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Juma

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Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 23.07.2025
ë
Kicaj, Jehona

ë


sehr gut

So viele vergiftete Erinnerungen

Jehona Kicaj ist eine junge albanischsprachige Kosovarin, die seit ihrer Kindheit in Deutschland lebt. Als ich im Herbst 1989 das erste Mal im damaligen Jugoslawien, in Dubrovnik, Urlaub machte, erfuhr ich auch zum ersten Mal vom Kosovo, von Kosovoalbanern, die ihre Identität nicht öffentlich machen wollten. Danach – in Deutschland war man gefühlt nur noch mit Mauerfall und Wende beschäftigt – begannen die Kriege, die auch das Kosovo und seine Bewohner zerstörten. Eine Flut von Flüchtlingen wurde in Deutschland aufgenommen, aber das wurde nicht so thematisiert wie jetzt, rund 34 Jahre später, der Ukrainekrieg. Für die Deutschen sind diese Kriege weit weg (gewesen). Aber die psychischen Traumata der Opfer und Vertriebenen, der Flüchtlinge klingen lange nach, werden uns noch lange begleiten. So, wie die Autorin heute davon berichtet, werden es später die Ukrainer oder Syrer sein, die ihre Erlebnisse und Wunden erst noch verarbeiten müssen.
Der Roman „ë“ hat wohl den kürzesten Titel, den ein Buch überhaupt haben kann, wenn man bedenkt, dass es teilweise in der albanischen Sprache auch noch ein stummer Laut ist, verschwindet er fast hinter der Geschichte. Und die spielt in der heutigen Zeit, man bemerkt es leider an der etwas aufgesetzt wirkenden geschlechtergerechten Sprache. Dabei ist es das Deutsch, dass offenbar in seiner Härte und Schwierigkeit der Ich-Erzählerin, vielleicht heißt auch sie Jehona, ein a am Ende des Namens ist sicher, einer Studentin, die sich einerseits mit der Heilung ihres verkrampften Kiefergelenks und andererseits mit den Erinnerungen an ihre Kindheit und die traurige Geschichte des Kosovo befasst, so sehr zu schaffen macht. Die auf Stress zurückgeführten Kiefergelenksbeschwerden lässt sie abwechselnd von einem Zahnarzt und einer Osteopathin behandeln, mit wenig Erfolg. Jehona will sich durchbeißen, sie ist und bleibt in der Diaspora, entkommt dabei weder ihren Gedanken noch ihren Gefühlen.
Der Leser erfährt Unbekanntes oder Vergessenes über den Kosovokrieg, der auch vor kleinen Kindern und Schulkindern nicht halt machte. Die Szenen sind bedrückend, lassen mich oft an die Ukraine denken, aber auch an den Zweiten Weltkrieg und seine Auswirkungen. Sehr anschaulich wird das besonders in den Seminaren der anthropologischen Forensikerin Dr. Joana Korner, die Jehona besucht. Hier geht es sehr ins Detail der mörderischen Verbrechen, die im Kosovo geschehen sind und von denen bei Weitem noch nicht alle aufgeklärt wurden. In einem der Seminare kommt auch der ehemalige Wohnort von Jehona, Suhareka, zur Sprache, seine etymologische Herkunft: „Der Ort, an dem die Sprache versiegt“, denkt Jehona, „daher komme ich also.“ Sie begreift ihre Schweigsamkeit, ihr Zurückgezogensein, ihre Introvertiertheit als Ergebnis ihrer Herkunft und ihres Schicksals. Aber sie wird dessen nicht Herr, nicht in diesem Buch.
Denn das Fremdsein hat immer zwei Seiten, zwei Richtungen, die eigene, die das Zentrum bildet, und die andere, alles Äußere Einschließende. Man kann von Jehonas Einzelflüchtlingsschicksal auf Geflüchtete und Schutz in anderen Ländern oder Regionen Suchende verallgemeinern, dass die Fremdheit sich auf Generationen ausdehnt, dass sie nie ganz verschwindet. Das betrifft in Deutschland die nach dem Zweiten Weltkrieg Vertriebenen und Geflüchteten ebenso wie jetzt die Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, der Ukraine oder anderen Ländern. Oft schlagen ihnen Vorurteile, Unwillen oder Abneigung entgegen. Aber diese Menschen kommen auch mit eigenen Vorurteilen, oft einer gegensätzlichen Kultur oder Religion ins Land.
Sehr berührend sind die Szenen, in denen Jehonas Verwandte von Erlebnissen und Ereignissen während des Kosovokrieges erzählen, ihre Cousine Shpresa war auch noch ein Kind, als sie das alles erlebte. Jehona aber war mit ihren Eltern noch vor Ausbruch der schlimmsten Gewalt nach Deutschland geflohen. Alles, was sie weiß, erfährt sie aus zweiter Hand. Vielleicht liegt auch hier ein psychologisches Problem, die Schuld, dass ihr selbst nichts passiert ist. „Nur“ das Haus und die Heimat waren verloren. Daran beißt sie sich möglicherweise immer weiter die Zähne aus.
Für Jehona scheint die Zeit noch nicht reif, ihr Wissen, ihre Hintergrundgedanken, ihre Beweggründe für ihr Handeln und Denken mit anderen zu teilen. Selbst mit ihrem Freund Elias findet sie nicht immer eine Basis für ihre Gespräche, das stumme ë ist nicht nur ein Buchstabe, es ist Synonym ihrer im Mund gefrorenen Worte. Zerbeißen kann sie sie nicht.
...
Fazit: Ein sehr nachdenklich stimmendes Buch, dass ich aufmerksam gelesen habe. Jehona Kicaj verwendet eine Sprache, die versucht klar und rein zu klingen, so wie sie als Kind versuchte, hundertprozentig gutes Deutsch zu sprechen. Und doch bleiben die Gedanken im Roman poetisch, wenn auch nicht immer nachvollziehbar.

Bewertung vom 22.07.2025
Ja, nein, vielleicht
Knecht, Doris

Ja, nein, vielleicht


sehr gut

„Ich lebe in einer Schleife, in meinen eigenen Wiederholungen“

Doris Knecht hat es wieder getan, einen Roman geschrieben, der wie ein Perpetuum Mobile der Gedanken funktioniert. Eigentlich schade, dass ihr Landsmann Wolf Haas am Jahresanfang schon sein neues Buch „Wackelkontakt“ genannt hatte, für „JA, NEIN, VIELLEICHT“ hätte das auch gepasst.
Nachdem ich im letzten Jahr „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ gelesen und mich gut amüsiert habe, erwartete ich den neuen Roman mit großer Vorfreude. Viele Protagonisten sind wieder da, das Ensemble erweitert sich aber zusehends. Die Ich-Erzählerin ist eine Schriftstellerin, schon ein bisschen angegraut, geschieden, ewig alleinstehend, die Zwillinge Max und Mila längst ausgezogen. Sie – die Schriftstellerin – schreibt an einem Buch über eine Schriftstellerin, die in eben jener Schleife feststeckt, die der Schriftstellerin das Leben schwer und manchmal auch leicht macht. Ihre zwei Zwillingsschwesternpaare kennt man ebenso wie die Eltern. Sie schreibt „Wir pflegen ein fröhliches, liebevolles Verhältnis miteinander, wir reden nicht über Sachen, die unseren Frieden gefährden könnten, und es funktioniert.“ Das ist eine Formel, nach der in vielen Familien der Friede gewahrt wird.
Was geschieht in diesem Buch? Vor allem Zahnschmerz, Herzschmerz und Seelenschmerz. Zudem benötigt Schwester Paula ein Ausweichquartier, wofür sie unter allen Möglichkeiten die winzige Wohnung der Schriftstellerin erwählt. Diese, und auch die in ihrem Buch, haben das Glück eines Hauses auf dem Land, wohin sie sich mit dem Hund, Name Mulder, zurückzieht. Und dann passiert es, sie sieht Friedrich, den Ex-Lover von vor 25 Jahren, im Supermarkt. Es kommt ein bisschen Kribbeln zurück, aber er ist unangenehmste Kandidat auf der Liste der Freunde im weiteren Sinne, wäre er mir (wieder-)begegnet, ich hätte ihn schnurstracks in Whatsapp und auch sonst blockiert.
Und so bewegen sich die Schriftstellerin, die Freunde und die Protagonisten in ihrem Buch wie in einem Tanz der Glühwürmchen ums Licht. Wahrscheinlich wird nur Therese am Glück nippen, wenn sie dann mit Eddie verheiratet ist, für die Ich-Erzählerin gibt es ganz nebenbei noch einen Stoß in die Magengrube, als Paulas Zwillingsschwester Alexandra auftaucht und den nur ihr zustehenden Platz beansprucht. Da merkt selbst die Schriftstellerin, dass ihre Schulter zum Anlehnen nur temporär wichtig ist. Im schlimmsten Fall erntet sie Mitleid, aber ihre aufgeschürfte Seele muss sie immer noch selbst verarzten.
Das Cover dieses Buches ist wunderschön, und vermittelt zwischen den einsamen, zweisamen, verrückten und beängstigenden Szenen im Buch, das auch ein Buch über bedingungslose Freundschaft und absolute Selbstbestimmung ist. Nicht nur "Denken ist solitär", Leben und Lieben ist es auch.
„… mir reicht’s jetzt.“ ist zwar ein Zitat aus dem Buch, aber noch ein drittes über diese Schriftstellerin möchte ich nun wirklich nicht mehr lesen. Vielleicht findet Doris Knecht ein anderes spannendes Thema, denn ihr Schreibstil gefällt mir und ich hätte Lust auf etwas Neues.

Bewertung vom 22.07.2025
Wer bin ich?
Lendvai, Paul

Wer bin ich?


ausgezeichnet

Das Wort „Endlösung“ vergisst man nie

Ich habe Paul Lendvais schmales Bändchen bewusst ausgewählt, weil mich die Gedanken eines 95-jährigen Juden, der Holocaust und Kommunismus überlebt hat und bis heute hochintelligente Texte schreibt, sehr interessieren. Ich bin nach dem Krieg geboren, aber das Trauma der Verfolgung und des Holocaust hat mich in meiner Familie auch begleitet. Beim Lesen dieses Buches stellte ich fest, dass die Gedanken Lendvais den meinen sehr ähnlich sind, auch wenn er in seinem langen und ereignisreichen Leben sehr viel mehr Erfahrungen gesammelt hat.
Die Haltung zu Israel, zum Judentum, zu Europa, insbesondere jetzt, nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 ist eindeutig und ich stimme ihm vorbehaltlos zu. Ich zitiere „… Ich war nie Zionist und betrachte Israel nicht als mein Vaterland. Jude sein bedeutet für mich nicht eine Staatszugehörigkeit oder eine kritiklose, absolut gesetzte Parteinahme für Israel. Aber ich gehörte zu jenen, die die erfolgreiche Entwicklung Israels grenzenlos bewundert und als einzig sicheren Zufluchtsort für die Juden betrachtet haben. … Meine besondere Solidarität mit Israel habe ich nie verheimlicht. …“ In Bezug auf das Massaker schreibt Lindvai „… Die perfide Rechnung der Terroristen geht leider auf. Die unzähligen TV-Berichte über das menschliche Leid in Gaza und die vielen Toten haben die Erinnerung an den alles auslösenden Überfall der Terroristen mit mehr als zwölfhundert Toten und rund zweihundertfünfzig entführten Geiseln außerhalb Israels und der jüdischen Gemeinden fast gänzlich in den Hintergrund gedrängt. Die ohne Rücksicht auf zivile Opfer mit Bomben und Panzern ausgeführten Gegenschläge in Gaza haben die von Netanjahu angekündigte »vollständige Beseitigung der Hamas und die Befreiung aller Geiseln« nicht erreicht. …“ Hier spricht ein Jude zu uns, der mit klarer Weitsicht und Klugheit das Dilemma des Staates Israel auf den Punkt bringt.
Fazit: Ein kluges Buch, kurz und prägnant, ein Rückblick auf ein fast hundertjähriges Leben als „Österreicher und Ungar, Jude und Europäer“ und auf ein Europa, das noch immer seinen Weg als Gemeinschaft sucht.

Bewertung vom 21.07.2025
Schwestern des brennenden Himmels
Caspian, Hanna

Schwestern des brennenden Himmels


sehr gut

Hoffnungsschimmer über Potsdam

Hanna Caspian hat sich intensiv mit dem geschichtlichen Hintergrund dieses Romans auseinandergesetzt: Das Ende des Zweiten Weltkriegs, die Potsdamer Konferenz, nicht zuletzt der Atombombenabwurf in Hiroshima. Heute denken die Menschen seltener an diese weltbewegenden Ereignisse, das Hier und Heute beschäftigt gar zu sehr. Aber das Wissen um die Geschichte sollte Mahnung, Erinnerung und Erkenntnis sein, auch für die Einordnung heutiger und zukünftiger Ereignisse.
Der Roman erzählt die Geschichte der jungen Ann, die mit den Eltern als Kind ins Exil ging, über Umwege in Großbritannien eine neue Heimat fand. Ihr hervorragendes English macht sie als Deutsche fast unkenntlich, sie lernt mit englischen Kindern in der Schule und steht mit englischen jungen Leuten auf den Dächern von London, um den „Blitz“ abzuwehren. Nachdem sie verschüttet wird, leistet sie einige Zeit Dienst im Büro und übersetzt Briefe deutscher Wehrmachtsangehöriger. Dann wird sie für die Betreuung der Mitglieder der britischen Abordnung zu Potsdamer (zuerst hieß sie Berliner) Konferenz eingesetzt. Ihr Traum wird wahr, sie kann in die Heimatstadt reisen, in der sie vor 10 Jahren ihre Cousine Charlie und die restliche Familie zurücklassen musste. Ob die Verwandten noch leben, ist die erste Frage. Ann, die ja eigentlich Annegret hieß, versucht in Potsdam alles, um Familienmitglieder zu finden. Sie spannt dafür ihren neuen Bekannten Jackson, einen amerikanischen GI, ein, aber ihre wahre Identität will sie weder ihm noch anderen erklären.
Der Roman beschreibt sehr anschaulich die Tage der Potsdamer Konferenz, die Eitelkeiten der Großen Drei, die Diskussionen und das Machtgeschacher. Hanna Caspian gelingt es gut, diese geschichtlichen und politischen Abläufe in das private Leben ihrer Protagonisten einzufügen (bzw. umgekehrt). Sehr anschaulich schildert sie die dramatischen Zustände in Potsdam, wo Hunger und Angst umgehen. Besonders die Angst vor der sowjetischen Besatzungsmacht, die allzu oft durch tödliche Schikanen, Vergewaltigungen, Verhaftungen und Morde das Leben der Menschen zur Hölle macht. Liesel, das Mädchen, das für den Roman als deutsche Schlüsselfigur erfunden wurde, vereint das alles in sich. Sie wuchs mir von Kapitel zu Kapitel mehr ans Herz. Eine so starke Empfindung hatte ich für Ann nicht, vielleicht lag das an ihrer Art, permanent über ihren Verrat nachzudenken und wie sie diesen wiedergutmachen könnte.
Da Ann im Gästehaus des Premierministers Churchill arbeitete, waren diese Szenen eine wohltuende Abwechslung zu den dramatischen Ereignissen in Potsdam. Mir hat das gefallen, wie für alles improvisiert werden musste und Churchill am Ende sogar recht zufrieden wirkte. Leider hat sein englisches Wahlvolk seine Kriegserfolge nicht gewürdigt und ihn kurzerhand abgewählt. Einer der Punkte, an denen die Weltgeschichte einen anderen Verlauf hätte nehmen können.
Ich will hier über die weitere Handlung im Buch nicht zu viel preisgeben, meine Überschrift der Rezension sollte reichen. Das Taschenbuchcover ist sehr ansprechend gestaltet, die innen gedruckte Karte von Potsdam erleichtert Ortsunkundigen die Orientierung. (Zu Fuß sind einige Strecken wirklich recht lang, das kann ich aus eigener Erfahrung schreiben. Wie schön die damals zerstörte Innenstadt unterdessen wieder geworden ist, erfreut mich übrigens bei jedem Besuch aufs Neue.)
Fazit: Mir hat der Roman gefallen und ich kann ihn guten Gewissens empfehlen. Er ist eindringlich geschrieben und vermittelt jede Menge Geschichtswissen, auch noch das Nachwort ist lesenswert.

Bewertung vom 16.07.2025
Wir sehen uns wieder am Meer (eBook, ePUB)
Teige, Trude

Wir sehen uns wieder am Meer (eBook, ePUB)


sehr gut

Der Kreis schließt sich

Die Trilogie, in der Junis das Leben ihrer Großeltern erforscht und gleichzeitig die lebenslange Freundschaft dreier norwegischer Frauen verfolgt, geht mit diesem Buch zu Ende. Der wunderbare erste Teil „Als Großmutter im Regen tanzte“ wird mit der bewegenden Geschichte der Freundin Birgit, die im ersten Teil die entscheidenden Hinweise auf das Geheimnis der Großmutter Tekla und auf den leiblichen Großvater Otto gab, zusammengeführt. Ich habe noch einmal einige Stellen des ersten Teils nachgelesen, z. B. den Besuch von Juni bei der 90jährigen Birgit im Pflegeheim, als diese ihr unbekannte Familiengeheimnisse offenbarte. Es heißt zwar im Nachwort des dritten Bandes, dass man die Teile auch einzeln lesen könnte, aber um den dritten Teil zu verstehen, wäre das Lesen des ersten aus meiner Sicht schon wichtig.
In „Wir sehen uns wieder am Meer“ befindet man sich mitten im Zweiten Weltkrieg, Norwegen ist von den Deutschen besetzt, aber es gibt auch in Norwegen Kollaborateure und Hitlerverehrer, die es den friedlichen Menschen noch schwerer machen, das Los der Besatzung zu ertragen. Birgit Johansen beschließt, ihren Anteil an der Hilfe für die unterdrückten Menschen in einem Krankenhaus weit im Norden des Landes, in Bodø, zu erbringen. Sie will dort, zur Verwunderung ihrer Freundinnen und Familie als Krankenschwester arbeiten. Für sie ist es die Flucht aus einer Einsamkeit, die diese nicht lindern können, denn ihr russischer Freund Ilja ist verstorben. Sie kann schon recht gut Russisch sprechen und sie liebt vor allem die russische Musik. Als sie im Krankenhaus mit sowjetischen Fremdarbeitern und Kriegsgefangenen konfrontiert wird, erweist sich ihr Sprachwissen als sehr hilfreich. Mit der ukrainischen Fremdarbeiterin Nadja freundet sie sich an und später wird sie sich unsterblich in den Kriegsgefangenen Sascha verlieben. Ohne Zögern beginnt sie die lebensgefährliche Mitarbeit in einer norwegischen Widerstandsgruppe. Vieles Erlernte aus dieser Untergrundarbeit wird ihr nach dem Krieg hilfreich sein bei ihrer Arbeit für den norwegischen Geheimdienst. Aber nicht nur der Geheimdienst hat dann ein Auge auf sie geworfen, auch der CIA und der spätere KGB suchen die Zusammenarbeit. Sie stürzt sich in ein sehr aufregendes und gefährliches Leben, aber sie nimmt das in Kauf, auch um die kurz vor Kriegsende erlebten Misshandlungen durch die Gestapo und norwegische Helfershelfer zu vergessen.
Die Informationen über das Leben und Leiden der sowjetischen Gefangenen in Norwegen sind sehr bedrückend, die Lebensbedingungen erinnern an Berichte aus den KZs in Deutschland, Ravensbrück wäre ein Beispiel für die Ausbeutung der inhaftierten Frauen. Ähnlich erging es den Frauen in Norwegen, beispielsweise in der Fischfabrik in Bodø ähnlich, aber hinzu kam die eisige Kälte am Polarkreis. Was Nadja und die anderen Frauen erleiden mussten, ist schrecklich, den Männern ging es um nichts besser. Erschreckend der Gedanke, dass unter diesen Umständen Kinder geboren wurden, aufwuchsen und so viel Leid erdulden mussten.
Das Buch zeigt vor allem die Freundschaft und Solidarität der Betroffenen, aber auch die Boshaftigkeit der Kollaborateure, die in ihrer Menschenverachtung den Deutschen in nichts nachstanden. Auch in Norwegen sind viele der gerechten Bestrafung entgangen, aber es gab auch Verurteilungen von Tätern.
Die Opfer, Menschen wie Birgit oder Nadja, quälen sich ein Leben lang mit den grausamen Erinnerungen, mit Alpträumen und Depressionen. Gelegentlich gibt es psychologische und psychiatrische Hilfe, aber nicht von allen wird sie angenommen und nicht bei allen ist sie erfolgreich. Die dritte Freundin von Tekla und Birgit, Anneliese, gehört dazu.
Das Buch von Trude Teige liest sich insgesamt gut, sie hat einen angenehm unaufgeregten Stil, beschreibt auch das Grausame lesbar. Nicht so gut hat mir die Geheimdienstaffäre von Birgit gefallen, es ist für heutige, gerade jüngere Leser sicher nicht so leicht nachzuvollziehen, wie sich der KGB wie eine unheilbare Krankheit in das Leben der Menschen gefressen hat. Ich habe zu der Thematik lange und ausführlich geforscht und weiß die Berichte im Buch einzuordnen. Für andere ist das vielleicht schwieriger. Und dieser Teil des Buches las sich für mich auch nicht so flüssig.
Sehr interessant ist das Nachwort, das die Autorin nutzt, um dem Leser einen Einblick zu geben in ihre Arbeit, die Recherchen, die tatsächlich existierenden Personen, die ihren fiktiven Protagonisten als Vorbild dienten. Es rundet die Trilogie im wahrsten Sinne des Wortes ab. Hier am Ende schließt sich im Roman und mit den Erklärungen von Trude Teige der Kreis der Trilogie.
Ich habe versucht, keine Spoiler einzubauen in meine Rezension, das ist aber auch schwierig. Der Klappentext nimmt schon einiges vorweg.
Fazit: wer die ersten beiden Bände der Trilogie kennt, wird mit dem Erzählten gut zurechtkommen. Mir hat es gefallen, es ist ein eindringliches Buch, das ich mit gutem Gewissen empfehlen kann. Gute vier Sterne.

Bewertung vom 12.07.2025
Der Totengräber und die Pratermorde / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.4 (MP3-Download)
Pötzsch, Oliver

Der Totengräber und die Pratermorde / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.4 (MP3-Download)


sehr gut

Wien 1896 - Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Oliver Pötzsch legt nun schon den vierten Teil seiner "Totengräber"-Krimiserie vor. Der Roman spielt im Jahr 1896, nicht nur die Technik macht riesengroße Sprünge, die der Kriminalpolizei weiterhelfen, auch die Kriminellen nutzen den technischen Fortschritt. Im Wiener Prater werden erste Filme gezeigt, erste Filme gedreht. Dass sich die Filmemacher auch den Vorlieben einzelner Kunden zuwenden, ist nicht ungewöhnlich, denn diese zahlen gut.
Zu Beginn des Krimis stirbt zuerst eine Frau bei einem missglückten Zaubertrick und wird zersägt, dann findet die Polizei diverse tote Frauen nahe des Rothschild-Anwesens. In bewährter Manier setzen sich die schon aus den ersten drei Folgen gut bekannten Hauptakteure Inspektor Leopold von Herzfeldt und Reporterin Julia Wolf auf die Fährten der Mörder. Unvermeidlich, dass auch der titelgebende Totengräber Augustin Rothmayer hineingezogen wird in die kriminelle Spirale, die sich immer schneller dreht. Die Hinweise auf antisemitische Ausfälle von Leos Kollegen sind mir manchmal etwas zu vordergründig, aber das stört den Gesamteindruck nicht.
Das Verhältnis von Leo und Julia war ja im dritten Band recht abgekühlt, nun erholt sich die Liebesbeziehung langsam wieder. Im letzten Drittel des recht langen Hörbuchs wird es dann doch noch spannend und die Auflösung erstaunt nicht nur den Hörer bzw. Leser des Krimis, sondern auch auf Kriminalistenseite hat man nicht damit gerechnet.

Fazit: Mit wunderbarem Lokalkolorit, einem Sprecher, der einen im Österreich der K.u.K.-Zeit versinken lässt, charakterlich gut beschriebenen Protagonisten und so mancher unerwarteten Wendung wird man für seine Geduld belohnt. Sehr lang - sehr wienerisch ist dieses Hörbuch, aber auch sehr unterhaltsam.

Bewertung vom 11.07.2025
Irina
Colby, Sasha

Irina


ausgezeichnet

Dieser Satz „Wir können von Glück sagen.“ rahmt für mich dieses wunderbare Buch ein, umfasst die unfassbaren Schicksalsschläge und Tragödien wie ein leichter, schöner Seidenschal. Es sind oft wiederholte Worte von Sasha Colbys Großmutter Irina, die jedes Unglück vergessen machen möchten. Aber der Mensch vergisst nicht.
Sasha Colby ist die Enkelin von Irina, einer ehemaligen ukrainischen Zwangsarbeiterin, die während des Zweiten Weltkriegs in Wetzlar für die sehr reiche und bekannte Familie Leitz arbeitete. Zuerst in der Verpackungsabteilung für Leica-Kameras, die berühmteste Kleinbildkamera jener Jahre und noch heute teuer und begehrt. Irina spricht Deutsch und hat das unfassbare Glück, im Herrenhaus der Familie eine Anstellung und auch Unterkunft zu bekommen. Unter der Anleitung von Elsie Kühn-Leitz sind hier mehrere Hausangestellte beschäftigt, es herrscht eine angenehme Atmosphäre, die Zwangsarbeiter werden so menschlich behandelt, dass das bereits auffällig ist für die Gestapo und ihre Spitzel. Irina aber kann ihr Glück kaum fassen und auch nur der Gedanke, zurück ins Lager zu müssen, macht ihr Angst.
Sasha Colby hat sich an dieser Lebensgeschichte, die noch weitaus umfangreicher und tragischer wird, als es die ersten Kapitel vermuten lassen, so festgebissen, dass sie nicht mehr davon lassen kann. Recherchen und vorsichtige Befragungen der Großmutter bringen sie auch auf die Spuren der Familie Leitz, insbesondere von Elsie. Diese ist nicht nur eine kluge und weltgewandte Hausdame und studierte Juristin, sie engagiert sich aktiv im Widerstand gegen die Nazis, vor allem durch die unermüdliche Hilfe, die sie den Zwangsarbeitern zukommen lässt. Ihre Verhaftung und Untersuchungshaft hat die Autorin nicht nur bis ins Detail erforscht, sie hat aus Elsies Erinnerungen und ihrer eigenen Phantasie eine romanhafte Lebensgeschichte gemacht. Fern von jedem trockenen Sachbuchstil kann der Leser die Not, die Angst und das zeitweise Verzweifeln unsagbar nah und authentisch fühlen. Die Kapitel über Elsies Haft sind die poetischsten im ganzen Buch. Auch Ernst Leitz II, ihr Vater, nutzt seine Stellung und sein Geld, um Juden und anderen Verfolgten zu helfen, Deutschland zu verlassen und im Ausland, bevorzugt in Orten mit einer Leitz-Niederlassung, Arbeit und Unterkunft zu finden. Dass er damit auch seine Tochter retten kann, ist ein positiver Nebeneffekt.
Die Autorin verfolgt in ihrem Buch die verschiedenen Erzählstränge mit Vehemenz, so kennt der Leser bald nicht nur ihre Großmutter Irina, sondern auch ihren Opa Sergei – mit einer ganz eigenen Geschichte –, folgt dem schweren Start des Onkels Alexandre ins Leben, ihrer wilden, fröhlichen Mutter Lucy und ihrem Vater in die 1970er. Colbys Großeltern gelingt nach Kriegsende – das ist zwar ein Spoiler, aber sicher verzeihlich – die mehrfache Flucht vor den Russen, nicht zuletzt wieder auch mit Hilfe von Elsie bzw. Ernst Leitz II. Die Aussicht, als Vaterlandsverräter in einem russischen Gulag zu enden, hat Colbys Großeltern zu wahren Husarenstücken gebracht, um dieses Schicksal abzuwenden. In Kanada finden beide endgültig eine neue Heimat.
Trotz der tragischen und traurigen Begebenheiten hat dieses Buch etwas Leichtes und die Sprache der Großmutter trägt eindeutig dazu bei, etwas Ironie und Witz zu verbreiten. Ihr nach wie vor gebrochenes Englisch (in der Übersetzung natürlich Deutsch) ist köstlich, der Supermarktbesuch unvergesslich und brachte mich tatsächlich zum Lachen. Es ist anrührend zu lesen, wie sie Stück für Stück ein „bisselchen“ von ihren Erinnerungen an Tochter und Enkeltochter weitergibt. (gekürzt)
100 % Leseempfehlung!

Bewertung vom 02.07.2025
Die Einstein-Vendetta (eBook, ePUB)
Harding, Thomas

Die Einstein-Vendetta (eBook, ePUB)


sehr gut

Das Kontinuum der Verantwortung

Als ich den Buchtitel „Die Einstein-Vendetta“ las, erinnerte ich mich sofort an den Dokumentarfilm „Einsteins Nichten“ von Friedemann Fromm, den ich 2018 im Fernsehen sah. Schon damals hat mich die Geschichte der Ermordung von Familienmitgliedern Albert Einsteins in Italien sehr berührt. Nun erscheint über 80 Jahre nach Kriegsende und 81 Jahre nach dem Mord ein Sachbuch des bekannten englischen Autors Thomas Harding, der versucht, die „wahre Geschichte des Mordes“ (siehe Untertitel) zu recherchieren und zu erzählen.
Harding ist nicht der erste, der das versucht, begonnen hatte War Crime Officer Wexler mit der Recherche, nach ihm waren Deutsche, Amerikaner, Italiener auf juristischer Ebene mit dem Fall betraut, aber auch Journalisten versuchten die Geheimnisse zu lüften.
Was war geschehen? ... (gekürzt) .... da die Deutschen des Juden Robert Einstein nicht habhaft werden konnten, erschossen sie seine Ehefrau und ihre beide Töchter.
Wer war der Auftraggeber? Gab es einen Auftrag? Sollte Robert Einstein erschossen werden? Wer waren die Vollstrecker? Auch 81 Jahre nach dem Mord sind diese konkreten Fragen nicht geklärt. Und doch kann man sagen, die Auftraggeber waren die Verfasser der Nürnberger Gesetze und die Erfinder der Endlösung, der Auftrag war eindeutig Teil des Plans der Auslöschung der europäischen Juden. Nicht nur in Deutschland kannte man die Sippenhaft, wie sie zum Beispiel bei den Attentätern des 20. Juli 1944 angewendet wurde. Auch im besetzten Italien herrschte dieser Geist. Ob und wer am Ende die Familie verraten hatte, wer der Mordschütze war, das konnte auch Harding nicht belegen. Aber ihm gelingt es, eine Familiengeschichte der Einsteins zu erzählen, die eine Einblick gibt in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und die viele Familienmitglieder und andere Personen anrührend und ehrlich charakterisiert.
Besonders der erste Teil des Buches „Verbrechen“ hat mich sehr gefesselt, als Leser sieht man das Unheil kommen, man weiß natürlich schon vor Beginn des Lesens, was geschehen wird. Aber ist es Thomas Harding gelungen, trotzdem eine hohe Spannung zu erzeugen, die Anspannung in der Familie zu vermitteln und die historischen Ereignisse außerhalb von Il Focardo einzuordnen.
Was Harding nach dem feigen Mord an Nina und den Töchtern im zweiten Teil „Nachspiel“ betrachtet, ist vor allem die Reaktion Robert Einsteins, dem es schier das Herz gebrochen hat. Nur mit Mühe können ihn Freunde vom sofortigen Selbstmord abhalten, verhindern können sie ihn später nicht, zu schwer wiegt für ihn die eigene Schuld. Aber er hat es trotz tiefer Depressionen geschafft, für die beiden Nichten Lorenza und Paola eine Lebensgrundlage zu schaffen. Sie werden es ihm nie vergessen, bis ins hohe Altern sprechen sie voller Liebe von ihm.
Der dritte Teil des Buches „Gerechtigkeit“ beschäftigt sich mit den umfangreichen, sich über viele Jahrzehnte hinziehenden Recherchen, die jedoch eines nicht finden, den wahren Mörder. Ob es tatsächlich eine Vendetta war, die den Cousin von Albert Einstein anstelle seines berühmten Verwandten vernichten sollte, steht nach wie vor als Frage im Raum.
Dass die Ehefrau und die Töchter von Robert Einstein aufgrund ihres jüdischen Ehemanns bzw. Vaters den antisemitischen Eiferern zum Opfer fielen, sehe ich hingegen als Tatsache an. Zumindest die ehrenvollen Gräber in Badiuzza für alle vier, die dort verein ruhen, und das Denkmal lassen an eine Gerechtigkeit glauben, die nicht „Auge um Auge“ errungen ist.
Thomas Harding hat dieses Buch mit einigen Details ausgestattet, die ich gern erwähnen möchte: es gibt einen Stammbaum der Familie Einstein/Mazzetti, man findet einige Karten, die extra für das Buch angefertigt wurden, im Text und am Ende sind verschiedene Fotos abgebildet, die einen Eindruck geben von den Menschen, über die Harding berichtet. Ich lege jedem Leser den Epilog ans Herz, der noch einmal eine hervorragende Zusammenfassung des Gelesenen gibt und auch das persönliche Interesse Hardings an der Familie Einstein und am Holocaust beleuchtet.
Auch der Anhang ist sehr ausführlich und unterstützt den wissenschaftlichen Stil, mit dem das Buch verfasst ist. Trotz der Wissenschaftlichkeit liest sich dieses Buch sehr gut! Ein umfangreicher Index macht es einem leicht, schnell noch einmal zu einer gesuchten Person, einem Ort oder Fakt zu wechseln. Bibliografie und Quellenangaben weisen Interessierten den Weg und zeugen von der umfangreichen Recherchearbeit, die Harding für dieses Buch bewältigt hat. Der eingangs von mir erwähnte Film befindet sich auch darunter.
Fazit: Dieses Buch erzählt nicht nur vom tragischen Schicksal der Familie Robert Einsteins, eines Cousins von Albert Einstein, man erfährt auch sehr viel über die Geschichte Italiens. Insbesondere die Zeit des Zweiten Weltkriegs, die wechselnden Besatzungen, die Befreiung und der Wiederaufbau des verwüsteten Landes werden sehr informativ beschrieben. Lesenswert und aufschlussreich. Gute vier Sterne.

Bewertung vom 22.06.2025
Ein Hoch auf deine Sensibilität
Brach, Nina

Ein Hoch auf deine Sensibilität


sehr gut

Feine Antennen schärfen den Blick

Durch Zufall wurde ich auf dieses Buch aufmerksam. Auf Instagram empfand ich die Frage von Nina Brach, ob es jemanden gibt, der total genervt auf Etiketten oder Aufhänger in Pullover oder Shirt reagiert, als hätte sie nur mich persönlich gemeint. Der Aufhänger wurde zum Aufhänger, dass ich mich nun endlich einmal gründlich mit meiner eigenen Sensibilität auseinandergesetzt habe.
Nina Brach erklärt mit erfrischender Emotionalität und Sachkenntnis die verschiedenen Fachbegriffe, zuerst natürlich Hochsensibilität und Hochsensivität. Mit der Erklärung einher gehen praktische Beispiele, die es dem Leser ermöglichen, sich auch selbst ein wenig besser kennenzulernen und zu analysieren. Ich bin 70 Jahre alt, meine Töchter über 50, für jede von uns habe ich im Kopf eine kleine Analyse machen können, die im Ergebnis vier sehr sensible/sensitive Personen mit unterschiedlichsten Ausprägungen und Variationen ergab. Jede hat ihre eigenen hochsensiblen Bereiche, das fand ich wirklich interessant. Wenn mir das Buch vielleicht nicht im Sinne der Autorin zu einer Veränderung meiner Lebens- und Gefühlssituation verhilft, so doch auf jeden Fall zu einem geschärften Blick in Gesprächs- oder Konfliktsituationen.
Das Buch ist in fünf verschiedene Kapitel eingeteilt, wobei jedes für sich sehr erkenntnisreich ist. Für mich persönlich waren vor allem die ersten drei von Bedeutung, die Problematik Kinder betrifft mich eher nicht mehr, es sei denn ich schaue rückblickend noch einmal auf meine jetzt erwachsenen Töchter oder auf die Enkelkinder. Das Beziehungsthema lasse ich hier einmal weg. Darüber gibt es zudem unzählige Ratgeber und Sachbücher, die das auch im Hinblick auf Sensibilität betrachten.
In den einzelnen Kapiteln hat man als Leser die Möglichkeit, für seine eigene Selbstanalyse Fragen zu beantworten oder Strategien zu erarbeiten. Die Frage, was ich an meinen Sensibilitäten als positiv oder bereichernd empfinde, konnte ich leider nur mit „Nichts, sie stören mich und meinen Alltag immer“ beantworten. Da fehlt mir wohl die Hochsensivität.
Für den Alltag habe ich tatsächlich einige Anregungen mitgenommen. Ich stelle hier ein Zitat vor, das ich als guten Ratschlag versuchen werde zu befolgen: „Wichtig dabei ist, dass du lernst, deine Grenzen möglichst frühzeitig zu kommunizieren und nicht erst, wenn das Fass kurz vor dem Überlaufen steht. Dann fühlen wir uns oft so sehr unter Druck oder in die Ecke gedrängt, dass wir explodieren.“
Die Begrifflichkeit der Neurodiversität wird von der Autorin gut dargelegt, ich hatte mich bisher nicht damit beschäftigt, es hat mich auf jeden Fall zum Nachdenken über bestimmte Situationen oder Menschen in meiner gebracht. Etwas zu sehen bedeutet ja nicht automatisch, dass man es auch versteht, hier hilft so eine populärwissenschaftliche Lektüre über bestimmte Wissenslücken gut hinweg.
Die Gestaltung des Buchs, das ich zuerst als pdf-Datei gelesen habe, gefiel mir so gut, dass ich mir zusätzlich das gedruckte Buch bestellt habe. Leider musste ich feststellen, dass es in der Verkleinerung von A4 (gelesen auf iPad Pro) auf ca. A5 als Taschenbuch für mich nicht praktikabel war. Die Schrift des Fließtextes ist in einer sehr kleinen und zudem dünnen Schrift gehalten, die mir auch mit Lesebrille Probleme bereitet. Schade, das digitale Buch fand ich farblich und typografisch sehr gelungen.

Danke, liebe Nina Brach, sagt eine Vielfühlerin! Wenn wieder einmal mein Gedankenkarussel aus dem Ruder läuft, nehme ich gern Deine Ratschläge an und stelle mir dann in Gedanken ein Stoppschild auf. Und mir ist beim Lesen die Idee gekommen, dass es doch für jeden (Leser) hilfreich sein könnte, das Bedürfnisvokabular von Seite 96 einmal in eine persönliche Reihenfolge zu bringen. Das hat mir zumindest klargemacht, dass es von Mensch zu Mensch höchst unterschiedlich ist, was außer den existentiellen Grundbedürfnissen präferiert wird. Daran lässt sich meines Erachtens auch feststellen, ob und wie sensibel/sensitiv der Mensch veranlagt ist. Das Buch ist also nicht nur Ratgeber oder Wegweiser, es lenkt den Blick auch einmal in neue Richtungen, die man allein vielleicht gar nicht beachtet.

Fazit: ein guter Einstieg für jeden, der vermutet, dass er auf Alltagsreize jeglicher Art zu empfindlich reagiert. Die Abgrenzung zu psychiatrischen Erkrankungen (ADHS, Autismus etc.) ist gut zu erkennen.

Bewertung vom 21.06.2025
Im Finsterwald
Hermanson, Marie

Im Finsterwald


ausgezeichnet

Spannender, psychologisch dichter Kriminalroman

Göteborg, Winter 1927, es verschwindet ein Mädchen im Naturhistorischen Museum. Eine Geschichte, die sich unspektakulär anhört, die aber den Leser über mehr als 400 Seiten in seinen Bann schlägt. Ich habe dieses Buch regelrecht verschlungen, konnte mich kaum losreißen von der eigenartigen Atmosphäre des nördlichen Winters, den empathisch beschriebenen Haupt- und Nebenfiguren und dem tragischen Geschehen.
Das verschwundene Mädchen heißt Alice, was sofort an Alice im Wunderland denken lässt, das älteste von fünf Geschwistern der Familie Guldin, mit denen das junge Kindermädchen Maj nicht nur zum Aufwärmen in das Museum geht. Denn es gibt dort für Kinder viel zu sehen und zu bestaunen. Und auch Maj staunt dort gern und verliert sich in Gedanken. Vater Filip Guldin steht kurz vor dem selbstverschuldeten finanziellen Ruin, seine Ehefrau leidet nach der Geburt des letzten Kindes, Baby Ingmar ist gerade neun Monate, wahrscheinlich unter einer postnatalen Depression, und wird mit Opium völlig lahmgelegt. Das Kindermädchen, mit einer himmlischen Geduld gesegnet, muss Haushalt und Kinder betreuen und dem Hausherrn auch sonst zu Diensten sein. Als ihr die kleine Alice im Museum entwischt, trägt sie das mit Fassung. Die Polizei beginnt mit einer wahren Sisyphusarbeit, Museum und Wohnumfeld werden systematisch abgesucht, nichts. Hauptwachtmeister Nils Gunnarson weitet seine Suche aus, nicht immer zur Freude seines Vorgesetzten Kommissar Nordfeldt. Er kommt mit seiner verflossenen Flamme Ellen in Kontakt, die als ehemalige Journalistin und jetzige frischgebackene Ehefrau eines Herrn Forsell ein gutes Gespür für ungewöhnliche Vorgänge hat. Dass sie darin auch verwickelt werden könnte, ahnt sie natürlich nicht.
Die Autorin hat ein gutes Gespür für feine Töne, ihre Charakteristika sind lebensecht und der Fortgang der Geschichte und der Ermittlungen bringt so manche Überraschung. Es gibt Verdächtige und Verdächtigungen, ungeahnte Enthüllungen und der Leser lernt nicht nur das Schweden der 1920-er Jahre, sondern auch insbesondere ein Naturhistorisches Museum kennen, dass die wenigsten so intensiv bestaunt haben dürften, wie ich es hier im Buch tun konnte. Sehr gelungen und nicht eine Seite langweilig.
Die Übersetzung von Regine Elsässer, die schon unzählige Bücher auch von Marie Hermanson und anderen Skandinaviern übersetzt hat, lässt in keinem Satz Wünsche offen. Es ist ein wunderbar zu lesender Kriminalroman, der nicht nur viel Spannung, sondern auch gute Literatur bietet.
Es gibt bereits zwei Kriminalromane, in denen Nils Gunnarson und Ellen Grönblad die Hauptrollen spielen. „Der Sommer, in dem Einstein verschwand“ ist im Jahr 1923 angesiedelt, „Die Pestinsel“ 1925. Ich habe es nicht als Manko angesehen, dass ich diese vor „Im Finsterwald“ stattfindenden Kriminalfälle nicht kannte. Letzterer lässt sich wunderbar auch ohne Vorkenntnisse lesen. Da ich ein Fan von schwedischen, skandinavischen Krimis bin, werde ich bei Marie Hermanson sicher noch mehr finden, das mir gefällt.
Fazit: Bis zum Schluss habe ich mitgerätselt und Theorien entwickelt, was mit Alice geschehen ist, und ich empfehle allen Neugierigen, nicht die letzten Seiten zuerst zu lesen. Sie würden sich um ein großes Lesevergnügen mit vielen Spannungsbögen bringen.