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hamburger.lesemaus
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Bargfeld-Stegen

Bewertungen

Insgesamt 454 Bewertungen
Bewertung vom 23.07.2025
Himmel ohne Ende
Engelmann, Julia

Himmel ohne Ende


ausgezeichnet

HIMMEL OHNE ENDE
Julia Engelmann

Die 15-jährige Charlotte, von allen nur „Charly“ genannt, fühlt sich nicht wohl in ihrem Körper, der noch kein Erwachsener ist und kindlich nie wieder sein wird.
Sie ist zwischen den Welten gefangen, unsicher und suchend.

Ihre beste Freundin Kati hat sich von ihr abgewandt und ghostet sie.
Und obwohl es wehtut, bringt Charly irgendwie Verständnis dafür auf. Denn ihr fehlen oft die Worte – nicht, weil sie keine hätte, im Gegenteil – Ihr Kopf ist voller Gedanken. Aber sie kommen ihr einfach nicht über die Lippen. Nicht bei Kati. Nicht bei anderen. Und auch nicht bei ihrer Mutter.

Immer öfter fragt sie sich, ob sie auch ein Feigling ist – wie ihr Vater, der einfach gegangen ist und den sie trotz allem schmerzlich vermisst.

„[…] Ich fühlte mich steckengeblieben zwischen der, die ich war, und der, die ich nicht schaffte zu werden.“ (S. 64)

Gerade als Charly überlegt, ob Weglaufen eine Lösung wäre, taucht ein neuer Schüler auf: Kornelius. Zum ersten Mal ist da jemand, der sie sieht. Der sie versteht. Der für sie einsteht.
Doch ob diese Freundschaft hält, oder ob Kornelius nur eine kurzzeitige, leuchtende Sonne am Himmel für sie ist, müsst ihr unbedingt selbst herausfinden.

Was für ein berührendes Buch!
In der ersten Hälfte saß eine Träne wie ein stiller Dauergast in meinem Augenwinkel.
Das Buch hat mich tief bewegt – und mich in meine eigene Jugend zurückgeworfen.
Manche Sätze musste ich zweimal lesen, nicht, weil ich sie nicht verstanden hätte, sondern weil sie einfach so schön waren.

Julia Engelmann ist eine Wortkünstlerin.
Das wissen spätestens die 14 Millionen Menschen, die seit 2014 ihr Poetry-Slam-Video „Eines Tages, Baby“ gesehen haben.

Das Ende des Buches ist stark, feinfühlig und kommt ganz ohne Kitsch aus.
Es bleibt keine Frage offen – außer vielleicht: Wann wirst du dieses Buch lesen?


Fazit:
Julia Engelmann jongliert so gekonnt mit Wörtern, wie ich es nie könnte – also lest das Buch unbedingt.
Große Leseempfehlung! Highlight!
5+/5

Bewertung vom 22.07.2025
Schattengrünes Tal
Hauff, Kristina

Schattengrünes Tal


ausgezeichnet

SCHATTENGRÜNES TAL
Kristina Hauff

Lisa lebt mit ihrem Mann im Schwarzwald. Es ist ein neues Gefühl für sie, mit ihm allein zu sein – ohne die Tochter, die sich für ein Jahr im Ausland befindet.
Sie leben fast ein wenig aneinander vorbei. Er ist wortkarg und zieht sich oft in seinen Wald zurück, wo er als Förster arbeitet.
Lisa hingegen lenkt sich mit ihren vielen kleinen Jobs ab. Sie führt die Buchhaltung im Hotel ihres Vaters, singt im Chor und engagiert sich ehrenamtlich in einem Hospiz.

Eines Tages taucht plötzlich eine Frau als Gast im Hotel auf. Sie wirkt verloren und etwas hilflos. Lisa nimmt sich ihrer an und befreundet sich mit ihr.

Schon bald erfährt sie, dass jene Frau – Daniela – frisch getrennt ist, weshalb diese ihre Wohnung verlor und zudem auch noch ihren Job kündigte. Nun hofft sie auf einen Neuanfang im Schwarzwald.
Daniela findet schnell Anschluss in der Gemeinde. Sie begleitet Lisa zu den Chorproben und Lisas Freunde werden rasch zu ihren. Doch plötzlich bemerkt Lisa, dass sich enge Freunde von ihr abwenden. Als schließlich auch ihr Mann zunehmend in Danielas Bann gerät, ahnt Lisa, dass ihre Welt ins Wanken gerät.

Was für ein großartiger Psychothriller! Schon ab der ersten Seite war ich völlig gefesselt. Ich habe mit der Protagonistin Lisa mitgelitten, mitgefühlt und konnte mich sehr gut in sie hineinversetzen.
Besonders gut gefiel mir der Aufbau des Romans: In kurzen, wechselnden Kapiteln kommen verschiedene Figuren zu Wort. Manche Ereignisse werden aus mehreren Perspektiven geschildert – das verleiht der Geschichte eine enorme Intensität.

Erschütternd fand ich, wie leicht Menschen manipulierbar sind und ersetzt werden können – unterstützt durch moderne Technik.

Auch wenn ich das Buch insgesamt großartig fand, gab es einen kleinen Kritikpunkt: Das letzte Drittel wirkte für mich etwas zu schnell erzählt und zwei Details erschienen mir unlogisch (leider kann ich nicht näher darauf eingehen, ohne zu spoilern). Außerdem blieb ein Satz von Margret ungelöst – Jammern auf hohem Niveau. ;)

Fazit:
Ein spannender, fesselnder Roman, den man nicht aus der Hand legen kann. Ganz große Leseempfehlung!
5/5

Bewertung vom 21.07.2025
Die Ferien
Wang, Weike

Die Ferien


sehr gut

DIE FERIEN
Weike Wang

Keru, eine Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln, lernt Nate während ihrer Collegezeit kennen.

Ihre Eltern waren einst mit ihr vom chinesischen Festland in die USA emigriert – mit dem Ziel, ihrer Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen.
Sie verzichteten auf persönliche Wünsche und Annehmlichkeiten, um Keru ein konzentriertes Studium zu ermöglichen.
Freude oder Leichtigkeit hatten in diesem Lebensentwurf keinen Platz.

Nate stammt aus einfachen Verhältnissen.
Trotz Stipendium muss er einen Studienkredit aufnehmen und nebenbei arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.
Erst nachdem der Kredit beglichen ist, stimmen Kerus Eltern einer Heirat zu – ein Ausdruck ihres Strebens nach Sicherheit und Stabilität.

Heute ist Keru als Unternehmensberaterin beruflich sehr erfolgreich, während Nate verbeamtet an einer Universität arbeitet und ein deutlich geringeres Einkommen erzielt.
Gemeinsam mit ihrem Hund führen sie ein erfülltes Leben – Kinder waren nie Teil ihrer gemeinsamen Lebensplanung, und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Für einen vierwöchigen Aufenthalt mieten sie ein Ferienhaus auf Cape Cod und laden zunächst Kerus Eltern, später auch Nates Eltern zu Besuch ein.
Die kulturellen und persönlichen Unterschiede könnten größer kaum sein:
Kerus Eltern zeigen sich ängstlich, tragen aus Angst vor Ansteckung mehrere Masken übereinander und interessieren sich fast ausschließlich für Essen und Fernsehen.
Aktivitäten außerhalb des Hauses lehnen sie ab.
Nates Eltern dagegen wirken betont unkompliziert, neigen politisch zu konservativen Haltungen, sind Trump-Anhänger, Corona-Leugner – und zufrieden mit einem Dosenbier beim Grillen.

In einem Punkt aber sind sich beide Elternpaare erstaunlich einig:
Ihrer Meinung nach ist es höchste Zeit für Enkelkinder.
Diese Erwartungshaltung sorgt jedoch für erhebliche Spannungen.

Auch wenn mir der Zugang zu den beiden Hauptfiguren mitunter schwerfiel, hat mich vieles an diesem Roman überzeugt.
Besonders die Darstellung der asiatischen Eltern ist bemerkenswert gelungen.
Ich lebe seit fast 30 Jahren in Asien – und ja, dieses Verhalten entspricht in vielerlei Hinsicht meiner Beobachtung:
das Tragen mehrerer Masken alleine sitzend im eigenen Auto,
der völlige Verzicht auf persönliche Wünsche zugunsten des einzigen Kindes, das als Investition und Altersvorsorge gilt.

Dass Keru sich bewusst gegen Kinder entscheidet, ist aus Sicht ihrer Eltern ein regelrechtes Scheitern – und das, obwohl es sich „um die erste Generation in Amerika Geborener“ handeln würde.

Besonders eindrucksvoll fand ich auch die schonungslose Darstellung des gesellschaftlichen Drucks, mit dem kinderlose Paare konfrontiert sind.
Die Authentizität dieser Passagen hat mich überzeugt.

Einige Stellen im Buch blieben für mich jedoch unklar;
ich war mir nicht sicher, welche Intention die Autorin an diesen Punkten verfolgte.

Fazit:
Ein kluger, gesellschaftskritischer Roman – stellenweise bewusst überspitzt, aber durchgehend interessant und lesenswert.
4/5

Bewertung vom 13.07.2025
Die Unbehausten
Kingsolver, Barbara

Die Unbehausten


gut

DIE UNBEHAUSTEN
Barbara Kingsolver

Dieses Buch ist ein früherer Roman von Barbara Kingsolver, der im Original bereits 2018 erschienen ist. Nach dem überwältigenden Erfolg von Demon Copperhead wurde er nun ins Deutsche übersetzt.

1870:
Thatcher Greenwood ist Naturkundelehrer mit Leidenschaft – und ein überzeugter Anhänger von Darwins Evolutionslehre. Doch an seiner Schule sind moderne Gedanken unerwünscht. Der Rektor verbietet Experimente und lehnt jede Form wissenschaftlichen Fortschritts ab. Thatcher steht kurz vor der Kündigung.
Auch privat steckt er fest: Die Ehe mit seiner Frau Rose ist lieblos, das Haus, in dem sie mit deren Mutter und Schwester wohnen, verrottet zusehends. Als einziger Verdiener droht ihm alles über dem Kopf zusammenzubrechen.
Nur bei seiner Nachbarin, der Biologin Mary Treat, findet er Verständnis und intellektuelle Verbundenheit.

2020:
Die Journalistin Willa und ihr Mann Iano, Politikwissenschaftler, rutschen in eine handfeste Krise. Nachdem Iano seine feste Stelle verliert und das gemeinsame Haus dadurch praktisch wertlos ist, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als in ein geerbtes, einsturzgefährdetes Haus zu ziehen.
Dort leben sie mit dem pflegebedürftigen Schwiegervater – ohne Krankenversicherung, mit Schulden und ohne Perspektive.
Als sich die Freundin ihres Sohnes das Leben nimmt, ziehen auch Sohn und Enkelkind bei ihnen ein. Und als wäre das nicht genug, steht plötzlich auch die rebellische Tochter wieder vor der Tür.

Wie diese beiden Zeitebenen miteinander verknüpft sind, müsst ihr selbst herausfinden.

Barbara Kingsolver legt den Finger auf viele wunde Punkte des amerikanischen Gesellschaftssystems: prekäre Arbeitsverhältnisse, Bildungsungleichheit, fehlende Absicherung sowie mangelndes Gesundheitswesen.
Und doch hat mich der Roman emotional nicht erreicht.
Die Themen sind wichtig, der Stil präzise – aber die Figuren und ihre Geschichten blieben für mich seltsam distanziert.

Die Handlung in der Gegenwart hat mir insgesamt besser gefallen als die im Jahr 1870.
Und doch war es gerade die Ausdrucksweise und das höfliche, beinahe altmodisch-gentlemanhafte Auftreten von Thatcher, das mich beeindruckt hat.
Insgesamt zog sich das Buch für mich aber über weite Strecken – 200 Seiten weniger hätten der Erzählung gutgetan.

Nach Demon Copperhead, einem Buch, das mich tief beeindruckt hat, konnte mich dieses Werk leider nicht überzeugen. Dennoch bleibt Kingsolver für mich eine Autorin, die ich weiterhin lesen möchte.

Fazit:
Relevant und sprachlich solide – aber ohne emotionale Tiefe.
3½/5

Ein interessanter Aspekt am Rande: Die Figur der Mary Treat basiert auf einer realen Person – Kingsolver verknüpft hier geschickt historische Biografie mit Fiktion.

Bewertung vom 10.07.2025
WIR KOMMEN ZURECHT (MP3-Download)
Büsing, Annika

WIR KOMMEN ZURECHT (MP3-Download)


sehr gut

WIR KOMMEN ZURECHT
Annika Büsing

Philipp steht kurz vor dem Abitur. Er ist still, angepasst – einer, der früh gelernt hat, sich zusammenzureißen.
Zuhause läuft alles gut. Zumindest glaubt er das. Und sagt es jedem, der es hören will.
Sein Vater, Chirurg von Beruf, ist eher wortkarg und selten da. Gefühle zeigt er keine – aber er kocht hervorragend. Die neue Partnerin seines Vaters ist okay. Zu jung, um als Ersatzmutter durchzugehen, aber sie macht keinen Stress. Und vor allem: Keine Bauchschmerzen. Die hatte er früher regelmäßig mit seiner Mutter Astrid.
Astrid, die immer wieder in ihren Kaninchenlöchern verschwand. Dann plötzlich wieder auftauchte, für Spaß sorgte, wilde Dinge tat – bis sie sich erneut zurückzog.
Bis sie irgendwann, nach einem Sizilienurlaub, ganz verschwand.

Man kann wohl sagen, dass Astrid ihn geprägt hat. Vielleicht nicht so, wie es eine verlässliche, liebevolle Mutter getan hätte – aber er kommt zurecht.

Annika Büsings neuer Roman erzählt von einem Jugendlichen, dessen Mutter psychisch erkrankt ist. Und davon, wie man weiterlebt – mit Unsicherheit, mit Lücken, mit leisen Schmerzen.
An Philipps Seite: sein bester Freund Lorenz, dessen Mutter – und ein paar Joints, die sie auf dem Friedhof rauchen.

Mir hat der Einblick in Philipps Leben sehr gefallen. Ein sympathischer, glaubwürdiger Protagonist, der einem nah kommt, ohne sich aufzudrängen. Büsings Sprache ist wie gewohnt klar, ruhig und eindringlich.
Ein stiller, unaufgeregter Roman, den ich gerne gelesen und gehört habe. Die Stimme von Shenja Lacher passt wunderbar – ruhig, warm, genau richtig für diesen Text.


Ich empfehle euch dieses Buch bzw. Hörbuch gerne weiter.
4/5

Bewertung vom 08.07.2025
Perlen
Hughes, Siân

Perlen


sehr gut

PERLEN
Siân Hughes

TW: Selbstverletzung, Magersucht

Claire Hughes erzählt in ihrem Roman die Geschichte von Marianne, die im Alter von acht Jahren einen tiefen Verlust erleidet: Ihre Mutter verlässt eines Morgens barfuß das Haus – und kehrt nie zurück. Sie hinterlässt ihren Ehemann Edward, die kleine Tochter Marianne und den gerade erst geborenen Sohn Joe. Fußspuren führen zum nahegelegenen Fluss, doch die Spurensicherung erfolgt nachlässig, die Fotos sind unscharf, und schon am nächsten Tag haben Rinder das Gelände zertrampelt. Die Leiche wird nie gefunden. Ob es sich um einen Suizid handelte oder um ein gewolltes Verschwinden, bleibt für immer ungewiss.
Fortan ist der Vater allein mit den Kindern. Edward ist ein liebevoller, sanfter Mann – doch gezwungen, sich vor allem um das Baby zu kümmern, gerät Marianne zunehmend aus dem Blick. Sie bleibt sich selbst überlassen, schwänzt die Schule, zieht sich zurück und klammert sich an Erinnerungsstücke, Gedichte und Dinge, die sie mit ihrer Mutter verbindet. Als die Familie in ein neues Haus zieht, empfindet Marianne dies als endgültigen Bruch mit der Vergangenheit – als ob auch das letzte Band zur Mutter gekappt wurde.

„Unsere Welt beschränkte sich jetzt auf die Grenzen des neuen Hauses, und ich verkroch mich unter die Bettdecke in meinem falsch riechenden Zimmer, versteckte die falsche Aussicht vor dem Fenster hinter den Vorhängen und bemühte mich, das Essen und das Schlafen und die Gesundheit neu zu lernen. Von allem, was ich nach dem Verschwinden meiner Mutter neu zu lernen hatte, waren diese Dinge sicherlich die schwierigsten.“ (S. 143)

Jahre später, Marianne ist inzwischen 30 und selbst Mutter geworden, holen sie die Erinnerungen wieder ein. Es wird deutlich: Das Trauma aus ihrer Kindheit ist nie verheilt, sondern lebt in ihr weiter – oft unsichtbar, aber stets wirksam.

„Man sollte meinen, ich wäre längst an all das gewöhnt, an die Erinnerungen, die auftauchen, als würde ich immer wieder an derselben Stelle graben, immer wieder die gleichen Tonscherben herauspicken und überall nach Hinweisen suchen." (S. 252)

Claire Hughes ist ein eindringlicher Roman gelungen, der in leiser, poetischer Sprache von Verlust, Erinnerungen und dem langen Schatten ungelöster Trauer erzählt. Die Figuren sind vielschichtig gezeichnet, und die innere Not der Protagonistin wird glaubwürdig und berührend vermittelt.
Ein Buch, das leise daherkommt – aber lange nachhallt.
4/5

Bewertung vom 03.07.2025
Ungebetene Gäste
Gundar-Goshen, Ayelet

Ungebetene Gäste


ausgezeichnet

UNGEBETENE GÄSTE
Ayelet Gundar-Goshen


Naomi und Juval leben mit ihrem eineinhalbjährigen Sohn Uri in einem Hochhaus in Tel Aviv.
Während Juval arbeitet, kümmert sich Naomi um das Kind. Sie ist eine ängstliche Mutter, stillt Uri noch immer – sehr zum Unmut ihres Mannes – und nutzt jede Gelegenheit, ihn hochzunehmen, zu trösten oder zu stillen.

Eines Tages führt ein arabischer Arbeiter Reparaturen am Balkon durch. Naomi begegnet ihm mit Misstrauen und fragt sich, wie ihr Mann es zulassen konnte, dass sie und Uri mit einem Araber allein sind.

Naomi beobachtet den Arbeiter nervös, bietet ihm Kaffee und Plätzchen an – doch Uri, der ihre ungeteilte Aufmerksamkeit gewohnt ist, beginnt zu quengeln.
Dann passiert es: Ein Moment der Unachtsamkeit.
Uri greift nach dem Hammer, den der Arbeiter liegen gelassen hat, und wirft ihn vom Balkon. Der Hammer trifft nicht den Boden, sondern tötet einen Jugendlichen – den Sohn des Kaufmanns gegenüber, der eigentlich in der Schule hätte sein sollen.

Unter dem Balkon bildet sich schnell eine Menschenmenge. Der Verdacht fällt nicht auf Naomi oder Uri, sondern auf den arabischen Arbeiter.
Als die Polizei eintrifft, könnte Naomi die Wahrheit sagen – doch sie schweigt. Der Arbeiter wird festgenommen und kommt in Untersuchungshaft.

Die Lage spitzt sich weiter zu, als der Sohn des Arbeiters nach seinem Vater sucht. Der Mob vermutet sofort einen weiteren Anschlag.
Wie das Drama weitergeht – und ob Naomi den Mut findet, die Wahrheit zu sagen – solltet ihr selbst lesen.

Ich habe bereits Gundar-Goshens Vorgänger "Wo der Wolf lauert" mit großer Begeisterung gelesen – und auch ihr neues Buch steht dem in nichts nach.
Die Autorin hat ein vielschichtiges, politisches Psychodrama geschrieben, ganz ohne erhobenen Zeigefinger oder moralische Belehrung.

Ich durfte das Buch lesen und hören – und wie schon beim letzten Hörbuch hat mich die Stimme von Milena Karas vollkommen in ihren Bann gezogen.

Fazit:
Ein spannendes, hochbrisantes Psychodrama, das ich euch unbedingt empfehlen möchte.
4½|5

Bewertung vom 30.06.2025
Nacht über Soho
Atkinson, Kate

Nacht über Soho


sehr gut

NACHT ÜBER SOHO
Kate Atkinson

London in den 1920er Jahren:
Nellie Coker, auch bekannt als die Königin von Soho, ist die Inhaberin der berühmtesten Nachtclubs der Stadt. Mit allen Tricks und Mitteln sorgt sie dafür, dass trotz strenger Schankgesetze die Polizei außen vor bleibt. Ihren prominenten Gästen – Richter, Kronanwälte und andere einflussreiche Persönlichkeiten – liest sie jeden Wunsch von den Lippen ab. Es ist eine Zeit, in der man die Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs und der Spanischen Grippe vergessen will – eine schillernde, glitzernde Welt, in der das Vergnügen im Vordergrund steht. Doch zugleich ist es auch eine Zeit von Korruption und Bandenkriegen. Und mittendrin: Nellie, deren Imperium mehr und mehr ins Wanken gerät.

Inspektor Frobisher ermittelt in einer Serie grausamer Verbrechen: Immer wieder werden junge Frauen tot aus der Themse gezogen. Ihre Identitäten bleiben meist im Dunkeln, doch vieles deutet darauf hin, dass sie aus dem Milieu der Nachtclubs stammen – möglicherweise Tänzerinnen aus Nellies Etablissements.

Doch das ist nur ein Teil dieses vielschichtigen Romans. Denn Kate Atkinson stellt uns eine Fülle weiterer Figuren vor: Nellies sechs Kinder, Freda und ihre beste Freundin Florence, die von York nach London durchbrennen, um in Soho ihr Glück zu suchen, oder die sympathische Gwendolyn, die als Geschäftsführerin in Nellies Clubs eine entscheidende Rolle spielt. Alle erzählen ihre Geschichten aus unterschiedlichen Perspektiven und auf verschiedenen Zeitebenen – und genau das ergibt ein dichtes, atmosphärisch starkes Bild einer Welt voller Glanz, Gefahr und Geheimnisse.

Ich habe damals „Familienalbum" von Kate Atkinson sehr gemocht und wollte unbedingt noch ein weiteres Werk von ihr lesen. Auch in diesem Roman ist ihr Stil wieder etwas ganz Besonderes: detailreich, fein beobachtet und mit subtilem Humor. Ich hatte das Gefühl, selbst Gast in einem ihrer Clubs zu sein. In der ersten Hälfte nimmt sich die Autorin viel Zeit, um die zahlreichen Figuren einzuführen – das war einerseits hilfreich, wirkte aber stellenweise auch etwas langatmig. Gerade als ich überlegte, ob ich das Buch vielleicht doch zur Seite legen sollte, nahm die Handlung plötzlich Fahrt auf – und ich konnte kaum noch aufhören zu lesen.

Fazit:
Ein Roman mit kleinen Längen zu Beginn, aber brillant konstruiert und später unglaublich spannend. Ich mochte ihn sehr – eine klare Leseempfehlung!
4/5

Bewertung vom 25.06.2025
Psychopompos
Nothomb, Amélie

Psychopompos


gut

PSYCHOPOMPOS
Amélie Nothomb

Amélies Kindheit ist geprägt von ihrem Vater, der als Botschafter oder Konsul Belgien in verschiedenen Ländern vertritt. Die Familie lebt überwiegend in Südostasien. In Bangladesch widerfährt der jungen Amélie ein traumatisches Erlebnis, das ihr ganzes Leben verändert.

War sie zuvor ein wissbegieriges Mädchen, das sich für Vögel interessierte und jede Sportart ausprobieren wollte, zieht sie sich nun zurück. Die jugendliche Amélie verbringt ihre Zeit am liebsten zuhause, lernt Sprachen, verweigert das Essen und versenkt sich in griechische Mythologie.

Nach dem Tod ihres Vaters tritt er erneut in ihr Leben – als Psychopompos, als Seelenführer. In einer Art innerem Dialog hält sie Zwiesprache mit ihm und durchlebt dabei Erinnerungen, Mythen und metaphysische Gedankenwelten.

Das Buch lässt mich zwiegespalten zurück. In Wellen konnte es mich begeistern und fesseln. Doch jedes Mal, wenn ich dachte, den roten Faden gefunden zu haben, schien er sich wieder aufzulösen. War es eine Hommage an den Vater? Ein Einblick in Amélies philosophische Welt, verknüpft mit griechischen Göttern und übernatürlichen Gesprächen mit Toten? Ich weiß es nicht genau. Vielleicht müsste ich es ein zweites Mal lesen, um tiefer zu verstehen – oder ich warte einfach auf ihr nächstes Buch.

Fazit:
Trotz des wunderbar poetischen Schreibstils konnte mich dieses Werk emotional nicht erreichen. Vielleicht spricht es eher Leser an, die sich der transzendentalen Ebene stärker verbunden fühlen.
3/5

Bewertung vom 23.06.2025
Mein magisches Museum und Vincent van Gogh
Funck, Anne

Mein magisches Museum und Vincent van Gogh


ausgezeichnet

DAS MAGISCHE MUSEUM UND VINCENT VAN GOGH
Anne Funck
Illustration: Daniel Sulzberg

Professor Emilio Dell’Arte steht kurz vor der Eröffnung seiner neuen Ausstellung – doch etwas stimmt nicht. Die Gemälde sehen plötzlich ganz anders aus!
Vincent van Gogh trägt auf seinem Selbstporträt auf einmal schwarze Haare statt rote, sein Hemd ist rot statt blau. Was ist da passiert? Die Farben auf Vincents Palette haben sich selbstständig gemacht! Sie wirbeln durcheinander, purzeln durchs Bild und mischen sich wild neu – Farbwichtel in Aktion!
Um das magische Chaos zu bändigen, bleibt dem Professor nur eine Möglichkeit: Er muss alles über Vincent van Gogh erfahren.

Der Leser taucht ein in das Leben des berühmten Malers: Vincent wurde 1853 geboren, hatte fünf jüngere Geschwister und eine besonders enge Beziehung zu seinem Bruder Theo, der ihn zeitlebens unterstützte – auch finanziell. Obwohl Vincent zu Lebzeiten nur ein einziges Bild verkaufte, glaubte Theo unerschütterlich an sein Talent.
Die frühen Werke Van Goghs zeigen das einfache Leben der Bauern – ganz anders als seine späteren, farbenfrohen Meisterwerke.
Kennst du die „Kartoffelesser“? Oder Vincents berühmte Sonnenblumen? Wenn nicht, wird es höchste Zeit!

Dieses wunderbar illustrierte Buch bietet nicht nur einen spannenden Einblick in das Leben Van Goghs, sondern ist auch ein kreatives Mitmachbuch:
Kinder (und Erwachsene) lernen, wie man Erdfarben selbst herstellt, wie Farben gemischt werden und sogar, wie man ein Selbstporträt anfertigt.

Ich verspreche: Dein Kind (oder Enkelkind) wird nicht nur viel über Kunst lernen, sondern auch selbst kreativ werden wollen. Und du vielleicht auch!
Also – nichts wie ab in die Buchhandlung deines Vertrauens!

Ein zauberhaftes, informatives und interaktives Kunstbuch für kleine und große Leser.
4½/5