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Benutzername: 
leukam
Wohnort: 
Baden-Baden

Bewertungen

Insgesamt 87 Bewertungen
Bewertung vom 18.04.2025
Der Junge aus dem Meer
Carr, Garrett

Der Junge aus dem Meer


ausgezeichnet

Irische Erzählkunst vom Feinsten



„ Wir waren ein zäher Menschenschlag, geformt vom Leben mit dem Atlantik. Ein paar Tausend Männer, Frauen und Kinder, die sich an die Küste klammerten und versuchten, trocken zu bleiben. Unsere Stadt war nicht einfach nur eine Stadt, sie war eine Notwendigkeit und ein Schicksal.“
Der irische Autor Garrett Carr wählt eine ungewöhnliche Erzählperspektive für seinen Debutroman „ Der Junge aus dem Meer“. Die Wir- Perspektive bezieht den Leser mit ein und lässt ihn selbst zu einem Beobachter der Geschehnisse werden.
Schauplatz ist eine kleine Stadt an der Westküste Irlands. Hier wird eines Tages im Jahr 1973 ein Baby in einem halben Fass am Strand gefunden. Der ganze Ort ist fasziniert von diesem mysteriösen Fund, diesem „ Geschenk aus dem Meer“. Und so sind alle dankbar, als sich der Fischer Ambrose und seine Frau Christine des Kindes annehmen. Sie adoptieren den kleinen Jungen und geben ihm den Namen Brendan. Das Ehepaar hat schon einen Sohn, den zweijährigen Declan, und der reagiert höchst ungehalten mit einem „ Warum“ auf den Eindringling. Für ihn ist das Baby ein Störfaktor, der schleunigst wieder verschwinden soll. Und an dieser Haltung wird er sehr lange festhalten.
Auch zwischen Christine und ihrer unverheirateten Schwester Phyllis gibt es Reibereien. Die ältere Schwester fühlt sich benachteiligt, weil sie sich um den knurrigen alten Vater kümmern muss und kritisiert gerne an Christine herum.
Die Jahre gehen vorüber. Declan verfolgt eifersüchtig die Entwicklung seines jüngeren Bruders; beide gehen, älter geworden, getrennte Wege. Und Ambrose und seine Frau werden von Geldsorgen geplagt. Mit seinem kleinen Boot ist Ambrose bald nicht mehr konkurrenzfähig und muss immer weiter aufs Meer hinausfahren, um überhaupt noch einen Fang zu machen.
Zwanzig Jahre begleiten wir nun das Leben dieser Familie. Im Zentrum steht dabei die Rivalität der beiden Brüder und ihr Kampf um die Liebe des Vaters.
Gleichzeitig werden wir aber auch Zeugen der gesellschaftlichen Entwicklung im Ort. Die meisten Einwohner leben vom Meer; sie heuern entweder auf einem Fischkutter an, finden Arbeit in der Fischfabrik oder transportieren mit Lastwagen den Fang durchs Land. Die Arbeit ist hart und gefährlich, doch die meisten haben ihr Auskommen. Aber nun mit dem Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dem Vorläufer der EU, im Jahr 1973 ändert sich vieles. Während die irischen Bauern unbedingt in die EWG eintreten wollen, möchten die irischen Fischer ihre Gewässer auf keinen Fall mit anderen teilen. Unter den neuen Bedingungen gibt es bald keinen Platz mehr für kleine Fischer wie Ambrose. Und Ambrose muss einen Weg finden, wie er weiter für seine Familie sorgen kann. „ In Ambroses Jugend hatte Geldmangel noch ausgesehen wie in den Geschichtsbüchern: Arme Leute hatten damals keine Elektrizität, kein Bankkonto, keine Zähne, aber sie hatten auch keine Schulden, sie lebten jenseits des Geldes, …, unterstützt von Verwandten und der Gemeinschaft. Aber solche armen Leute gab es nicht mehr; alle hatten jetzt Geld, nur eben nicht genug. Geldmangel war zu etwas Bösartigem geworden,…Er machte sich im Kopf breit und ließ einen keine Ruhe,…Und es war fast unmöglich, darüber zu sprechen.“
Der Autor erzählt mit sehr viel Wärme und Humor eine sehr irische Geschichte. Es ist ein besonderer Menschenschlag, der hier lebt, geprägt von der kargen Landschaft und der Unberechenbarkeit des Meeres. „ Generation um Generation von Horizontbeobachtern, die lieber in eine wortlose Unermesslichkeit blickten als auch nur eine Sekunde lang in ihr Inneres.“ Einerseits wortkarg, andererseits immer für eine gute Geschichte zu haben. Und über allem das verbindende „ Wir“ , einer Gemeinschaft, die Anteil nimmt und zusammenhält.
„ Der Junge aus dem Meer“ ist ein wunderbarer Roman mit unverwechselbaren Figuren, voller Atmosphäre und unverhoffter Wendungen, sprachlich auf hohem Niveau. Es ist zu wünschen, dass der Autor seinem Debut noch viele Bücher folgen lässt.

Bewertung vom 25.03.2025
Dunkle Momente
Hoven, Elisa

Dunkle Momente


sehr gut

Schuldig oder nicht schuldig
Elisa Hoven ist Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig und Richterin am Sächsischen Verfassungsgericht. Da verwundert es nicht, dass sich ihr Debutroman mit juristischen Fallgeschichten auseinandersetzt; einige davon beruhen auf wahren Begebenheiten.
Die Protagonistin Eva Herbergen ist Strafverteidigerin und beschließt mit Anfang Sechzig ihre Anwaltszulassung zurückzugeben und ihren Dienst zu quittieren. Wie viele Menschen hat sie in ihrem langen Berufsleben durch deren „ dunkelsten Momente“ begleitet, für sie gekämpft und gestritten vor Gericht? „ Einige von ihnen waren schuldig, andere unschuldig, die meisten beides.“
Aber es sind ihre eigenen „ dunklen Momente“, die sie hinter sich lassen will, Fälle, bei denen sie an sich selbst gezweifelt hat. War ihr Eingreifen angemessen oder hat sie sich womöglich sogar schuldig gemacht?
Im Rückblick sind es ingesamt neun Fälle in ihrer beruflichen Laufbahn, weshalb sie nun ihre Arbeit aufgeben will.
Da gibt es den alten Mann, der einen Einbrecher erschießt. Aber ist das tatsächlich Notwehr oder eine völlig überzogene Reaktion? Und wie ist sein späteres Verdrehen der Tatsachen zu beurteilen? Während man noch über diesen Fragen grübelt, nimmt die Geschichte erneut eine überraschende Wendung.
Das ist ein Merkmal, das viele der ansonsten ganz unterschiedlichen Fälle eint: ein Twist, der alles nochmals in einem anderen Licht erscheinen lässt.
In einem weiteren Fall wird ein Mord vertuscht. Im nächsten eine junge Frau vergewaltigt; zehn Männer sind schuldig, elf kommen dafür ins Gefängnis.
Einmal erweist sich ein Verdächtiger als weitaus abgefeimter und manipulativer als gedacht.
Ein anderer Fall wirft die Frage auf, ob wir uns in Deutschland, in einem Land, das Sicherheit und behütete Kindheiten kennt, anmaßen dürfen, über einen Kriegsverbrecher aus Afrika zu urteilen. Vor allem dann, wenn bekannt wird, dass dieser Mensch, der unvergleichlicher Verbrechen beschuldigt wird, selbst als Kindersoldat rekrutiert wurde.
Alle Fälle zwingen den Leser dazu, einen Standpunkt zu beziehen, denn hinter jeder Tat steckt eine komplexe Vorgeschichte. Wie beurteilt man ein Verbrechen? Kann man Verständnis für den Täter aufbringen? Ethische und moralische Fragen treiben den Leser um und nicht selten hadert man mit dem Gerichtsurteil. Hier zeigt das Buch ganz deutlich die Grenzen von Recht und Gerechtigkeit.
Diese Fragen treiben auch die Staatsanwältin Eva Herbergen um. Sie arbeitet mit unkonventionellen Methoden und bewegt sich sehr oft in juristischen Grauzonen. Dabei überschreitet sie gerne auch mal rechtliche Grenzen oder greift zu zweifelhaften Mitteln. Das irritiert den Leser und lässt ihn an der Integrität der Anwältin zweifeln.
Eva Herbergen begründet ihr fragwürdiges Verhalten mit einem Fall aus ihrer Vergangenheit. Dort hatte sie versagt und die Schuldgefühle lassen sie seither nicht mehr los. Was damals konkret geschehen ist, wird erst im neunten und somit letzten Fall geklärt. Auf ihn wird immer wieder verwiesen. Der Fall „ Stefan Heinrich“ ist die „ Mohrrübe“, die dem Leser vor die Nase gehalten wird, die ihn durch das Buch ziehen soll.
Und damit sind wir bei einem Grundproblem des Romans. Es hätte dieser Rahmenhandlung nicht bedurft, es hätte nicht mal eine durchgängige Hauptfigur gebraucht. Diese Anwältin, die sich sehr oft unprofessionell verhält, sich Fakten zurechtbiegt, unrechtmäßig eingreift und sich sogar zum Komplizen machen lässt, wirkt unglaubwürdig.
Auch erzähltechnisch ist dieses Konstrukt nicht gelungen. Alle Geschichten werden nach dem gleichen Schema erzählt. Das langweilt mit der Zeit.
Mich hätte ein Erzählband mit Fallgeschichten, die in keinem fiktiven Zusammenhang stehen, mehr überzeugt. ( Wobei ich auf die Geschichte mit dem Kannibalen gerne verzichtet hätte.)
Trotz diesem Kritikpunkt habe ich das Buch gerne gelesen. Denn jedes Kapitel bot sehr viel Stoff für kontroverse Diskussionen, sowohl das Verbrechen an sich als auch seine Auswirkungen auf Täter und Opfer und die Strategie der Anwältin . ( Deshalb würde sich dieser Episodenroman geradezu für Lesekreise anbieten.)
Außerdem liest sich das Buch leicht und ist unglaublich fesselnd.

Bewertung vom 23.03.2025
Experimentieren mit allen Sinnen / Wieso? Weshalb? Warum? Bd.31
Weinhold, Angela

Experimentieren mit allen Sinnen / Wieso? Weshalb? Warum? Bd.31


sehr gut

Wieder sehr gelungen !

Meine Enkelkinder lieben die Bücher aus der bewährten „ Wieso Weshalb Warum?“ - Reihe und auch dieser Band gefällt wieder allen.
Dieses Mal geht es um die Welt der Sinne. Jeweils eine Doppelseite ist einem der fünf Sinne gewidmet. Da geht es zunächst um den theoretischen Hintergrund, immer in Frageform formuliert so z. B. „ Womit riecht die Nase?“ oder „Woher kommt der Geschmack?“ Und daran schließen sich Spiele oder kleine Experimente an. Dafür braucht es nicht viel, das meiste ist in jedem Haushalt greifbar. So wird z.B. gezeigt, wie leicht sich ein Bechertelefon basteln lässt oder wie man verschiedene Geräusche erzeugen kann. Spielerisch lassen sich Düfte erraten und zuordnen und am Ende kann man den Schnüffelsieger ermitteln und manches mehr.
Außerdem wird darauf eingegangen, was es bedeutet, wenn ein Sinn eingeschränkt ist und was man dann tun kann. Wer z. B. schlecht hört, kann ein Hörgerät benutzen und wer blind ist, muss sich auf seinen Tastsinn und sein Gehör verlassen.
Text und Illustration stehen in einem guten Verhältnis. Die Bilder sind wie gewohnt farbenfroh und realistisch, mit vielen kleinen Details. Und wie immer sorgen Klappen für zusätzlichen Entdeckerspaß.
Auch dieser Band ist wieder rundum gelungen und sehr zu empfehlen. So macht Lernen und Wissensvermittlung Spaß.

Bewertung vom 01.03.2025
Russische Spezialitäten
Kapitelman, Dmitrij

Russische Spezialitäten


sehr gut

Zwischen den Fronten
Wer Dimitrij Kapitelmans bisherige Bücher kennt, ist schon bestens vertraut mit seiner Familie. Der Autor ist, wie sein literarisches Ich, 1986 als Sohn einer moldawischen Mutter und eines ukrainisch-jüdischen Vaters in Kiew geboren und im Alter von acht Jahren als „ jüdischer Kontingentflüchtling“ nach Deutschland gekommen. In Leipzig hat seine Familie in den Neunziger Jahren einen Laden für russische Spezialitäten aufgemacht, ein sog. „Magasin“. Hierher kommen jahrelang die immer gleichen Stammgäste, die sich mit Krimsekt und Kaviar, getrocknetem Fisch und kitschigen russischen Postkarten eindecken. Papa ist der Geschäftsführer des Ladens, Mama sitzt rauchend im Hinterzimmer und erledigt den Papierkram und Sohn Dima arbeitet von klein auf mit. Und er begleitet Mama und Papa bei ihren Handelsreisen nach Kiew. Geht es bei Papa dabei vor allem um günstige Geschäfte, so nützt Mama den Besuch dort, um ihrem Sohn zu zeigen, wie „ unglaublich lebenswert Kyjiw“ ist. Doch Corona bedeutet , wie für viele kleine Geschäfte, das Aus für das Magasin. Der Laden wird geschlossen und geräumt. Aber vor der Übergabe der Geschäftsräume muss noch das damals angeklebte Linoleum entfernt werden, nicht so einfach. Hat doch Onkel Jakob billigsten russischen Leim verwendet. „Das ist sowjetisch-russischer Leim, der löst sich nicht. Was er einmal hatte, lässt er nicht mehr los.“
Von diesen Jahren, vom Ankommen in Deutschland bis in die Gegenwart, erzählt Dimitrj Kapitelman auf seine gewohnt ironisch- humorvolle Art die Geschichte seiner Familie. Doch dieses Mal schleicht sich immer wieder ein ernster, melancholischer Ton ein. Der Grund dafür ist der Krieg in der Ukraine und die Mutter des Autors.
War sein erster Roman „ Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ ein Vater-Buch, so ist dieser Roman eine schmerzhaft-bittere Hommage an die Mutter. Denn diese „ russisch fernsehvölkische Mutter“ glaubt Putins Parolen. Sie schaut ununterbrochen russisches Staatsfernsehen, hält das Massaker von Butscha für Fake und glaubt, dass in der Ukraine die Nazis herrschen. Der Sohn leidet unter der Kälte und der Ignoranz seiner Mutter, die er trotz allem immer noch liebt. Und um sie vom Gegenteil zu überzeugen, reist er mitten im Krieg in die Ukraine.
Davon erzählt der zweite, wesentlich ernstere Teil des Romans. Der Ich- Erzähler trifft in Kiew ehemalige Freunde, erlebt deren Alltag. Er sieht, wie die Menschen dort trotz der täglichen Bedrohung versuchen, eine gewisse Normalität aufrechtzuerhalten. Auch er legt sich eine App auf seinem Handy zu, die nicht nur vor dem nächsten Raketenbeschuss warnt, sondern zusätzlich auf den nächstgelegenen Bunker hinweist. Allgegenwärtig sind die Mobilisierungskampagnen, die mehr und jüngere Männer zum Militärdienst aufrufen. Gemeinsam mit einem Freund fährt der Autor nach Butscha und Borodjanka und macht sich selbst ein Bild von der russischen Zerstörungswut.
Doch wird er damit seine Mama überzeugen können? Als er selbst bei einem Luftangriff im Bunker in Kiew sitzt , schreibt ihm seine Mama , es bestehe keine richtige Gefahr, denn „ Russland beschießt ja ausschließlich militärische Ziele.“ Der Ich- Erzähler beschließt daraufhin, seiner Mutter nicht den heiß begehrten ukrainischen Speck mitzubringen. „ Kein Bekenntnis zum Existenzrecht der Ukraine, kein ukrainisches Salo.“
Der Krieg in der Ukraine hat nicht nur zu einem tiefen Riss in der Beziehung zwischen Mutter und Sohn geführt. Auch die Liebe zur russischen Sprache ist davon betroffen. Dimitrij Kapitelman fühlt sich als Ukrainer, doch seine Muttersprache ist Russisch. Eine Sprache, die in Kiew nicht mehr gern gehört wird, ist sie doch die Sprache des Aggressors. Seine Freunde lernen ukrainisch. Doch was bedeutet das für ihn? Er wird sich noch viel fremder fühlen in seiner früheren Heimat.
Dieses Buch sei das schwerste Buch für ihn gewesen, gesteht der Autor in einem Interview. Das verwundert mich nicht. Denn die Realität des Krieges ist auch für ihn äußerst schmerzhaft. Und der Graben innerhalb der Familie scheint nicht überbrückbar zu sein.
Es findet sich auch in diesem Roman der vertraute ironische Erzählton. Kapitelman spielt mit der Sprache, findet originelle Wortschöpfungen, baut surreale Elemente ein, wie z.B. sprechende Fische und stellt philosophische Betrachtungen zur Sprache selbst an. So findet er z.B. über dreißig Synonyme für Hartherzigkeit. Auch ist der Titel doppeldeutig. So meint er zwar vordergründig die Waren, die im „ Magasin“ angeboten wurden, lässt aber auch an „ Spezialoperation“ denken, der russischen Bezeichnung für den Ukrainekrieg.
„ Russische Spezialitäten“ ist eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem Ukrainekrieg, die für jeden lesenswert ist.

Bewertung vom 25.02.2025
Wieso? Weshalb? Warum? Meine Vorlesegeschichten, Band 2 - Was passiert in Wald und Wiese?
Pooch, Anna

Wieso? Weshalb? Warum? Meine Vorlesegeschichten, Band 2 - Was passiert in Wald und Wiese?


sehr gut

Informative und unterhaltsame Vorlesegeschichten
Die bewährte Sachbuchreihe „ Wieso Weshalb Warum?“ hat sich vergrößert. Unter dem Label „ Meine Vorlesegeschichten“ gibt es schon drei Bände, die Wissen in kleine Geschichten verpacken. Wir, meine Enkelin ( 4) und ich haben gemeinsam das Buch „Was passiert in Wald und Wiese?“ gelesen .
In insgesamt 15 mehrseitigen, in sich abgeschlossenen Geschichten wird das Thema Natur von allen Seiten beleuchtet. Gleich zu Beginn werden die Protagonisten vorgestellt, insgesamt vier Familien mit zusammen fünf Kinder. Dabei fällt sogleich die Diversität der Figuren auf. Es finden sich verschiedene Hautfarben und Nationalitäten und die unterschiedlichsten Familienkonstellationen. Auch werden klassische Rollenklischees vermieden.
In einer Erzählung erfahren wir, wie klug und einfallsreich Krähen sind ( der Favorit bei meiner Enkelin). In einer anderen lernen wir, worin sich Wespen und Bienen unterscheiden und den richtigen Umgang mit diesen nützlichen Insekten. Ein Besuch auf dem Bauernhof , bei dem es um verschiedene Getreidesorten geht, endet mit gemütlichem Stockbrotessen . Und als die frisch geernteten Himbeeren nach einiger Zeit matschig geworden sind, werden sie nicht weggeworfen, sondern zu leckerer Marmelade verarbeitet. Schon an diesen Beispielen wird deutlich, dass es hier nicht um reines Faktenwissen geht, sondern um den richtigen Umgang mit der Natur, um Respekt und Nachhaltigkeit.
Auch die farbenfrohen Illustrationen überzeugen .
Ein ideales Vorlesebuch , das die kindliche Erfahrungswelt widerspiegelt und gleichzeitig Sachwissen vermittelt.

Bewertung vom 15.02.2025
Von hier aus weiter
Pásztor, Susann

Von hier aus weiter


ausgezeichnet

Weiterleben
Schon in ihrem 2017 erschienenen Roman „ Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“ ging es um Tod und Trauer. Dass sich die Autorin, die als ehrenamtliche Sterbebegleiterin arbeitet, mit diesem Thema auskennt, beweist sie auch in ihrem neuesten Buch „ Von hier aus weiter“.
An ein Weitergehen mag Marlena nicht mehr glauben. Nach dreißig Ehejahren und dem Selbstmord ihres Mannes steht sie nun allein da . So war das nicht geplant. Deshalb ist Marlena nicht nur traurig, sondern auch wütend. Einsam und lebensmüde zieht sie sich immer mehr zurück, lehnt jegliche Hilfsangebote stur ab.
Dabei war sie es lange gewohnt, alleine zu leben, hat ihre Unabhängigkeit geliebt. Sie war nicht mehr ganz jung, als sie Rolf geheiratet hat. Ihn, einen Witwer mit drei fast erwachsenen Söhnen, hat sie damals über eine Kontaktanzeige kennengelernt. Es war eine glückliche Ehe. Marlena arbeitete weiter als Grundschullehrerin, Rolf hatte bis zu seinem Ruhestand eine gut gehende Landarztpraxis. Alles lief bestens, bis seine Krebsdiagnose ihr beschauliches Leben auf den Kopf stellte.
Die Tage nach der Trauerfeier übersteht Marlena nur mit Hilfe von Beruhigungsmitteln. Eigentlich hält sie nichts mehr am Leben.
Doch dann benötigt Marlena einen Klempner, der ihre defekte Dusche reparieren soll. Der Handwerker entpuppt sich als ehemaliger Schüler von ihr. Jack, so heißt der junge Mann, braucht dringend eine Unterkunft und Marlena bietet ihm ihr Gästezimmer an.
Jack revanchiert sich, in dem er für beide kocht und sich auch sonst um seine Gastgeberin kümmert. Langsam freunden sie sich an und Marlena nimmt wieder mehr Anteil am Leben.
Sie geht auch wieder ans Telefon und erfährt so, dass ihre alte Freundin Wally einen Brief von Rolf an sie hat. Den muss sie aber persönlich in Wien abholen. Jack lässt Marlena nicht allein die weite Strecke fahren. Und mit von der Partie ist auch Ida, die junge Ärztin, die Rolfs Praxis übernommen hat. Eine Art Roadmovie beginnt, mit einem überraschenden Ende.
Susann Pásztor erzählt hier von einer Frau, die wieder lernen muss, ins Leben zurückzufinden. Denn: Wie lebt es sich weiter, wenn der geliebte Mensch tot ist? Marlena reagiert mit Rückzug, doch es braucht Menschen aus ihrem Umfeld, die einfach da sind, zuhören und Mut machen, damit ihr ein Neubeginn gelingen kann. Und ihre Enttäuschung und Wut kann der Leser erst richtig einordnen, wenn er die genaueren Umstände kennt.

Auch in diesem Roman verbindet die Autorin ein schweres Thema mit erzählerischer Leichtigkeit. Es gibt immer wieder Situationen voller Komik, und Witz in den Dialogen. Besonders ans Herz wachsen einem die Figuren, die liebevoll und sympathisch gezeichnet sind. Und dieses Mal tragen noch eine Prise Magie und eine beginnende Liebesgeschichte zum Zauber der Erzählung bei.
Mag manches auch zu schön um realistisch zu sein, so ist es doch eine Lektüre, die Hoffnung macht und zum Nachdenken anregt.

Bewertung vom 04.02.2025
Halbe Leben
Gregor, Susanne

Halbe Leben


ausgezeichnet

Psychologisch stimmige Frauenporträts
Die Geschichte beginnt äußerst dramatisch. Gleich auf der ersten Seite stürzt bei einer Wanderung eine der Hauptfiguren in die Tiefe. Und der Leser fragt sich, wie es dazu kommen konnte.
Danach Rückblende: ein Jahr zuvor.
Klara, eine Frau Ende Dreißig, arbeitet als Architektin in einem renommierten Architekturbüro. Die Arbeit macht ihr Spaß und wird sehr gut bezahlt. Das ist auch notwendig, denn ihr Mann Jakob verdient als Photograph kaum etwas. Um die zehnjährige Ada kümmert sich Irene, Klaras Mutter. Das bisher funktionierende Gefüge der Familie bricht zusammen, als Irene einen Schlaganfall erleidet. Sie kann nicht mehr für sich selbst sorgen und braucht rund um die Uhr Betreuung. Klara kann das unmöglich neben ihrem arbeitsintensiven Job leisten. In ihrer Not wendet sie sich an eine Agentur für Pflegekräfte. Und nun kommt Paulina ins Haus, die sich die Arbeit im zweiwöchigen Rhythmus mit Radek teilt. Alle sind glücklich. Irene versteht sich gut mit ihrer Betreuerin; Klara kann sich wieder mit voller Kraft ihrer Arbeit widmen. Denn Paulina macht mehr als nötig, kocht für die ganze Familie, führt den Hund aus und hilft bei Festen. Dafür gibt es dann schon mal ein paar Scheine mehr.
Und die kann Paulina gut gebrauchen. Denn seit der Scheidung von ihrem Mann ist sie allein verantwortlich für die beiden halbwüchsigen Söhne. Ihr Gehalt als Krankenschwester hat hinten und vorne nicht gereicht. Einzig um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, hat Paulina diese Arbeit angenommen. Nur deshalb pendelt sie alle zwei Wochen zwischen der Kleinstadt in Slowenien und dem oberösterreichischen Kremstal hin und her. Die Söhne werden während ihrer Abwesenheit von der Schwiegermutter betreut.
Aber die Situation ist für Paulina natürlich alles andere als leicht. Ständig plagt sie das schlechte Gewissen, nicht für ihre Söhne da zu sein. Auch die leiden naturgemäß unter der Trennung. Und Paulina fragt sich, ob es die richtige Entscheidung war, sich für eine fremde Familie aufzuopfern, während ihre eigene auf der Strecke bleibt.
Susanne Gregor greift hier ein Thema auf, das in unserer alternden Gesellschaft immer mehr Menschen betrifft. Wir holen uns Arbeitskräfte aus ärmeren Ländern, die uns bei der Pflege und Betreuung unterstützen. Doch was bedeutet das für diejenigen, in der Regel sind es Frauen, die dafür ihre eigene Familie vernachlässigen müssen? Und welche Folgen hat das für die zurückgelassenen Kinder? Und was heißt das für die Infrastruktur eines Landes, wenn so viele Arbeitskräfte abwandern?
Die Autorin beleuchtet aber nicht nur diesen Aspekt, sondern geht auch auf das komplizierte Verhältnis zwischen Klara und Paulina ein. Klara ist freundlich und verständnisvoll, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Die Extradienste, die Paulina anfangs freiwillig übernommen hat, werden zwar honoriert, aber auch immer mehr eingefordert. Dabei übersieht Klara völlig, dass auch Paulina ein eigenes Leben hat und unter ganz anderen Zwängen steht als sie selbst.
Aber Klara führt ebenso ein „ halbes Leben“, wenn auch ein privilegierteres. Ihren Erfolg im Beruf bezahlt sie mit einem enormen Arbeitspensum und dem Gefühl, eine schlechte Mutter zu sein. Denn ihr ist nicht entgangen, dass ihre Tochter Ada ein weitaus besseres Verhältnis zur Oma hat als zu ihr.
Die dritte spannende Frauenfigur ist Irene. Sie hat ihre Tochter allein großgezogen, sich als Gymnasiallehrerin ihren Unterhalt verdient und legt auch als pflegebedürftige Frau Wert auf Selbstbestimmung und Würde.
Die Männer im Roman spielen eine eher unrühmliche Nebenrolle. Jakob ist zwar lieb und nett, aber keine wirkliche Stütze. Und Paulinas Mann entzieht sich gleich der Verantwortung und gefällt sich darin, seiner Ex- Frau Vorwürfe zu machen.
Die Situation im Roman spitzt sich immer mehr zu und eskaliert auf der eingangs beschriebenen Wanderung. Aber Susanne Gregor hat keinen Krimi geschrieben.
Stattdessen ist ihr ein äußerst feinfühliger, psychologisch stimmiger Roman gelungen. Sie erzählt wechselweise aus Klaras und Paulinas Perspektive. In vielen kleinen Alltagsszenen werden die Verschiebungen im Beziehungsgefüge deutlich. Es sind unterschiedliche Lebenswelten, die hier aufeinanderstoßen, wobei von vornherein ein Ungleichgewicht besteht. Verständnis kann man für beide Frauen aufbringen, wobei das größere Mitgefühl Paulina gilt.
Susanne Gregor, in Slowenien geboren, seit ihrem neunten Lebensjahr in Österreich heimisch, hat mit diesem Roman endgültig bewiesen, dass sie zu den interessantesten Autorinnen der österreichischen Gegenwartsliteratur gehört.

Bewertung vom 31.01.2025
tiptoi® Meine Lern-Spiel-Welt - Logisches Denken
Neubauer, Annette

tiptoi® Meine Lern-Spiel-Welt - Logisches Denken


sehr gut

Abwechslungsreich
Bücher und Spiele mit dem Tiptoi -Stift verknüpfen Spiel und Spaß mit Lerninhalten und sind eine gute Möglichkeit für die Eigenbeschäftigung von Kindern.
Mit diesem neuesten Buch soll logisches Denken vermittelt und geübt werden. In einer Rahmenhandlung begleiten wir den kleinen Tiger Theo auf einer Reise. Los geht es von Zuhause und dann weiter ans Meer, in Höhlen und Bergen und in den Wald. Wir sind in einem Schloss und auf einem Jahrmarkt. Auf jeder Doppelseite gilt es zwei bis drei Aufgaben zu lösen. Dabei variieren die Schwierigkeitsgrade, so dass schon kleine Kinder Erfolgserlebnisse haben und Ältere sich nicht langweilen. Man muss genau beobachten und aufmerksam zuhören. Mal sollen Reihen weitergeführt , mal Fußspuren erkannt werden. Oder es geht darum, Schattenbilder zuzuordnen, Reime zu ergänzen und Mengenangaben zu bestimmen. Sudoku- Freunde kommen auch auf ihre Kosten. Die beiden Lieder im Buch sorgen für eine kleine Lernpause..
Fazit:
Das Buch bietet abwechslungsreiche Aufgaben und Rätsel und dürfte auf großes Interesse bei der Zielgruppe stoßen . Auch wenn die Bilder nicht ganz meinen Geschmack treffen, so bin ich mir sicher, dass Kinder ihre Freude daran haben werden.

Bewertung vom 30.01.2025
Bohrer, Lampe, Spülmaschine / Wieso? Weshalb? Warum? Junior Bd.76
Erne, Andrea

Bohrer, Lampe, Spülmaschine / Wieso? Weshalb? Warum? Junior Bd.76


ausgezeichnet

Wieder sehr gelungen
Dies ist bereit der 76. Band aus der beliebten Reihe „ Wieso Weshalb Warum? Junior“ und wieder ein sehr gelungener.
Auf 16 Seiten erfahren Kinder ab zwei Jahren Wesentliches über alltägliche Haushaltsgeräte und Maschinen. Eingeteilt in die verschiedenen Lebensbereiche einer Wohnung, geht es von der Küche bis zur Werkstatt und in den Garten. So vermitteln kurze Texte und anschauliche Bilder Informationen über Elektrizität, über Küchen - und Gartengeräte, über verschiedene Medien usw. Die bewährten Klappen gewähren einen Blick in das Innere der Spülmaschine oder den Rasenmäher. Andere Klappen laden zur Interaktion ein, so kann man z.B. einen Rolladen runterlassen oder Batterien wechseln.
Sogar der Hinweis auf Gefahren fehlt nicht.
Positiv hervorzuheben ist auch, dass bei der Darstellung auf Diversität geachtet wurde und dass keine alten Rollenklischees verbreitet werden. Hier sieht man Papa beim Befüllen der Waschmaschine und beim Bügeln, während Mama gekonnt mit der Bohrmaschine umzugehen versteht.
So kann ich auch den neuesten Band uneingeschränkt empfehlen.

Bewertung vom 16.01.2025
Über allen Bergen
Goby , Valentine

Über allen Bergen


sehr gut

Ein leises und poetisches Buch
Es ist mitten im Winter des Jahres 1942, als der 12jährige Vincent in Vallorcine, einem Bergdorf im Schatten des Mont Blanc ankommt. Der Junge hat Asthma und die klare Bergluft wird seinen empfindlichen Bronchien guttun. Doch seine Krankheit ist nicht der einzige Grund, warum er mutterseelenallein in die französischen Alpen geschickt wurde. Sein Leben wäre in Gefahr, wenn er weiterhin in Paris bliebe. Dort ist er als Vadim in einem Arbeiterviertel aufgewachsen, mit einem russischen Vater und einer französischen Mutter. Sein Vater und seine Großeltern sind Juden. Und obwohl Vadim katholisch getauft wurde, muss er nun seine frühere Identität abstreifen und als Vincent ein neues Leben führen.
Die Familie, die ihn aufnimmt, behandelt ihn wie einen Sohn. Und auch die Dorfbewohner und der Pfarrer heißen ihn willkommen.
Aber für das Stadtkind ist hier alles fremd und neu. Zum ersten Mal in seinem Leben sieht er so viel Schnee, zum ersten Mal die Berge. Der Junge ist fasziniert von den majestätischen Gipfeln und dem vielen unterschiedlichen Weiß des Schnees. Langsam wird er vertraut mit dem Alltag der Dorfbewohner. Es ist ein einfaches und mühsames Leben, geprägt vom Rhythmus der Natur. Vincent hilft mit bei den Arbeiten auf dem Hof, ist dabei, als ein Kalb geboren wird. Und als das Frühjahr kommt, gibt es für die Kinder des Dorfes einiges zu tun. Vincent hat eine eifrige Freundin, die ihm alles zeigt und erklärt. Die 10jährige Moinette amüsiert sich über seine Unwissenheit . „ Noch nie Huflattich gesehen?“ „ Noch nie Kröteneier gegessen?“ „ Noch nie Vögel singen gehört!“ So nimmt sie ihn unentwegt auf den Arm, aber Vincent ist ein gelehriger Schüler. Er saugt alles Neue begierig auf, versucht einer von hier zu werden. .
So begleitet der Leser diesen liebenswerten Protagonisten durch drei Jahreszeiten. Und in drei große Kapitel ist der Roman auch eingeteilt. „ Weiß“ für Winter, „ grün „ für Frühling, „ gelb“ für Sommer. Jede Jahreszeit bringt für den Jungen neue Erfahrungen. Alles nimmt er intensiv wahr, Farben, Bilder, Töne, Gerüche. Vor allem die Farben spielen eine große Rolle, denn Vincent ist Synästhetiker. Jeder Buchstabe steht für ihn mit einer bestimmten Farbe in Verbindung. So wundert es nicht, dass der Junge seine Umgebung in selbstgemalten Bildern festhält.
Auch die Autorin spricht mit ihrem Roman die Sinne an. In unendlich vielen Variationen werden die Eindrücke des Jungen geschildert. Die vielen Weißtöne, das frische Grün des Frühlings, das Gold der Felder im Sommer, überhaupt die Schönheit der Natur -all das wird mit viel Poesie beschrieben. Wir sehen alles durch den offenen und unverfälschten Blick eines Kindes.
Vincents Entwicklung steht im Zentrum des Romans. Weg von zuhause muss er sich in eine fremde Umgebung integrieren. Die intensive Begegnung mit der Natur, die Gemeinschaft im Dorf, Freundschaften und eine erste zarte Liebe machen aus dem schüchternen Jungen aus der Stadt ein Kind der Berge. Das alles wird liebevoll und mit viel Empathie geschildert.
Der Krieg selbst steht im Hintergrund. Das isolierte Tal hält vieles fern. Die italienischen Besatzer im Dorf scheinen wenig bedrohlich. Doch die ziehen nach der Niederlage Italiens ab und auf sie werden die deutschen Soldaten folgen. Nun ist es auch hier nicht mehr sicher für Vincent.
„ Über allen Bergen“ ist ein leises Buch, das von seinen intensiven Beschreibungen lebt. Wer lyrische Landschaftsbetrachtungen liebt, kommt hier voll auf seine Kosten. Für mich hätten es etwas weniger sein dürfen. Auch war es mir zu viel Idylle im Dorf. Das Böse war etwas, das es nur außerhalb gab.
Trotzdem habe ich den Roman gerne gelesen.