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wasserklaenge

Bewertungen

Insgesamt 27 Bewertungen
Bewertung vom 28.01.2025
Die Gabe
Suzuki, Suzumi

Die Gabe


weniger gut

Eine Mutter will ein letztes Gedicht schreiben bevor sie stirbt und zieht dafür vom Krankenhaus in die kleine Wohnung ihrer Tochter. Die Tochter ist hin und hergerissen zwischen dem unkonkreten Wunsch der Mutter in ihren letzten Tagen beizustehen und dem Drang ihr aus dem Weg gehen zu wollen.

Dieser Roman fühlt sich dunkel und kalt an. Es gibt so viel, das Emotionen erzeugen müsste: Das langsame sterben der Mutter, der Su1zid einer Freundin, die kleine, kalte ungemütliche Wohnung, in die die Erzählerin immer wieder zurückkehrt, das Kontaktverbot mit dem Vater, die Sprachlosigkeit in der Beziehung von Mutter und Tochter. Doch irgendwie kam nichts davon an mich heran. Vielleicht wegen der verworrenen, unsentimentalen Erzählweise. Vielleicht, weil man sich beim lesen genauso betäubt fühlt wie die Erzählerin, die mit zu viel Alkohol und zu vielen Zigaretten in unpersönlichen Nachtclubs vor ihrem Leben flüchten möchte.

Ich habe leider nicht ganz durchblickt, was Suzumi Suzuki mit dem Roman eigentlich erzählen will. Bestimmt gibt er ein authentisches Bild des Lebens einer Hostess ab. Aber über deren Arbeit wird eigentlich kaum etwas erzählt. Hauptsächlich pendeln wir zwischen Krankenhaus und Wohnung, es passiert wenig. Auch über die Beziehung zwischen Mutter und Tochter habe ich nichts greifbares erfahren.

Der Klappentext spricht von „zwei Frauen mit ganz unterschiedlichen Verständnissen von weiblicher Selbstermächtigung, Liebe und Gewalt“. Wo hier von Selbstermächtigung und Liebe die Rede war, müsste mir bitte jemand anstreichen. Die Gewalt habe ich gefunden, bezweifle aber, dass davon unterschiedliche Verständnisse herrschen.

Ja, der Roman hat etwas soghaftes. Trotzdem blieb er für mich unbefriedigend. Unsentimental, distanziert, unkonkret. Die Gabe gibt einen kleinen Einblick in das Leben einer jungen Frau, die alle Gefühle tief in sich vergraben hat. Mit hat er leider nicht viel gegeben.

Bewertung vom 28.01.2025
Klapper
Prödel, Kurt

Klapper


sehr gut

Thomas wird wegen seiner ständig knackenden Gelenke von allen nur Klapper genannt. Und das eher nicht auf liebevolle Weise. Er ist ein Außenseiter, bekommt kaum den Mund auf und verbringt fast seine komplette Zeit damit Counter-Strike zu zocken. Darauf welches Bandshirt er wohl als nächstes tragen wird werden schon Wetten abgeschlossen. Er ist ein lieber Kerl, nur leider merkt das niemand. Bis Bär kommt.

Bär heißt eigentlich Vivi und im Gegensatz zu Klapper hat sie sich ihren Spitznamen selbst ausgesucht. Sie ist groß und stark, sie steht auf Deutschrap und lässt sich von niemandem herumschubsen. Und irgendwie hat sie sich den verschlossenen Klapper als Freund auserkoren.

Dieser Roman ist überraschend unterhaltsam, die Seiten fliegen nur so dahin! Prödel trifft einen Ton der nostalgisch macht, etwas wahrhaftes hat, witzig ist aber auch Bitteres nicht ausspart. Mir ist Klapper richtig ans Herz gewachsen. Man wünscht ihm, dass er mal aus sich heraus kommt - so, wie wenn er seinem Spießerpapa Kontra gibt. Aber wenn man sich die 2025er Storyline so anschaut, scheint das nicht geklappt zu haben. Er ist genauso verschlossen und einsam wie eh und je. Was ist also passiert? Und wieso ist Bär aus seinem Leben verschwunden?

Cringer 2011er Deutschrap, lange vergessene Axe-Deo-Werbung, das Gefühl ein angsty Teenager zu sein und die fast schon alltäglichen Dramen, die sich hinter verschlossenen Türen abspielen – Prödel erspart dem Leser nichts. Mit Klapper ist ihm ein wunderbar unterhaltsamer und authentischer Roman über Freundschaft und das Erwachsenwerden gelungen. Traurigschön und manchmal wunderbar absurd.

Bewertung vom 15.12.2024
Only Margo
Thorpe, Rufi

Only Margo


ausgezeichnet

Margo ist gerade mal 19 als sie von ihrem Literaturprofessor schwanger wird. Der hat bereits Frau und Kinder und will mit Schwangerschaft und Baby nichts zu tun haben. Mit dem Baby ist an ein Studium nicht mehr zu denken und ihren Kellnerjob ist Margo schneller los als sie gucken kann. Auch von ihren Eltern ist nicht viel zu erwarten: Ihr Vater, ein ehemaligen Wrestling-Star, hat bisher hauptsächlich mit Abwesenheit gegläntz und ihre Mutter ist so desinteressiert und überfordert mit ihrem kleinen Enkel, dass man sich fragt, wie sie ihr eigenes Kind überhaupt zu einem halbwegs normalen Menschen hat heranziehen können.

Margo ist also mehr oder minder auf sich allein gestellt und so entsteht die Idee sich einen OnlyFans-Account anzulegen. Damit verdient sie gut, kann von zu Hause arbeiten und sich nebenbei um Baby Bodhi kümmern. Aber bringt der Account vielleicht mehr Probleme mit sich, als er löst?

Nach den ersten Seiten dachte ich: Oje, eine schwangere, komplett naive 19-Jährige, das kann ja heiter werden! Aber schon bald hat mich die Geschichte total in ihrem Bann gezogen und nicht mehr losgelassen! Margos Stärke, ihre Kreativität und die Entwicklung die sie im Laufe der Geschichte durchmacht, sind einfach toll zu lesen.

Rufi Thorpe zeichnet ein lebendiges Bild davon, welche Steine jungen Müttern in den Weg gelegt werden. Welche Vorurteile herrschen, wie machtlos man sich fühlt und wie man dafür verachtet wird, wenn man sich etwas Macht zurückholen möchte. Zusammen mit einem Wrestling-Vater, einer Cosplay-Mitbewohnerin und den nischigen Ecken von Social-Media kommen die ernsten Themen aber nicht zu harsch daher. Zwar möchte man teilweise ins Buch beißen vor lauter Ungerechtigkeit, es gibt aber auch witzige Stellen und manchmal ist es schlicht und einfach schön, beispielsweise wenn Margo ihrem Vater endlich näher kommt.

Wie schon Rufi Thorpes ersten Roman habe ich dieses Buch an einem Wochenende durchgesuchtet. Ich war so in Margos Schicksal involviert, dass nicht weiter zu lesen einfach keine Option war. Thorpe spielt dazu noch so geschickt mit einer Mischung aus Ich-Erzählerin und dritter Person, dass Margos Leben noch realer wirkt.

Wer eine ernste Geschichte mit Witz, Chaos und Wrestling lesen möchte, die einen in die seltsameren Ecken des Internets führt, dabei berührt und mitreißt, der ist hier genau richtig! Ich habe das Buch wirklich gerne gelsen und vermisse Margo und Co jetzt schon!

Bewertung vom 26.09.2024
Die Passagierin
Friedrich, Franz

Die Passagierin


sehr gut

Jahre nach ihrer Evakuierung zieht es Heather nach Kolchis zurück. Wie tausende andere ist sie via Zeitreise hierher gerettet worden. Im mittlerweile ziemlich heruntergekommenen Sanatorium hat sie ihre Teenagerjahre verbracht und seltsame Phantomerinnerungen aus dieser Zeit suchen sie heim. Eigentlich will sie sich mit ihrer eigenen Vergangenheit beschäftigen, aber die der anderen Rückkehrer nimmt ihre Aufmerksamkeit mindestens ebenso gefangen. Was ist es, das sie alle in Kolchis zu finden hoffen?

Ich mochte es, dass man sich hier erstmal irgendwie zurechtfinden muss. Was sind das für Leute auf die Heather trifft? Was hat es mit Kolchis und den verschiedenen Gebäuden des Sanatoriums auf sich? In welchem Jahr befinden wir uns überhaupt? Was waren das für Rettungsmissionen und warum gibt es sie aktuell nicht mehr? Nach und nach klärt sich all das, auch wenn es nicht Friedrichs Fokus ist, uns seine fiktive Zukunft in all ihren Details zu erklären. Hier und da gibt es eine Information aber lieber konzentriert er sich auf seine Figuren. Warum sind sie nach Kolchis zurückgekehrt und woher kommen sie ursprünglich? Aber auch hier wird mit vielen Worten oft gar nicht so viel gesagt. Die teils spleenigen Bewohner kreisen um sich selbst, hadern mit Details und haben sich in Kolchis ihre eigene kleine Welt geschaffen. Allerdings scheint sich heraus zu kristallisieren, dass Glück und Dankbarkeit der Geretteten stets mit einem kleinen „aber“ versehen sind – auch wenn niemand wirklich zurück will.

Besonders interessant ist natürlich Matthias. Der zurückhaltende und freundliche junge Mann kommt aus dem tiefsten Mittelalter. Einst ein Söldner in den Bauernkriegen, blick er nun absolut reflektiert auf seine Zeit zurück und wünscht sich, diese mit kleinen Erfindungen erträglicher machen zu können. Und obwohl Heather bei weitem nicht so einen langen Weg hinter sich hat, hat sie ihre Vergangenheit weit von sich geschoben. Und das obwohl sie selbst Rettungsmissionen geflogen ist und die Möglichkeit hatte einen Blick zu riskieren.

Friedrichs Idee ist stark: Was tust du, wenn du aus deiner Zeit in eine ferne Zukunft gerettet wirst, alles und alle zurücklässt und nun weißt, dass Eingriffe in der Vergangenheit möglich sind aber eben nur in Kleinen. Verzweifelst du an denen, die nicht gerettet werden konnten? Lässt es dich nicht los, dass man nichts gegen Kriege und Hunger in deiner Zeit tun kann? Dass du deine Familie zurückgelassen hast? Oder bist du einfach dankbar am Leben zu sein und für all die Errungenschaften, an denen du nun teilhaben kannst? Ich kann mir allerdings vorstellen, dass sie Umsetzung dieser Story nicht jedem gefällt. All diese Fragen werden wie nebenbei gestreift. All die Science-Fiction meist nur angedeutet. Es ist ruhig erzählt, es wird viel geredet und die Handlung ist erstaunlich sparsam und unspektakulär bei so einer Vorlage.

Mir hat der Roman trotzdem gut gefallen, weil ich die Stimmung mochte, die im verfallenen Kolchis herrscht. Weil ich es mag, nicht gleich alles zu verstehen und nur langsam dies und das herauszufinden. Und weil mir Friedrichs Sprache und Figuren gut gefallen haben. Wer also auf nachdenkliche dialoglastige Geschichten mit Sci-Fi-Touch steht, der sollte es hiermit durchaus einmal versuchen!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.09.2024
Das Wohlbefinden
Lenze, Ulla

Das Wohlbefinden


gut

Die Beelitzer Heilstätten sind etwas ganz Besonderes! Hier erholen sich um 1900 herum Arbeiterinnen und Arbeiter mit Liegekuren, Bädern und Sport von der Tuberkulose. Ein Heilmittel gibt es noch nicht, aber es dämmert die Erkenntnis, dass es auch wirtschaftlich sinnvoller ist, gesunde und erholte Mitarbeiter zu haben, als mehr und mehr Tuberkulosetote. Bei Arbeitszeiten von teils weit mehr als 60 Stunden in der Woche ist Erholung auch dringend nötig.

In ebenjenen Heilstätten trifft die Schriftstellerin Johanna Schellmann auf die Arbeiterin Anna, die durch alle möglichen mysteriösen Vorhersagen und Erscheinungen schon eine kleine Berühmtheit geworden ist. Ein Teil der Insassinnen verehrt sie, ein anderer Teil verteufelt sie. Die resolute Schellmann, die mit den gerade so en vougen spiritistischen Sitzungen eigentlich gar nichts anfangen kann, verfällt aber schnell Annas Charme. Aber was genau ist Annas Beitrag zum literarischen Durchbruch der Schellmann? Und was ist dran an Annas Hellsichtigkeit?

Ich mochte den Teil des Romans, der zwischen 1907 und 09 spielt, sehr gerne. Ulla Lenze zeichnet ein lebendiges Bild einer Zeit zwischen Aufklärung, alten Konventionen und spiritistischer Mode. Auch der Teil in den 60ern war interessant: Hier erleben wir eine einsame, zunehmend verwirrte und gänzlich irrelevant gewordene Schellmann, die aber offenbar noch mit etwas abschließen muss, was Anna und die damalige Zeit betrifft. Etwas sperrig hingegen kam der Teil daher, in dem wir die Enkelin Schellmanns während der Coronazeit begleiten. Die Tücken des Berliner Wohnungsmarktes kamen etwas aufgesetzt daher. Auch war die Enkelin in meinen Augen wenig sympathisch. Darin ähnelt sie zwar der Schellmann, aber deren Figur war doch weitaus vielschichtiger!

Leider hat mich der Roman mit der Zeit etwas verloren. Hintenraus kam trotz Wendung keine Spannung auf. Die Überraschung hat einfach nicht gezündet und die Hellsichtigkeit Annas wird schlicht irrelevant. Ich hatte das Gefühl, mit einem anderen Storytelling hätte man aus dieser Geschichte viel mehr herausholen können. Schade, ich hatte mir bei diesem spannenden Setting weit mehr erhofft!

Bewertung vom 26.09.2024
Heilung
Kaleyta, Timon Karl

Heilung


sehr gut

Schon lange kann er nicht mehr richtig schlafen. Selbst wenn er einnickt, bringt ihm das keinerlei Erholung. Seine Ehe leidet, er ist gereizt, ein normaler Alltag kaum möglich. Doch gesundheitlich scheint mit ihm alles in Ordnung zu sein. So führt ihn sein Weg schließlich ins San Vita. Das malerische Luxus-Sanatorium mit dem berühmten Leiter Prof. Trinkl verspricht Heilung, wo sonst keine möglich scheint. Doch wirklich öffnen kann er sich dem seltsamen Professor nicht. Dafür kommen alte Erinnerungen wieder hoch. Vielleicht können die ihm helfen?

Kaleyta schreibt sehr stimmungsvoll. Der kurze Roman wirkt bedeutungsschwer und irgendwie aufgeladen. Auch unangenehm wird es hin und wieder, beispielsweise, wenn Trinkl dem Mann wiederholt die Wange streichelt, dass alles kameraüberwacht zu sein scheint oder die Umtriebe von Trinkls seltsam wortkargen, einarmigen Gehilfen.

Aber auch, wenn ich die Bedenken der Hauptfigur Trinkl und seiner Situation gegenüber gut nachvollziehen kann; er kann einen verrückt machen mit seiner Mischung aus Ablehnung, Verdrängung, grundlegender Ziellosigkeit, Unsicherheit und plötzlicher Manie.

Kaleyta ist es wirklich gut gelungen, das Verschwimmen von Traum und Realität darzustellen. Aber auch die Suche nach Sinn im Leben, die Sehnsucht nach Natur und die Verwirklichung von Träumen stellt er gut dar. Was will ich? Wer bin ich? Und was tue ich, wen ich mich in mir getäuscht habe?

Für mich war Heilung ein gelungener Roman, wenn auch etwas irre. Durch den bedeutungsvoll aufgeladenen Ton hatte ich oft das Gefühl, mir entgeht etwas Grundlegendes. Aber auch wenn das so sein sollte: Ich hatte Spaß mit diesem Buch!

Bewertung vom 26.08.2024
Taumeln
Scherzant, Sina

Taumeln


sehr gut

Luisas ältere Schwester Hannah ist verschwunden. Das ist jetzt schon zwei Jahre her, aber Luisas Leben steht trotzdem noch auf dem Kopf. Jeden Samstag geht sie mit einer auf mittlerweile acht Teilnehmer dezimierten Gruppe auf Spurensuche im angrenzenden Wald. Kurz nach Hannahs Verschwinden waren es Hunderte die nach ihr suchten. Nun gibt es kaum noch Hoffnung, aber ganz loslassen kann Luisa noch nicht. Und auch die anderen Teilnehmer des kleinen Suchtrupps haben so ihre Gründe, warum sie noch mit Luisa durch den Wald ziehen.

Sina Scherzant erzählt diese Geschichte von Verschwinden und Verlorensein sehr ruhig und bedächtig. Man spürt die individuelle Trauer der Figuren, erfährt hier und da mehr Details aus ihrem Leben und verliert so trotz des gemäßigten Tempos nie die Lust weiterzulesen.

Ich fand die Einblicke in Franks und Inges Leben besonders gelungen. Auch der etwas sperrigen Luisa kommt man nach und nach näher. Wie sehr das Verschwinden der Schwester ihr komplettes Leben über den Haufen geworfen hat ist wirklich gut erzählt. Auch das kaum auszuhaltende Schweigen in ihrem Elternhaus, das Luisa so gerne verlassen wollte und nun nicht kann, trifft einen hart.

Ein wenig schade fand ich, dass man über drei der acht Personen des Suchtrupps so gut wie gar nichts erfährt. Dabei wäre durchaus Potential vorhanden gewesen. Aber vielleicht hätte das auch zu weit geführt. Jedenfalls habe ich mich beim lesen über jeden kleinen Schritt gefreut, den die Gruppe aufeinander zumacht. Da der Anlass der Treffen ja ein ziemlich trauriger ist, fällt es schwer locker und freundschaftlich miteinander umzugehen. Diesen Spagat zu beschreiben, ist Scherzant geglückt.

Taumeln ist ein ruhiger und trauriger Roman über Verlust und verschiedene Arten der Einsamkeit. Sehr realistisch und mit gelungenen Figuren. Mir hat er wirklich gut gefallen.

Bewertung vom 22.08.2024
Die schönste Version
Thomas, Ruth-Maria

Die schönste Version


ausgezeichnet

Jella und Yannick sind ein so schönes Paar. Endlich scheint Jella mit ihm jemanden gefunden zu haben, mit dem sich alles richtig anfühlt. Recht schnell ziehen die beiden zusammen, doch dann endet es mit Yannicks Händen an ihrem Hals und Jellas panischer Flucht aus der gemeinsamen Wohnung. Wie konnte es so weit kommen?

Ruth-Maria Thomas Debütroman ist die traurige Geschichte eines Mädchens, das nie gelernt hat für sich und seine Bedürfnisse offen einzustehen. Das mit dem Male Gaze großgeworden ist. Das stark und selbstbewusst wirkt, aber alles dem Willen der Männer unterordnet, weil man das ja so macht, wenn man cool und begehrenswert und beliebt sein will. Es liest sich so tragisch, aber es war auch so normal für diese Zeit.

Wie Jella war auch ich Teenager in den frühen Nullerjahren und ich kann so viel von dem, was Ruth-Maria Thomas beschreibt so gut nachvollziehen! Schön musste Frau sein, aber nicht zu sexy. Schlank und klug und sexuell verfügbar aber bitte im Alltag nicht zu vulgär, es will ja niemand eine „Assibraut“. Trinken musste man, weil das cool war und „richtige Arbeit“ war etwas, das die Männer machen, nicht etwa Studium oder Haushalt. Wie Thomas all diese Dinge ganz natürlich in ihrer Geschichte unterbringt war großartig! Ein Flashback der unangenehmen Art, aber nötig.

Wie sich die ersten kleinen Risse auftun in der Beziehung von Jella und Yannick ist grandios beschrieben. Ich war so wütend auf Yannick und habe Jellas Verzweiflung und Wut so gut verstehen können! Nein, auch Jella ist nicht perfekt, aber es ist so verflucht gut beschrieben, warum das so ist. Thomas schreibt sehr berührend, realistisch, ein bisschen rotzig manchmal aber es passt einfach.

Die schönste Version ist ein trauriger, berührender, dreckiger, ehrlicher Roman, der die Sozialisation der Frau um die Jahrtausendwende auf den Punkt bringt. Ganz großes Kino, dem ich so viele Leser wir möglich wünsche!

Bewertung vom 22.08.2024
Do Re Mi Fa So
Melzer, Tine

Do Re Mi Fa So


gut

Sebastian Saum geht es gut. Er ist erfolgreich als Opernsänger, mit seinem besten Freund Franz teilt er sich das geerbte Elternhaus auf dem Land. Aber direkt nach der Überraschungsparty zu seinem 40 Geburtstag steigt Saum in die Badewanne und kommt nicht mehr heraus. Nackt sinniert er über sein Leben, leidet zunehmend unter Verspannungen wegen des Schlafens in der Badewanne und verpasst die Proben für seine bisher größte Rolle. Franz versorgt ihm mit Essen, doch der Freund ist zunehmend überfordert mit der Situation. Und Saum? Der schafft es einfach nicht raus aus dem kleinen Badezimmer.

Die Idee dieses Romans ist wunderbar skurril. Ein Opernsänger in der Badewanne. Aber das ist tatsächlich auch schon der gesamte Plot. Saums Gedanken zu seiner Vergangenheit, seiner Situation, seinen Wünschen, Freundschaft und der Sinnhaftigkeit seines Lebens sind teils wundervoll formuliert. Man muss genau lesen, es ist ein langsames Buch das sich nicht zum mal eben wegschmöckern eignet.

"Aber Freiwilligkeit ist das Gegenteil von Geborenwerden." - Seite 27

Ich mochte Saums imaginären Kleiderschrank, all die Stoffe, die ihn durch sein Leben begleitet haben. Das Essen, das Franz ihm vorsetzt lässt einem beim Lesen manchmal das Wasser im Munde zusammenlaufen. Die Freundschaft der beiden klingt wunderbar unkompliziert und wertschätzend. Auch wenn Saum darüber nachdenkt, was er tun will, wen er treffen möchte, wenn er aus der Badewanne herauskommt, das war sehr schön zu lesen. Man wünscht ihm immer dringender, dass er es doch tun soll, aber der letzte Funke zum Aufbruch fehlt.

"Duschen ist allgemein beliebter als Baden, da es zeitsparender ist. [...] Allein die Vorbereitung eines Vollbades kann bis zu zwanzig Minuten in Anspruch nehmen, steht da. Die Vorbereitung zu meinem Bad hat Jahre gedauert." - Seite 39

Saum zweifelt ruhig und beschaulich, denn er kann es sich leisten. In seinem Leben gab es keine größeren Dramen. Nur hier und da eine kleine Andeutung, die aber offenbar keine größeren Wunden hinterlassen hat. Ich fand den Roman stellenweise sehr schön. Tine Melzer hat viele gute Gedanken in dieser Geschichte untergebracht. Aber mir trat es letztlich dann doch ein wenig zu sehr auf der Stelle. Es fehlte ein bisschen der Wow-Effekt abseits der Ausgangssituation. Wer einen ruhigen, klugen Roman mit speziellem Setting lesen möchte, der ist hier aber durchaus richtig!

Bewertung vom 13.08.2024
Schlaglicht
Bullwinkel, Rita

Schlaglicht


ausgezeichnet

Acht junge Boxerinnen treffen beim Daughters of America Cup in Reno, Nevada aufeinander. Sie sind zwischen 15 und 17, manche sind ganz allein gekommen, andere mit Familienmitgliedern. Sie haben wenig gemeinsam, aber sie alle wollen gewinnen. Die eine um ihren Schwestern in nichts nachzustehen, die andere um zu vergessen. Die eine aus Perfektionismus, die andere weil sie das Chaos liebt.
Und genauso präziese wie die Schläge der Mädchen im Ring, beschreibt Rita Bullwinkel das schäbige Gym in Reno, das spärliche Publikum und natürlich die Kämpferinnen selbst.

"Wenn man den Turnierbaum des Daughters of America Cups im Uhrzeigersinn dreht, sieht er aus wie ein Familienstammbaum. Und Andy Taylor wäre Kate Heffers Schwester, durch Heirat oder Blut." - Seite 117

Ich liebe dieses Buch! Ich liebe wie die figuren charakterisiert sind. Ich liebe wie erzählt wird: Stimmungsvoll, hart aber auch zärtlich, ohne ein Wort zu viel. Ich liebe jede Figur. Die Traurigkeit, die Willensstärke, die Anpassungsfähigkeit, die Verrücktheit der Mädchen. Ich liebe, wie das Licht im Gym beschrieben wird, das Desinteresse der Judges, wie spannend die Kämpfe sind, obwohl manchmal gar nicht viel davon beschrieben wird.

"Rose Mueller verlässt den Ring, als würde sie die Linie vom Sandstrand zum Wasser überqueren." - Seite 131

Die klare zauberhafte Sprach zusammen mit den Geschichten der Mädchen ergab eine Mischung, die mich total in ihren Bann gezogen hat. Ich wollte das Buch gar nicht mehr weglegen. Für mich ein absoluter Volltreffer (pun intendet)!