unglaubliche ist Inhalt dieser Biographie: Eine wahre Geschichte, die eigentlich kaum erzählt werden kann: Eine Mutter berichtet über die Entführung und Hinrichtung ihres Sohnes, eines Kriegsberichterstatters, durch Attentäter im nahen Osten und trifft den Täter im Rahmen eines Gerichtsprozesses.
Teilweise sehr intensiv, emotional und aufwühlend, vor allem der Beginn ist großartig:
Diane Foley, die Erzählerin, auf dem Weg zum Treffen, welches im Saal des Gerichtshofes in den USA stattfindet, wir begleiten die Mutter des Opfers auf dem Weg zum Täter und erleben ihre Gedanken und Gefühle aus erster Hand.
Später, nach dieser Gegenüberstellung, wird das Schicksal James Wright Foleys beschrieben, seine Karriere als Reporter, die Suche nach Wahrheit, nach dem wahren Leben, nach Gefahr. Er begibt sich regelmäßig in Krisengebiete und berichtet über die Zustände vor Ort, über Menschenrechtsverletzungen, über Kriegshandlungen und -verbrechen, über Folter, Mord und Traumata.
Das Risiko im Ausland ist ständig anwesend - es wird beschrieben, wie die Front die Journalisten triggert, wie sie zu dem gefährlichsten Ort fahren wollen, um direkt aus der Hölle heraus zu berichten. Nach einer ersten Geiselnahme, die er glücklich überlebt, geht er trotzdem immer wieder zurück, für mich unvorstellbar, vermutlich einem veränderten Erleben der Realität geschuldet – die Normalität „gibt keinen Kick mehr“, kann nicht mehr als lebenswert, als voller Leben gelten. Und deshalb müssen drastischere Schritte gewählt werden, um die Erfüllung zu finden, erneute Lebensqualität und -intensität zu erreichen – und erneut wird der Auslandsaufenthalt in immer gefährlicheren Situationen gesucht – direkt im Kriegsgebiet, an der Front.

Bei der Aufarbeitung des Schicksals des Sohnes bleiben die Beteiligten aber doch überraschend fremd und distanziert, obwohl der Inhalt auf wahren Tatsachen beruht und es ist erstaunlich, dass die Geschichte emotional nicht stärker bewegt.
Die perfekte Familie wird dargestellt, das wirkt sehr "amerikanisch", immer wieder muss betont werden, wie gut alles funktioniert hat, wie gut die Geschwister miteinander umgehen - und dieser Teil wirkt langatmig und uninspiriert, als sie vom Aufwachsen Jims, ihrer Ehe und den Geschwistern erzählt. Es wirkt so statisch, wenig lebendig, nicht authentisch – das Glück der Familie vor der Entführung. Später folgt der Umgang mit dem Unglück, der Zusammenhalt in dieser Ausnahmesituation.
Diana schildert sich selbst als äußerst gläubige Katholikin. Die ständige Betonung auf den Glauben, das Gebet, der Anruf des Papstes, der Halt und die Zuversicht, die Diane daraus schöpft, ist wunderbar, es wird mir aber zu sehr breitgetreten und öffentlich gemacht, die Darstellung der eigenen Religiosität als Maßstab.

Ich bin insgesamt enttäuscht von der Biografie und hatte mir viel mehr versprochen. Die Figuren sind mir zu schwarz-weiß gestaltet, es bleibt nichts ambivalent oder im Vagen, Diane versucht sich und ihre Lebensweise auf eine bestimmte Art darzustellen, die mich eigentlich nur ärgert, obwohl ich doch eigentlich viel mehr Mitleid mit ihr haben sollte - was sie erlebt hat ist schrecklich. Sie erscheint mir allerdings so selbstgerecht und hat zu allem eine Meinung - wie Menschen handeln, wie sie sein sollten, wer ein Held ist, wer moralisch richtig und verantwortungsvoll handelt. Darum geht es doch gar nicht!

Es ist für mich nicht nachvollziehbar, warum McCann diese Sichtweise so unkritisch darstellt, warum er so wenig künstlerisch in die Biografie eingreift, ein für mich "unliterarisches" Werk. Mir fehlt seine individuelle Sichtweise, seine Verarbeitung des Themas, Fragen, die sich auftun, Ungereimtheiten, Leerstellen.
Die Rahmenhandlung ist definitiv gelungener, besonders der Anfang ist intensiv und vielversprechend und dann kippt es in diesen religiös geprägten Betroffenheitsmodus.

Interessant und richtig wird dem Gedanken nachsinniert, dass jeder Mensch eine Geschichte erzählt und dass jede Geschichte Gehör verdient und so ist es auch, jedes Menschenleben ist interessant bzw. hat interessante Aspekte, über die berichtet werden kann. Und keiner muss ein Held oder unbedingt außergewöhnlich sein, damit man ihn / sie literarisch anspruchsvoll und anregend verewigt.
Insgesamt würde ich das Buch nicht guten Gewissens verschenken, literarisch wenig anspruchsvoll, aber auch vom Inhalt her kaum ergreifend oder inspirierend - eine verpasste Chance – schade!

Bewertung vom 15.01.2025
Vor der Nacht
Jamal, Salih

Vor der Nacht


gut

Ausgangspunkt des Romans ist ein unwirtliches Kinderheim mitten im nirgendwo zwischen Autobahn, Wiesen und Wäldern. Dort treffen sich die Verlassenen, Kinder, deren Eltern im Gefängnis eine Strafe verbüßen müssen, Kinder, die keiner will, Waisen. Aus dieser Situation des elementaren Mangels heraus und mit der sadistischen Heimleiterin als Widersacherin verbinden sich sechs der Kinder zu einer Schicksalsgemeinschaft, geben sich selbst das Zuhause, das sie verloren oder nie besessen haben. Jimmy, Frei, Pappel, Lilly, Sinan und Beria, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die sich stützen, helfen, erziehen, gegen die Außenwelt verteidigen und sich gegenseitig Familie sind.
Diese beschränkte Idylle wird allerdings jäh unterbrochen, als zwei der Jugendlichen verschwinden und das Leben für die Zurückgebliebenen erneut auf den Kopf gestellt wird. Wir als Leser verlieren die sechs Freunde aus den Augen, begleiten einzelne Lebenswege und dürfen gespannt sein, ob es ein Zusammentreffen oder ein Aufleben der Freundschaft zwischen einzelnen geben kann, ob Heilung, Wiedergutmachung, Seelenfrieden möglich sind. Im Zentrum des Romans steht die Sehnsucht nach dem persönlichen Glück, das nicht ohne Schwierigkeiten und Einschränkungen erreicht werden kann. Drogenprobleme, Alkohol, Suizidversuche, psychische Auffälligkeiten, Abhängigkeit, Ausbeutung, finanzielle Schwierigkeiten, kriminelle Delikte, Gewalt und das Leben im Rotlichtmilieu sind einige der Problembereiche, mit denen sich die jungen Erwachsenen auseinandersetzen müssen.
Stellenweise sehr dramatisch mit Figurenkonstellationen und Charakterbeschreibungen, die nicht realistisch wirken, wachsen einem die Figuren dennoch ans Herz und man fiebert mit ihrem Schicksal mit.
Sprachlich changiert „Vor der Nacht“ zwischen einer leichten und klugen Poesie voller Schönheit und Melancholie, dann aber tauchen Passagen und Aussagen voller Plattitüden und Kitsch, teilweise äußerst umgangssprachlich, die der Autor sicherlich hätte umschiffen können, auf. Diese Unstimmigkeiten und Ungereimtheiten schmälern meinen Lesegenuss über die Geschichte der verlorenen Kinder, von denen jeder und jede auf seine / ihre Weise versucht, sich die eigenen Träume nach Verlässlichkeit, Glück, Liebe und sinnerfülltem Leben zu erfüllen.

Bewertung vom 02.01.2025
Paddy Clarke Ha Ha Ha
Doyle, Roddy

Paddy Clarke Ha Ha Ha


sehr gut

Der irische Autor Roddy Doyle gewann 1993 mit seinem Werk „Paddy Clarke Ha ha ha“ einen der wichtigsten englischsprachigen Preise, den Booker Prize und jetzt liegt er in neuer Übersetzung auf Deutsch vor. Ein Coming-of-Age-Roman, der von einer Kindheit in Dublin berichtet, von Freundschaft, Rivalität und Gemeinschaft, aber auch Kampf, Verrat, Spiel und Gefahr und dem langsamen, schwierigen und schmerzhaften Prozess des Erwachsenwerdens.

Im Zentrum stehen Patrick Clarke, der ältere Bruder einer sechsköpfigen irischen Familie, und seine Freunde, mit denen ihn die vielen alltäglichen Abenteuer, Streiche, Machtkämpfe und die Lust an Verbotenem verbinden. Mit besonderem Vergnügen wird der jüngere Bruder Sinbad / Francis gequält. Viele Überlegungen analysieren aus Kinderperspektive das Verhältnis zwischen den beiden Brüdern, changierend zwischen Liebe und Hass, Vertrauen und Neid. „Er war großartig und ich wollte ihn umbringen“, so Paddy über seinen Bruder, der überraschende Fähigkeiten beim Fußball zeigt.
Generell ist diese Darstellung des 10-jährigen Paddys überraschend, erstaunlich, wie naiv er einerseits wirkt und wie "durchtrieben" er andererseits agiert. Er macht sich Gedanken über das Fegefeuer und die Wirkung der Beichte, dann ist aber auch die Gewalt gegenüber den Kleineren Thema, besonders seinem Bruder gegenüber. Ohne Gewissensbisse oder Schuldgefühle werden verwerfliche Dinge getan, werden die Schwächeren ausgenutzt und drangsaliert. Es ist trotz der Brutalität entwaffnend, wie unzensiert und ohne moralische Beurteilung diese Verhaltensweisen in vielen kleinen Anekdoten und Erzählungen beschrieben werden.
Die Atmosphäre wirkt schon zu Beginn aufgrund der detaillierten Schilderungen von Gewalt und Aggressivität dicht und bedrohlich, wie ein Damoklesschwert, das über dem Familienalltag hängt. Paddy ist stolz auf seinen großen Vater, möchte so stark und selbstbewusst sein, wie er, glaubt auch dessen Gewalt und Übermacht den Kindern gegenüber zu verstehen und rechtfertig sie. Im Laufe des Romans dreht sich diese Sichtweise allerdings und die beiden Brüder erleben den Vater als unberechenbar und gewalttätig der geliebten, schwachen Mutter gegenüber. Sie sind voller Sorgen, fühlen sich der Situation aber machtlos ausgeliefert und versuchen auf ihre Weise das Verhältnis der Eltern zu beeinflussen und die Mutter zu schützen.
Hier wird ein alltägliches Drama voller Komik, Alltagswitz, aber auch Schmerz und Tragik gezeichnet. Die Kinder geben die erlebte Gewalt weiter, sehnen sich gleichzeitig nach Nähe und Geborgenheit - ein starkes, ungefiltertes Bild Irlands Ende des letzten Jahrhunderts, das sprachlich authentisch und direkt ist, voller wunderbarer Dialoge, die amüsieren, erstaunen und berühren und die Protagonisten zum Leben erwecken.
Hoffen wir, dass Paddy und Sindbad aus dem Dilemma entkommen können und ihre eigene Zukunft eine Chance auf Glück und Selbstbestimmung erhält.

Bewertung vom 31.12.2024
Hey guten Morgen, wie geht es dir?
Hefter, Martina

Hey guten Morgen, wie geht es dir?


sehr gut

Kurzweiliger Roman über Liebe und Freundschaft, Alter, Vergänglichkeit, Liebesschwindel aus ungewöhnlicher Perspektive.
Eine sympathische, reflektierte Frau Mitte 50, Juno, geht eine kuriose Handy-Beziehung zu einem Love Scammer ein, der in der Ferne in Nigeria sich Hoffnung auf ein verbessertes Leben macht. Eigentlich weiß sie, dass diese Art der Kommunikation nur zum Scheitern verurteilt ist, und sie ihren kranken Ehemann Jupiter pflegt. Sie kann sich dem Kontakt aber nicht entziehen und die Text-Nachrichten und später auch Gespräche werden von ihr aus immer ehrlicher und es entsteht fast ein Gefühl der Freundschaft. Kann eine derartige Verbindung Bestand haben? Können echte Gefühle aufkommen und kann diese Begegnung eine Zukunft haben? Oder ist es doch eine beiderseitige Ausbeutung? Verschiedene Perspektiven und Gefühle werden ausprobiert, Geschichten erfunden und neu erzählt und nebenbei erfährt man so manches über die modernen Heiratsschwindler bzw. Love-Scammer, die sich auf der Suche nach finanzieller Unterstützung auf dem virtuellen Heirats- und Liebesmarkt tummeln.
Emphatisch vorgelesen von Inka Löwendorf, eine Empfehlung, aber doch erstaunlich, dass dieser Roman den deutschen Buchpreis gewonnen hat.

Bewertung vom 31.12.2024
The Borrowed Hills
Preston, Scott

The Borrowed Hills


ausgezeichnet

Scott Prestons „Über dem Tal“ ist ein furioses Debüt über eine Zeit und einen Ort, die eigentlich gar nicht weit entfernt sind, aber dennoch trennen uns Welten – wir erleben die harte Realität von Schafsbauern in England, die Abhängigkeit von äußeren Umständen, von Naturereignissen, Kälte, Regen, Krankheiten, die wie biblische Strafen auf die Bewohner und die Tiere treffen.
Aber natürlich bleibt der Autor bei dieser Beschreibung nicht stehen, es ist keine Dokumentation über die Lebensrealität eines aussterbenden Berufsstandes, sondern inhaltlich wird fast alles ausgeschöpft, was es an großen Emotionen und Themen gibt: Liebe, Hass, Leidenschaft, Gier, Stolz, Trauer und Schmerz – die sieben Todsünden kommen auf ihre Kosten. Preston selbst erlebte in seiner Jugend die Seuche und die Tötung der Schafe – fast 900 Höfe verloren ihren gesamten Tierbestand – und er will mit seinem Roman dieses (über-)regionale Trauma darstellen.
Steve Ellieman, der Ich-Erzähler, berichtet rückblickend von seiner Zeit auf dem Hof des Schafzüchters William Herne. Er kommt zurück zu dem Ort seiner Kindheit in Cumbria als sein Vater stirbt, gibt seinen Beruf als LKW-Fahrer auf, tritt in dessen Fußstapfen und kümmert sich um die Schafe, als das Unheil über die Gegend hereinbricht: die Maul-und-Klausen-Seuche. Steve versucht, die Schafe zu isolieren und zu retten, allerdings ohne Erfolg. Die Seuche befällt die umliegenden Bauernhöfe und ein wahnsinniges, schreckliches Gemetzel beginnt: Jedes Tier muss getötet werden und die Keulung wird detailliert und bildhaft beschrieben, sodass jedem der Horror deutlich vor Augen steht.
Diese Szenen sind Ausgangspunkt für alles, was folgt – wie William, der ursprünglich reiche Farmer, der alles verloren hat, sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und für Ausgleich und Wiedergutmachung sorgen will. Und damit beginnt die schicksalshafte Verstrickung in Unrecht und Schuld und der Alptraum und Horrortrip nimmt seinen Anfang.
Der Roman ist intensiv, bedrohlich, roh, voller Poesie, Kraft, Liebe zur Natur, zur Kreatur, eine Bejahung des einfachen Lebens, eine Liebeserklärung an dieses raue Land. Ein mir so fremdes und doch auch faszinierendes Thema, wie sehr Landwirte generell von äußeren Einflüssen abhängig sind, was für ein hartes, herausforderndes Leben das ist. Steve betont immer wieder, dass er nicht für Geld arbeitet, dass er keine Ferien hat, dass die Tiere immer versorgt werden müssen – das Leben an sich wird nicht hinterfragt, Introspektion ist überflüssig, „our retirement is death“.
Die blutrünstigen Szenen erinnern an Tarantino-Filme - er hätte sicherlich seine Freude an einer Inszenierung! Sinnlose Gewalt, völlig überzogen, Blut, Gemetzel, tote Tierkadaver - als Verfilmung sicherlich kaum auszuhalten, aber im Roman durch die starke Wortwahl und die exzellenten Beschreibungen noch zu ertragen und voller wilder Schönheit.
Der irische Autor Roddy Doyle hat über seine Protagonisten Folgendes gesagt, was stellvertretend auch auf Steve und William zutrifft:
„The lives are tough, and the language is rough, but beauty and tenderness survive amid the bleakness.“
In diesem Sinne ist dieser ungewöhnliche Roman eine wunderbare Annäherung an die Wildheit und auch Schönheit Cumbrias, eine Würdigung der Farmer und eine Liebeserklärung an diese faszinierende, einsame Gegend, an seine Heimat.

Bewertung vom 02.11.2024
Klippo
Goldfarb, Tobias

Klippo


ausgezeichnet

"Klippo! Klippo, wach auf, wir müssen fliehen!", wird der jugendliche Held unsanft von seiner Mutter geweckt und das Abenteuer beginnt.
Tobias Goldfarb schafft es in seinem neuen Jugendroman die Leserschaft von der ersten Zeile an zu fesseln. Klippo muss mit seinen Eltern auf eine raue Insel fliehen, damit sie dem Raubritter Salpeter entkommen. Und auch die Eltern entpuppen sich als Spione, auf die er auch nicht in jeder Situation bauen kann, so scheint es...
Wir erleben die Flucht vor dem Unbekannten, es geht um Freundschaft, Vertrauen, Verrat, Rache, Mut und nichts ist, wie es scheint. Klippo muss Gefahren und Herausforderungen überstehen, Geheimisse enthüllen und er reift in diesem Prozess, ein jugendlicher Held, der als positive Identifikationsfigur fungiert.
Ein spannender, atmosphärischer Jugendroman ab ca. 12 Jahren, der aber auch ältere Leser in seinen Bann ziehen kann und wunderschön gestaltet ist – vom betörenden Cover, über die hochwertige Verarbeitung des Buches bis hin zum originellen Daumenkino.

Bewertung vom 28.10.2024
Trauriger Tiger
Sinno, Neige

Trauriger Tiger


gut

Das Unsichtbare sichtbar machen
Eine Rezension zu Neige Sinnos extrem persönlichen und offenen Memoiren „Trauriger Tiger“ über die eigene Geschichte des Missbrauchs durch den Stiefvater über viele Jahre hinweg fällt mir äußerst schwer. Als Kind wird sie im Alter zwischen 7 und 14 Jahren regelmäßig missbraucht und vergewaltigt. 20 Jahre später bricht die französische Autorin und Literaturwissenschaftlerin ihr Schweigen und verarbeitet ihre Geschichte in diesem Werk. In Frankreich eine Überraschung, mit vielen Preisen ausgezeichnet, breit diskutiert, ein literarischer Erfolg.

Ich habe so viele Fragen an das Buch und auch an mich. Was hatte ich denn erwartet? Der Text hat mich mitgenommen, dann aber auch wieder weniger als gedacht, einzelne Passagen waren kaum zu ertragen, dann reihten sich wieder die z.T. ermüdenden Ausführungen über Literatur, philosophische Ansätze, die Wiederholungen, die Anschuldigungen, die Ausschweifungen, die hohen Ansprüche an andere aneinander.
Das schlechte Gewissen regte sich, darf ich urteilen, darf ich einer anderer Meinung sein, darf ich bei diesem Thema, bei dieser Seelenschau Kritik üben?
Lesegenuss war es nicht, trotzdem hat das Werk mich herausgefordert, ich habe viele Impulse bekommen, mein Verständnis erweitert, mitgelitten und mir wurden neue Denkansätze aufgezeigt. - Eigentlich alles das, was gute Literatur auch ausmacht!
Positiv hervorheben möchte ich, dass es überhaupt nicht pornographisch oder voyeuristisch ist, von einer schockierenden Szene gleich zu Beginn abgesehen, die auch wichtig ist und einen das ganze Ausmaß erkennen lässt und plakativ vor Augen stellt - hier wird gezeigt, worum es geht, die Perspektive des kleinen Kindes, die unglaubliche Grausamkeit und Tabuverletzung des Täters, die Übergriffigkeit und Machtdemonstration auf der einen und Hilflosigkeit auf der anderen Seite.
In dieser Hinsicht sicherlich ein wichtiges Buch, ein Text, der aus der Sprachlosigkeit herausführt, der im besten Fall auch andere Menschen ermutigt, sich gegen ihre Isolation, das Schweigen und die Täter aufzulehnen, mutig zu sein, in die Offensive zu gehen und ihr Schicksal in die Hand zu nehmen.
„Meine Wut ist gegen die Ungerechtigkeit in unserer Welt gerichtet, gegen die Gewalt des Schweigens.“ Neige Sinno

Bewertung vom 22.10.2024
Skogland brennt / Skogland Bd.3
Boie, Kirsten

Skogland brennt / Skogland Bd.3


sehr gut

Der dritte Band der Skogland-Trilogie von Kirsten Boie entführt in eine düstere Zukunft, Skogland, ein nordisches Land wird von Süd- und Nordskogen bewohnt, wobei der eine Teil der Bevölkerung die privilegierten „Herrenmenschen“ darstellen, blond und blauäugig, reich und mächtig, während der andere Teil aus den dunklen, ärmeren und ungebildeteren Nordskogen besteht. Die Möglichkeiten und Rechte der beiden Bevölkerungsgruppen sollen neuerdings idealerweise ganz gleichgeschaltet sein, ohne Diskriminierung oder Chancenungleichheit, stattdessen mit einer besseren Schulbildung für alle und neuen Möglichkeiten der Partizipation.
Dass dieser idealtypische Staat nicht für alle die bessere Möglichkeit darstellt, ist zu vermuten, und so finden sich die alten Seilschaften in konspirativen Treffen zusammen, um einen Umsturz zu planen. Aber nicht nur die Partei der rechten Gesinnung trifft sich, auch linke Rebellengruppen finden sich im Kampf gegen das Establishment zusammen. Eine Zeit der ungelebten Ideale und der gesellschaftlichen Unruhe durchzieht das gespaltene Land, eine Dystopie über einen Staat, der seine demokratischen Vorstellungen und neuen Gesetze noch nicht verwirklichen kann.
Vor diesem Hintergrund erleben wir eine Teenagergeschichte mit der Prinzessin Jarven als Hauptfigur, ein Elite-Internat, ein Sommerfest, hehre Ideen über die Überwindung von Grenzen und Vorurteilen, die erste Liebe, Freundschaft und Verrat, Eifersucht, Rechtsradikalismus, Revolution, Demokratie und Social Media und dann ein schreckliches Attentat, angelehnt an den Amoklauf in dem Jugendcamp auf der norwegischen Insel Utoya.
Aktuelle Themen, die im Unterricht ab der 8. Klasse behandelt werden könnten, allerdings eignet sich der Roman als dritter Band einer Reihe doch eher nicht als Schullektüre, da der Einstieg für SchülerInnen ohne das Vorwissen der beiden Vorgänger nur bedingt gelingen kann. Eine übersichtliche Namensliste zu Beginn unterstützt beim Überblick, dennoch ist der Einstieg vermutlich etwas verwirrend für ungeübte Leser.
Der Roman „Skogland brennt“ ist extrem actionreich und spannend geschrieben, handlungsstark, in gut verständlicher Sprache, mit kurzen Kapiteln, zahlreichen, oft widersprüchlichen Perspektiven von Tätern und Opfern und mit vielen jugendrelevanten Diskussionsthemen – deshalb eine klare Leseempfehlung und sicherlich gewinnbringend für jugendliche LeserInnen, die politisch und gesellschaftskritisch interessiert sind.