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Benutzername: 
Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 182 Bewertungen
Bewertung vom 16.01.2025
Ginsterburg
Frank, Arno

Ginsterburg


ausgezeichnet

Ginsterburg, 1935: Der 13-jährige Lothar findet einfach keine Verbindung zu den anderen Jungen seines Alters. Zu den gutbürgerlichen Chorknaben passt er wegen seiner Herkunft nicht so recht, und die Nachbarjungen der Hitler-Jugend sind ihm viel zu grob. Immerhin erfährt er zuhause eine liebevolle Erziehung durch seine Mutter Merle. Währenddessen träumt Redakteur Eugen davon, endlich einmal wieder einen Artikel im "Ginsterburger Anzeiger" zu veröffentlichen, der über die ständigen Vorgaben der Partei hinausgeht. Ganz anders Blumenhändler Otto. Der hat sich nämlich dank der Partei regelrecht hochgearbeitet. Bürgermeister und Kreisleiter ist er mittlerweile. Sie alle sind eigentlich ganz durchschnittliche Bewohner von Ginsterburg. Einige profitieren, andere verlieren. So ist das halt in Ginsterburg. Dann beginnt der Krieg. Einige zieht es an die Front, anderen geht die Frau verloren. Einige sterben für den Führer. So ist das halt in Ginsterburg. Nur gut, dass die Stadt so langweilig ist, so einschläfernd und zermürbend, dass der Feind sie ohnehin nicht auf dem Zettel hat. Was soll den Ginsterburgern schon passieren? Also geht das Leben weiter. So ist das halt in Ginsterburg.

"Ginsterburg" ist der neue Roman von Arno Frank, der bei Klett-Cotta erscheint. Nach den beiden bitter-melancholischen und dennoch komischen Vorgängern "So, und jetzt kommst du" und "Seemann vom Siebener" wagt der Autor damit etwas ganz Neues. Denn "Ginsterburg" ist eine im Grundton sehr ernste Mischung aus Gesellschaftsporträt und Historischem Roman. Auf 430 großformatigen Seiten entfaltet der Roman eine immense Wucht, eine von Beginn an spürbare leichte Bedrohung, die die Leserinnen im Hintergrund stets anzufunkeln scheint.

Aufgebaut ist der Roman in die drei großen Abschnitte 1935, 1940 und 1945, wobei das Ensemble größtenteils identisch ist. Eine klassische Hauptfigur gibt es nicht, das Zentrum allen Handelns ist Ginsterburg, diese fiktive Kleinstadt, die man am ehesten vielleicht irgendwo Richtung Ostwestfalen oder Sauerland verorten würde. Die Anzahl der Charaktere ist immens groß, den Rahmen geben die drei Familien um Lothar, Eugen und Otto vor. Arno Frank erzählt von ihnen so filmisch, dass es eigentlich nur eine Frage der Zeit sein kann, bis es eine dazugehörige Serie gibt. Natürlich mit Peter Kurth als Otto, Trystan Pütter als Eugen und Louis Hofmann als erwachsenem Lothar. Man darf ja träumen.

Auch formal überzeugt "Ginsterburg" in allen Belangen. Arno Frank mischt Briefe zwischen die Handlungsstränge, Verordnungen der Nationalsozialisten, einen Prolog mit einem abgeschossenen britischen Piloten, der ein wenig an Florian Knöpplers "Südfall" erinnern mag und den man auf keinen Fall aus den Augen verlieren sollte. Frank wechselt die Erzählzeiten, die Perspektiven und entwirft damit eine höchst lebendige Kleinstadt und ein vielfältiges Personal. Plötzlich gibt es sogar eine kindliche Ich-Erzählerin.

Auch sprachlich und von der Konstruktion her unterscheiden sich die drei Teile stark. Im ersten Teil von 1935 führt Frank sein Personal ein und treibt die Handlung voran. Im zweiten Teil nimmt er sich mehr Zeit, das Innenleben der Charaktere spielt nun eine größere Rolle, die Schönheit der Sprache kommt immer mehr zur Geltung. Beispielsweise wenn sich Eugen an der Front den Betrachtungen der Landschaft und eines Kranichschwarms hingibt, die eindrucksvoll abrupt unterbrochen werden und in veiner der vielleicht denkwürdigsten Szenen des gesamten Romans enden.

Die Kraniche spielen ohnehin eine nicht ganz unwesentliche Rolle im Buch. Dieser "Vogel des Glücks", der beispielsweise in Japan ein Symbol des Friedens und der Hoffnung ist, eröffnet nicht zufällig die Haupthandlung mit seinem zu späten Auftauchen in Ginsterburg. Spätestens seit der unvergessenen Kranich-Szene in Stefanie vor Schultes "Junge mit schwarzem Hahn" sollte man als Leser die literarische Kraft dieses Tieres nicht unterschätzen.

Eine entscheidende Verfehlung der Veröffentlichung ist das Fehlen eines Nachworts. Denn tatsächlich vermischt Arno Frank historische und fiktive Figuren, ohne dass es einen Hinweis darauf gibt. Sollte man die historischen Figuren Lothar Sieber und Erich Bachem nicht kennen, empfehle ich dringend, es dabei bis zum Ende des Romans auch zu belassen. Kritisieren kann man auch, dass nicht jede Figur gleich gut gelungen ist. Insbesondere Eugens Frau Ursel wirkt doch recht stereotyp. Ein wenig schade ist zudem, dass ein so durch und durch lebendiger Roman wie "Ginsterburg" ein KI-generiertes Buchcover erhalten hat. Wobei ich zugeben muss, dass es ein recht gelungenes ist.

Aus gutem Grund ausgelassen wurde bisher das Finale des Buches. Denn tatsächlich muss man es erleben, es ist kaum zu beschreiben. Wuchtig könnte man es nennen, bewegend, klug auch, weil es auf die mitdenkende Leserin setzt. Klar ist nur eines: Es wird Gewinner geben und Verliererinnen. Hoffnung und Angst, Leben und Tod. So ist das halt in Ginsterburg.

Bewertung vom 09.01.2025
Umlaufbahnen
Harvey, Samantha

Umlaufbahnen


ausgezeichnet

Ganze 16 Male umkreisen sie an einem Tag die Erde. Was sie sehen, ist ein wunderschöner, aber auch verletzbarer Planet, ein winziger blauer Punkt im riesigen Sonnensystem. Zwei Kosmonauten und vier Astronauten befinden sich auf der Raumstation. Ihre Erfahrungen sind unterschiedlich, ihre Gedanken und Gefühle auch. Was sie eint, ist die Schwerelosigkeit - und dieses nie enden wollende Staunen.

Samantha Harvey wagt in ihrem neuen Roman "Umlaufbahnen", der in der deutschen Übersetzung aus dem Englischen von Julia Wolf bei dtv erschienen ist, einen ganz eigenen Ausflug in das Weltall und nimmt die Leserinnen mit auf eine unvergessliche Reise. Das mit dem Booker Prize ausgezeichnete Werk ist höchst originell, philosophisch, beglückend poetisch, aktuell und aufrüttelnd. Denn neben der manchmal fast meditativen Lektüre ist "Umlaufbahnen" nicht nur eine Liebeserklärung an die Erde, sondern zugleich ein Weckruf, auf den blauen Planeten doch bitte ein bisschen besser Acht zu geben.

Schon mit ihrem brillanten mittelalterlichen Genresprenger "Westwind", 2020 erschienen bei Atrium, machte Harvey deutlich, dass es für sie keine literarischen Grenzen gibt. Und auch die "Umlaufbahnen" wirken in mehrfacher Hinsicht grenzenlos. Obwohl sich die Handlung des Romans ähnlich wie bei Virginia Woolfs "Mrs. Dalloway" auf einen einzigen Tag beschränkt, schweben die Leser mit den zwei Frauen und vier Männern der namentlich nie erwähnten ISS in einem endlos wirkenden Raum dahin. Wobei man vorher wissen muss, dass es so etwas wie eine klassische Handlung eigentlich gar nicht gibt. Vielmehr lässt Harvey einen teilhaben an den Betrachtungen der Astronautinnen, an diesem unglaublichen Staunen, das die Sechs mit Blick auf die Erde immer wieder ergreift. Ergriffen ist man dadurch auch selbst, denn mit ihrem feinen Gespür für die richtigen Worte trifft die Autorin nahezu durchgehend ins Herz der Leser. Und es ist mehr als der Blick auf die Erde, der nicht nur die Figuren melancholisch werden lässt. Es sind auch die zwischenmenschlichen Töne, die Erinnerungen der Crew an ihr Zuhause, die bemerkenswert emotional nachwirken.

Allerdings macht Harvey von Beginn an deutlich, dass nicht der Mensch im Zentrum des Buches und auch nicht im Zentrum ihrer Sorgen und Emotionen steht. Die Erde ist der eindeutige Star der "Umlaufbahnen", mal als Ur-Mutter, mal als vom Klimawandel und einem schrecklichen Taifun bedrohtes und schützenswertes Kind, mal aber auch als Randaspekt, als Brotkrümel in der Unendlichkeit des Weltalls. Dabei scheut sie auch die ganz großen Fragen nicht - nach der Bedeutung des Lebens, nach Liebe, nach irdischen Feindschaften, nach der Moral, natürlich auch nach Gott. Seit Jostein Gaarders "Sofies Welt" war wohl kein belletristisches Werk so philosophisch wie "Umlaufbahnen", ohne dabei verkopft zu wirken.

Ein weiterer Vorteil des Romans ist, dass er auch das musikalische Ohr der Leserinnen anspricht. Ganz wie von selbst scheint dort nämlich ein ganzer Soundtrack zu entstehen. Denkt man kurz an den fliegenden Knochen in Stanley Kubricks "2001" und hört dabei Richard Strauss' "Zarathustra", fühlt man sich im nächsten Moment vielleicht "völlig losgelöst", um sich in den düsteren Augenblicken an die Einsamkeit des Astronauten im Dark Metal-Meisterwerk "Ominous" von Lake of Tears zu erinnern.

Während uns Samantha Harvey in "Westwind" noch in Gottes Nähe führte, wird es also auf ganz andere Art auch in "Umlaufbahnen" wieder überirdisch. Was bleibt, ist dieses Staunen - über die schier unendlich wirkenden Fähigkeiten der Autorin.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.12.2024
Vor der Nacht
Jamal, Salih

Vor der Nacht


gut

Als sein Vater wegen eines lange zurückliegenden Bankraubs ins Gefängniss muss, kommt der 14-jährige Halbwaise Jonas in ein Kinderheim, das von der unnahbaren Vora geleitet wird. "Die Wölfin" wird sie von den Kindern und Jugendlichen genannt. Wie gut, dass Jonas auf verwandte Seelen wie Pappel, Lilly, Frei und die Geschwister Sinan und Beria trifft. Denn nur gemeinsam lässt es sich an diesem Ort aushalten, der irgendwo in einem Autobahnwald versteckt liegt. Umso härter trifft Jonas, der mittlerweile Jimmy genannt wird, der Verlust zweier Freunde, die von einem Tag auf den anderen verschwinden. Von Freundschaft und Liebe, Sehnsucht und Sucht, aber auch von Mord und Hass erzählt Salih Jamal in seinem neuen Roman "Vor der Nacht", der bei Leykam erschienen ist.

Nach dem wunderbaren "Das perfekte Grau" und dem Nachfolger "Blinder Spiegel" ist es der dritte Verlagstitel Jamals, in dem es diesem überraschend leicht gelingt, die Warmherzigkeit des Debüts mit der Härte des zweiten Romans zu einer teilweise jedoch etwas unausgegorenen Mischung aus Jugendroman, Coming-of-Age, Liebesdrama und Krimi zu verknüpfen. Auffallend sind dabei erneut die Sprache und das Spiel mit den Namen der Figuren.

"Viele Geschichten beginnen am Meer oder sie enden dort", lautet der tolle erste Satz, der die Leser:innen sofort in das Geschehen hineinzieht. Ebenso schnell kann Salih Jamal die Leserschaft von Beginn an für den Protagonisten und Ich-Erzähler Jonas alias Jimmy einnehmen. Auch wenn die Geschichte seiner Eltern romantisierend und ein wenig kitschig wirken mag, ist Jimmy ein vom Schicksal gezeichneter Junge, dem nicht nur die Empathie des Autors über die kommenden 350 Seiten gewiss sein wird. Gerade im ersten Drittel des Romans gibt es zudem zahlreiche dieser bemerkenswerten Sätze, für die Jamal schon seit "Das perfekte Grau" bekannt ist. "Man war nie allein und doch immer einsam", heißt es an einer Stelle über das Leben im Waisenhaus, "Erinnerungen sind wie Parfüm" an einer anderen.

Und auch Salih Jamals Faible für Spitznamen und seltsame Namen aller Art kommt in "Vor der Nacht" wieder voll zum Tragen. Da gibt es neben der etwas unverständlichen Umtaufe von Jonas zu Jimmy die recht plakativ benannte Heimleitung "Vora", bei deren klischeehafter Figurenzeichnung als "böse Wölfin" man sie sich förmlich als Kinder-verschlingendes Monstrum vorstellen kann. Besser gelingt dem Autoren das Spiel mit dem Namen der gelungensten Figur des gesamten Buchs: Jimmys Zimmergenossen "Frei Niemants". Dieser Frei steht in seiner Ambivalenz symbolisch für die Ängste und Nöte der Kinder, aber auch für deren dunklen Seiten, das "Wölfische", das gerade bei der Hauptfigur gegen Ende des Romans eine ganz besondere Rolle spielen wird. "Niemand ist frei", so mag das Gefühl dieser geplagten Charaktere sein.

Während das erste Drittel des Buches trotz oder gerade wegen seines Jugendbuchcharakters zu gefallen weiß, nimmt die Episode im Heim ein viel zu abruptes Ende und leitet die erzählerisch deutlich schwächere Erwachsenenphase der Figuren ein. Prostitution, Drogenmissbrauch, Mord, eine SM-Beziehung, Raub - hier wird nichts ausgelassen. Und so überrascht es nicht, dass "Vor der Nacht" am Ende mit vielen Toten daherkommt. Natürlich will Salih Jamal auf die Versehrtheit der damaligen Heimkinder hinweisen, doch leider geschieht dies so plakativ und klischeehaft, dass man es nach einer Weile kaum noch ernst nehmen oder aushalten kann. Zudem verfängt sich der Autor sprachlich in Kalendersprüchen und verpasst es, einen neuen Handlungsspielort wie die Malediven auch nur ansatzweise interessant zu gestalten. Am schlimmsten ist aber der verharmlosende Umgang mit Drogen. Während Sinan auf den Malediven eine Art kalten Entzug von seiner Crack-Abhängigkeit machen soll, wird bereits in den Morgenstunden fröhlich gebechert und abends liegt man sich in den Armen, obwohl eine der Figuren gerade einen Mord gestanden hat.

Da tut es gut, dass das große Finale - wir wissen aus dem ersten Satz, dass es am Meer spielt - versöhnlich und konsequent ist. Der Epilog ist gar so anrührend, dass er mir eine Gänsehaut bescherte.

Insgesamt ist "Vor der Nacht" ein nur halbwegs überzeugender Roman, der sich trotz der Anspielungen und versteckten kleinen Zitate aus den beiden Vorgängern eher die schwächeren Elemente der bisherigen Werke herausgepickt hat. Dennoch hat er mit Jimmy und Frei zwei Figuren, die einen auch im Nachgang nicht loslassen und zahlreiche unvergessliche Sätze, die die Lektüre durchaus lohnen. Für das nächste Werk Salih Jamals würde ich mir vielleicht kein "perfektes Grau", aber Charaktere wünschen, die mehr Grautöne aufweisen als Vora oder die anderen Kinderfiguren.

Bewertung vom 21.12.2024
Unter Wölfen
Wray, John

Unter Wölfen


sehr gut

Kip Norvald kann es sich nicht erklären. Immer wieder überkommen den Teenager diese Gewaltausbrüche, dieses rauschhafte Weiß, das ihn völlig außer Kontrolle geraten lässt. Im Florida der späten 1980er-Jahre ist er genau so ein Außenseiter wie der schwarze bisexuelle Leslie Z und das Trailer-Girl Kira Carson. Was die drei so unterschiedlichen Charaktere verbindet, ist eine gemeinsame Liebe: die zum Heavy Metal. Über das Erwachsenwerden dreier Außenseiter:innen in den 80er- und 90er-Jahren und vor allem über die Kraft der Musik schreibt John Wray in seinem neuen Roman "Unter Wölfen", der in der deutschen Übersetzung aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben bei Rowohlt erschienen ist. Rock'n'Roll pur!

Hat es jemals zuvor einen literarischen Roman über Heavy Metal gegeben? Ich wage dies zu bezweifeln, auch wenn aktuell beispielsweise Karl Ove Knausgård kongenial und philosophisch den norwegischen Black Metal in seine "Morgenstern"-Reihe integriert. In diesem Umfang und mit dieser Hingabe ist John Wrays "Unter Wölfen" allerdings ein Novum. Dabei stammt der Autor selbst eher aus der Rockszene und musste sich für das Buch erst in die Metalszene einlesen, wie er im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur verriet. Nun ist ihm dies überwiegend hervorragend gelungen.

Der Roman teilt sich in drei große Abschnitte, die sich sowohl in den Handlungsorten als auch den jeweiligen Musikrichtungen stark unterscheiden. Teil eins spielt in Venice, Florida, wo die drei Hauptfiguren ihre Liebe zum Death Metal und aufkommenden Bands wie Death, Deicide oder Cannibal Corpse frönen. Im Mittelteil reisen die Drei nach L.A. und lernen dort den Glamrock in all seinen Facetten kennen und - so geben sie es zumindest vor - hassen. Der Schlusspart führt die Leserschaft gar nach Bergen in Norwegen - und damit tief in das düstere Herz des norwegischen Black Metal zu Beginn der 90er-Jahre mit Bands wie Mayhem, Emperor und Burzum.

Zu loben ist auf jeden Fall, wie abwechslungsreich sich nicht nur musikalisch "Unter Wölfen" präsentiert. Von einem Coming-of-Age-Roman mit auch sprachlichem Rock'n'Roll entwickelt sich das Buch nämlich zu einem Liebesroman und am Ende gar zu einer Art literarischem Thriller, der zwar nicht das Unheimliche von Bret Easton Ellis' "The Shards" erreicht, aber durchaus gekonnt mit Ellis-haften Motiven spielt.

Hervorragend eingebunden sind auch die nerdigen Metal-Insiderfakten, die John Wray immer wieder ins Spiel bringt. Dies führt sogar dazu, dass Metal-Legenden selbst diverse Auftritte haben. Ob Vince Neil von Mötley Crüe oder im Schlussteil Euronymous von Mayhem, Samoth von Emperor oder der unsägliche Count Grishnackh: Sie alle geben sich in "Unter Wölfen" ihr Stelldichein. Für Metalheads definitiv ein großer Spaß! In einer besonders genialen Szene entdeckt Kip beispielsweise die legendären Polaroid-Fotos, die Euronymous nach dem Tod des Mayhem-Sängers Dead von dessen Leiche geschossen hat. Wray bindet dies als Randnotiz ein, ohne Pelle Ohlin alias Dead überhaupt namentlich zu erwähnen. Ein Gimmick für Metalfreund:innen, von denen es in dem Roman zahlreiche zu entdecken gibt.

Wenn man etwas kritisieren möchte, dann sind das einerseits die Figuren, die sich gerade in den manchmal etwas nervigen Dialogen zu wenig entwickeln. Zudem wirkt der Roman durch ein paar belanglose Szenen doch etwas zu lang. Aus Metalsicht ist jedoch das größte Ärgernis, dass im letzten Abschnitt zwischen Black Metal-Figuren wie Euronymous und dessen späteren Mörder Varg Vikernes alias Count Grishnackh zu wenig differenziert wird. Beide wirken auf die Leserschaft wie satanistische, ideologisch rechts stehende Musiker, die irgendwo zwischen Bedrohung und Knallchargentum agieren. Dabei kommen Euronymous' kommunistische Ansichten ebenso zu kurz wie das spätere Täter-Opfer-Verhältnis der beiden.

Kleinere Wermutstropfen eines insgesamt aber spannenden und unterhaltsamen Romans, der insbesondere Metal-Fans aller Genres und Musikliebhaber:innen ohne Scheuklappen ansprechen sollte. Keep on rockin', John!

Bewertung vom 19.12.2024
Über dem Tal
Preston, Scott

Über dem Tal


sehr gut

Als im Norden Englands 2001 die Maul- und Klauenseuche ausbricht, steht für die Schafzüchter Steve Elliman und William Herne mehr als die Existenz auf dem Spiel. Die Fells, so der Name der Region, sind ihr Leben, doch ohne Tiere scheint dieses dort nicht mehr möglich zu sein. Immerhin überlebt mit dem von Steve versteckten Lamm Rusty ein Hoffnungsträger. Wie kann man existieren, wenn einem die Lebensgrundlage wegbricht? Und was macht diese karg-schöne Gegend mit ihren Bewohner:innen? Davon erzählt Scott Preston in seinem Debütroman „Über dem Tal“, der in der deutschen Übersetzung aus dem Englischen von Bernhard Robben bei S. Fischer erschienen ist.


Zunächst einmal sollte man sich von dem romantisierenden Cover der deutschen Ausgabe nicht täuschen lassen, denn „The Borrowed Hills“, wie der Roman im Original heißt, ist keineswegs süßlich leichte Kost, die man als ZDF-Verfilmung am Sonntagabend genießen könnte. Vielmehr verbindet Preston in seinem Erstling poetisch-raue Landschaftsbeschreibungen mit einem brutalen Crimeplot zu einer unheilvollen und abwechslungsreichen Melange.

Dabei ist es vor allem die Sprache, die heraussticht. Sie bildet einen wirkungsvollen Kontrast zu den oftmals explizit grausamen Szenen, in denen sehr viel Schafs- und Menschenblut fließt. Auch Ich-Erzähler Steve merkt dies und entschuldigt sich beinahe zu Beginn eines Kapitels, als er auf der Metaebene bemerkt: „Es floss Blut genug, um ein Kanonenboot drin schwimmen zu lassen.“ Sehr gelungen auch, wie Preston mit der Verknappung der Sprache spielt. So spiegeln fehlende Subjekte die Rauheit und Kargheit der Fells wider.

Erstaunlich souverän für ein Debüt agiert „Über dem Tal“ zudem in berauschenden Tempowechseln zwischen ausufernder Trägheit und schnellen Schnitten, wie man sie in einem Actionfilm erwarten würde. In dieser Hinsicht bleibt vor allem die Schlüsselszene des Romans in Erinnerung. In einer tollkühnen Aktion rauben William und Steve zusammen mit dem Schwerkriminellen Colin und dessen Kumpanen einige Hundert Schafe von einem Biohof. Gebannt folgt man als Leser:in nicht nur dem Diebstahl, sondern im Anschluss an einen Unfall auch einem 15-stündigen Fußmarsch mit den unzähligen Tieren.

Positiv sind zudem die vielen Überraschungen in der Handlung und die Vielfalt, mit der der Roman zwischen Landwirtschaftsdrama und einer Art Hard Boiled-Krimi ohne Ermittler:in oder Neo-Noir-Western chargiert.

Weniger überzeugend ist die Figurenzeichnung. Teilweise handeln Steve, William und die Nebenfiguren nicht nur unüberlegt, sondern für die Leserschaft unverständlich. So wird eigentlich von Beginn an nicht klar, warum Steve von William so fasziniert ist, dass er ihn in der Folge auf Schritt und Tritt begleitet. In ihrer Gesamtheit entpuppt sich die Figur William nämlich eher als literarisch laues Lüftchen wie einst der vermeintliche Charismatiker Kurtz in Joseph Conrads „Herz der Finsternis“. Und die Gangsterepisode um den bemerkenswert böse geratenen Colin nimmt doch etwas zu viel Raum ein.

Doch im wendungsreichen und dramatischen Finale des Romans spielt Scott Preston noch einmal seine ganze Stärke aus und lässt das Buch mit einer intensiven Szene ausklingen, über die sich trefflich diskutieren lässt.

Scott Prestons „Über dem Tal“ ist ein lesenswertes Debüt, für das man allerdings starke Nerven braucht und den Figuren ihre Nachlässigkeiten verzeihen muss. Belohnt wird man dafür mit einem Roman, der gleichermaßen weh tut wie berührt.

Bewertung vom 26.11.2024
Täuschend echt
Lewinsky, Charles

Täuschend echt


gut

Nachdem der namenlose Ich-Erzähler von seiner Freundin verlassen wurde, verliert er auch noch seinen Job als Werbetexter in einer Agentur. Da kommt ihm das Angebot eines Bekannten seiner Nachbarin gerade recht. Frank sucht nämlich jemanden, der die ihm vorliegenden Berichte von Einzelschicksalen verschiedener Menschen in eine angemessene literarische Form bringt. Kein Problem für den Protagonisten, der schon seit einiger Zeit mithilfe von Künstlicher Intelligenz an einem eigenen Roman arbeitet. Doch als das Schicksal der ausgedachten Schabnam unerwartet zu einem Bestseller wird, nehmen die Dinge ihren Lauf...

Clemens J. Setz, Raphaela Edelbauer, Ian McEwan. Die Liste der Autor:innen, die sich mit KI befassen, wird immer länger. Mit seinem neuen Roman "Täuschend echt", der bei Diogenes erschienen ist, reiht sich nun auch Charles Lewinsky in diese namhafte Aufzählung ein. Wobei er anders als McEwan und Edelbauer nicht auf künstliche Menschen setzt, sondern auf die Möglichkeiten eingeht, Literatur künstlich zu erzeugen. Ein kühner und mutiger Ansatz, der aber nur teilweise überzeugt.

Lewinsky, der wie seine Hauptfigur selbst einmal Werbetexte verfasst hat, sagte in einer Lesung einmal, er habe den Anspruch, mit jedem neuen Buch auch immer etwas ganz Neues zu erzählen. Und tatsächlich: Von seinem Goethe-Roman "Rauch und Schall" aus dem letzten Jahr zum aktuellen Spiel mit ChatGPT und der Künstlichen Intelligenz ist es wohl nicht weniger als ein thematischer Quantensprung, der ihm hier gelingt.

Übersteht man als Leser:in die ersten 50 Seiten, die sich vor allem in Rachefantasien gegenüber der Ex-Freundin und Albernheiten in Bezug auf Müsli-Werbetexte gerieren, nimmt "Täuschend echt" gewaltig Fahrt auf. Im Umgang mit der KI, die der Protagonist irgendwann fast liebevoll "Kirsten" tauft, funktioniert der Roman plötzlich auf verschiedenen Ebenen. Auch wenn der Autor die Hauptfigur zweimal zu oft die Meta-Ebene beschwören lässt, ist es gerade diese, die das Buch so interessant macht. Auf gewisse Weise verschwimmen die Handlungsebenen, Lewinsky spielt gekonnt mit den Parametern. Er zeigt einerseits, dass es durchaus möglich ist, künstlich literarische Texte zu erzeugen. Andererseits sind diese durch ihre zahlreichen Wortwiederholungen und Adjektive aber so uninteressant, dass es wiederum unmöglich scheint, einen wirklich literarischen Roman auf diese Weise zu kreieren. Oder die Prompts der Hauptfigur stimmten einfach nicht.

Bedauerlich ist, dass Lewinksy in der zweiten Hälfte des Buches dieses Spiel aber gar nicht auf die Spitze treibt und beispielsweise den wirklich komischen Einfall, die fiktive Buchautorin werde zu einem TV-Termin in die bekannte Literatursendung "Druckfrisch" mit Denis Scheck eingeladen, zu einem befriedigenden Ende bringt. Stattdessen wandelt sich "Täuschend echt" wieder zu einer mit Müsli-Gags durchsetzten Racheposse, der Kirsten mit ihren zahlreichen, irgendwann langweilig werdenden Listen nur noch als Stichwortgeberin dient. Schade, denn spätestens seit dem "Stotterer" wissen wir, wie gut und gleichzeitig böse Charles Lewinsky als Erzähler sein kann. "Täuschend echt" hinterlässt hingegen eher den Eindruck, der Autor habe auf den sehr luftig gedruckten 340 Seiten irgendwie die KI einbauen wollen, ohne das große Potenzial dieser Idee wirklich nutzen zu können.

So ist "Täuschend echt" ein über weite Strecken zwar recht unterhaltsamer, aber nicht besonders kluger Roman, der zudem mit klischeehaften und überzeichneten Figuren und - offenbar bewusst - unglaubwürdigen Wendungen zwar nicht "echt enttäuschend", aber auch nicht der ganz große Wurf geworden ist. Wer lesen möchte, wie genial die KI in literarische Texte eingebunden werden kann, der greife lieber zu Clemens J. Setz' "Bot", das übrigens schon 2018 erschienen ist. Was in Sachen Künstlicher Intelligenz ein zeitlich mindestens ebenso großer Quantensprung ist wie von Goethe zu ChatGPT.

Bewertung vom 30.10.2024
Die Lungenschwimmprobe
Renberg, Tore

Die Lungenschwimmprobe


ausgezeichnet

Pegau in Sachsen, 1681: Der renommierte Arzt Dr. Johannes Schreyer ist eigentlich auf dem Weg zur Leipziger Messe, als er vom Amtmann Abraham Walther beauftragt wird, den Leichnam eines neugeborenen Säuglings zu begutachten. Die 15-jährige Anna Voigt wird verdächtigt, ihre kleine Tochter gleich nach der Geburt getötet zu haben. Die Stichwunden am Körper des Babys sprechen Bände, doch um auf Nummer sicher zu gehen, legt Schreyer ein Teilchen der Lunge in einen Behälter mit Wasser. Als die Lunge sinkt und nicht oben schwimmt, ist für Schreyer klar: Das Kind hat nie geatmet und war bei der Geburt folglich schon tot. Vorhang auf für die Lungenschwimmprobe - und damit für den neuen Roman des Norwegers Tore Renberg, der in der deutschen Übersetzung von Karoline Hippe und Ina Kronenberger bei Luchterhand erschienen ist.

"Die Lungenschwimmprobe" ist der erste Historische Roman Renbergs, der sich bisher der zeitgenössischen Literatur verschrieben hatte. Auf gut 700 Seiten entfaltet er ein buntes und sprachgewaltiges Panorama des Hochbarock, das sich nicht nur mit der Geburt der modernen Gerichtsmedizin befasst, sondern auch einen detaillierten Blick auf Leipzig nach dem Dreißigjährigen Krieg und die Entwicklung des Rechtssystems wirft. Dass dies keine einzige Seite langweilig wird, liegt an der Erzählkunst des Autors und an der ungewöhnlichen Form des Romans.

Wer nämlich einen schlichten Historischen Schmöker erwartet, dürfte vielleicht enttäuscht sein, denn Renberg spielt mehr als einmal mit den erzählerischen Konventionen. Hier streut er den Text des damaligen Strafgesetzbuches ein, dort eine Ballade, dann ein Märchen, ein paar Tagebucheinträge und Briefe. Die wohl größte Überraschung ist aber, dass sich der Autor als Ich-Erzähler immer wieder selbst an die Leserschaft wendet. Das kommt am Ende des ersten Kapitels völlig unvermittelt und zieht sich später durch ganze eigenständige Abschnitte. Am brillantesten gelingt ihm die Verbindung zwischen Autor und Materie im bemerkenswerten Kapitel "Der Korridor", als sich bei einem Besuch im Nürnberg der Gegenwart eine Art Zeitfenster öffnet und Renberg plötzlich seinen Romanfiguren gegenüberzustehen glaubt.

Wobei die meisten Figuren des Buches auf historischen Personen beruhen. Allen voran die vermeintliche Kindsmörderin Anna und ihr Anwalt Christian Thomasius, einer der späteren Gründungsväter der Universität von Halle an der Saale. Wenn es so etwas wie eine Hauptfigur in diesem an Personal reichen Roman gibt, dann ist es der umtriebige Jurist, der als einer der ersten Vertreter:innen der Aufklärung eine gewaltige Unruhe in die damals vor sich hin dösende und vom Krieg noch immer traumatisierte Stadt Leipzig brachte. Nicht von ungefähr bezieht sich der Untertitel des Romans auf Thomasius' Wirken: "Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde".

Ein nicht minder bedeutender Verteidiger ist allerdings Tore Renberg selbst, der auf einer Lesung zugab, er fühle sich immer als Anwalt seiner Figuren. Mit großer Empathie nähert sich Renberg der jungen Beschuldigten, über deren Leben es gerade einmal zwei historische Quellen gab - von Thomasius und von Dr. Schreyer. Auch seine Bewunderung für Christian Thomasius ist stets spürbar, ohne dessen Eitelkeit und Narzissmus zu verschweigen.

Ohnehin ist es die Ambivalenz der Figuren, die ein weiteres Qualitätsmerkmal des Romans ausmacht. Anna Voigt ist genauso wenig nur Opfer, wie beispielsweise der Leipziger Scharfrichter Christoph Heintze nur grausam oder emotionslos ist. Da hätte es bei all dieser thematischen und formalen Vielfalt die blutige und explizit grausame Rachegeschichte von Annas Vater Hans Heinrich in meinen Augen gar nicht mehr gebraucht.

Zu erwähnen ist auch noch die umfangreiche Recherche, die Renberg für das Schreiben des Romans betreiben musste - nachzulesen in einem knapp 50-seitigen digitalen Anhang mit Quellenangaben und historischen Karten. Da ist es schon verwunderlich, dass der Autor "nur" etwa fünf Jahre daran schrieb.

Insgesamt ist "Die Lungenschwimmprobe" ein berührendes, kluges und auch in seiner Form hochspannendes Epos, das nicht nur die Bürger:innen Leipzigs ihre Stadt mit anderen Augen sehen lässt, sondern auch deutlich macht, dass nicht das Mittelalter die grausamste aller Zeiten war.

Bewertung vom 20.10.2024
Eine ganz gewöhnliche Fliege und andere heitere Erzählungen
Hamsun, Knut

Eine ganz gewöhnliche Fliege und andere heitere Erzählungen


ausgezeichnet

Eine Fliege, die sich weigert das Arbeitszimmer zu verlassen. Eine ziellose Zugfahrt durch Schweden, die immer teurer wird. Oder ein Straßenbahnschaffner in Chicago, der von einem Fahrgast ein merkwürdiges Angebot erhält. So unterschiedlich und vielfältig präsentiert sich der spätere Literaturnobelpreisträger Knut Hamsun in seinen frühen heiteren Erzählungen, die bei Reclam erschienen sind und von der renommierten Übersetzerin und Autorin Gabriele Haefs herausgegeben und mit einem Nachwort versehen wurden. Laut Klappentext zeige sich Hamsun in ihnen, "wie man ihn bisher noch nicht kannte: heiter, komisch, grotesk", was allerdings nur halbwegs stimmt. Denn diese Seite des Norwegers findet man auch in seinem Erfolgsroman "Hunger" an mehreren Stellen überdeutlich, was nicht nur Astrid Lindgren bemerkte. Überraschend ist vielmehr, wie unterschiedlich dieser Humor, diese heitere Seite in den Geschichten hervortritt, was aus dem Erzählband ein wunderbares Dokument der frühen Hamsun-Schaffensphase macht.

Der Komik in "Hunger" am nächsten kommt dabei gleich die erste Erzählung "Die Königin von Saba". "Freakig" nennt Gabriele Haefs "Hunger" in ihrem Nachwort und so kann man auch den Humor in dieser Geschichte beschreiben. In ihr reist der Ich-Erzähler offenbar ziel- und planlos nach Schweden und verfängt sich in den Augen eines jungen Mädchens, was letztlich zu einer teuren Zug-Odyssee führt. Die Dialoge des Protagonisten mit den Mitreisenden und mit der jungen Frau erinnern an den hinreißenden Anarcho-Humor der "Hunger"-Hauptfigur und auch im völlig willkürlichen Umgang mit dem wenigen Geld, in der ironischen Selbstüberschätzung des Ich-Erzählers im Hinblick auf seine Wirkung auf Frauen blitzt der Klassiker immer wieder durch.

Ohnehin sind es die Frauen, die in "Eine ganz gewöhnliche Fliege" eine zentrale Rolle spielen. Werden sie zunächst scheinbar oberflächlich auf ihr Aussehen und ihre Wirkung auf Männer reduziert, entpuppen sie sich nicht selten als clevere Gewinnerinnen der Erzählungen. So beispielsweise im "klitzekleinen Roman" "Hinein in den süßen Sommer", in dem sich Hamsun mit Augenzwinkern über die gehobene Gesellschaft lustig macht oder überdeutlich nicht nur aufgrund des Titels im schwarzhumorig-bösen "Frauensieg". Der Ich-Erzähler arbeitet als Straßenbahnschaffner in Chicago, wie es Hamsun einst selbst tat. Als er sich durch ein seltsames Angebot eines Fahrgastes ein paar Dollar hinzuverdienen möchte, ist es eine Frau, die dieses Vorhaben auf überraschende Weise durchkreuzt. Und selbst die Stubenfliege hat etwas Weibliches an sich und irgendwann "einen Liebhaber von der Straße im Schlepptau", ein Fliegenmännchen, was beim schreibenden Protagonisten zu Eifersuchtsanfällen führt. Fast immer ist es die Suche nach Liebe, die die Hauptfiguren umtreibt, was auch Haefs im Nachwort noch einmal hervorhebt.

Wahrscheinlich nicht ganz zufällig in der Mitte des Bandes steht dabei die Erzählung "Auf Tournee", in der Knut Hamsun selbst vielleicht am stärksten als literarische Figur zu erkennen ist. Ein erfolgloser Schriftsteller möchte darin auf eigene Faust einen "Vortrag über moderne norwegische Literatur halten". Natürlich kommt es anders, als er denkt und ein Antispiritist, der sein Publikum mit vermeintlich exotischen Tieren überrascht, stiehlt ihm alle potenziellen Zuschauer:innen. "Mein Weg ist der zu den Idealen", entgegnet der Protagonist dem betrügerischen Nebenbuhler - und endet letztlich doch als brillanter Rhetoriker bei der Tierpräsentation. Hamsuns tragikomische Selbstironie, die skurrilen Ereignisse rund um den geplanten Vortrag sind allein schon den Kauf des Buches wert.

Und auch Haefs' Nachwort ist erhellend, auch wenn die "späteren Schandtaten" des Schriftstellers im Bezug auf norwegische Nazi-Organisationen fast ausgeklammert werden. Gelungen ist beispielsweise die Entscheidung, die einzelnen Erzählungen von vielen unterschiedlichen Übersetzerinnen - tatsächlich sind es ausschließlich Frauen - bearbeiten zu lassen, was auch im Deutschen zu mehr Vielfalt führt. Die titelgebende Fliegen-Geschichte wurde sogar von einem kompletten Übersetzungsseminar ins Deutsche übertragen. Was leider fehlt, sind die norwegischen Originaltitel der Geschichten und die genauen Entstehungsjahre. Insgesamt ist "Eine ganz gewöhnliche Fliege" aber ein hervorragender Erzählband, der die Leser:innen von Schweden nach Chicago, von London nach Paris begleitet und dabei nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich mit seinen häufigen Wechseln der Erzählzeiten und dem abwechslungsreichen Humor immer wieder überrascht.

Bewertung vom 10.10.2024
La Louisiane
Malye, Julia

La Louisiane


ausgezeichnet

Paris, 1720. Marguérite muss sich entscheiden. 92 Frauennamen muss die Leiterin des Hospitals La Salpêtrière auf die Liste schreiben, die über das weitere Schicksal ihrer Schützlinge bestimmt. Hier, in diesem Sammelbecken von Waisenkindern, Gefangenen, psychisch Kranken und weiteren gesellschaftlichen Außenseiterinnen. 92 Frauen, "Freiwillige", die in Kürze eine mehrmonatige Reise über den Ozean antreten müssen. Ihr Ziel: die französische Kolonie La Louisiane, deren Fortbestand aufgrund fehlenden Nachwuchses ansonsten nicht gewährleistet wäre...

"La Louisiane" ist der neue Roman von Julia Malye, der in der Übersetzung aus dem Französischen von Sina de Malafosse beim neuen Gutkind Verlag erschienen ist. Malye, die ihren ersten Roman im Alter von 15 Jahren veröffentlichte, erscheint damit erstmals auf Deutsch. Für "La Louisiane", den sie auf Englisch und Französisch schrieb, recherchierte sie sage und schreibe zehn Jahre. Eine Arbeit, die dem Roman von vorn bis hinten anzumerken ist, denn "La Louisiane" ist ein mehr als 520 Seiten starkes Epos geworden, das nicht nur mit historischen Details glänzt, sondern auch mit einer plastisch-poetischen Sprache und herausragenden Frauenfiguren.

Und so verwundert es auch nicht, dass der französische Artikel "La" im Titel so präsent ist, denn "La Louisiane" zeichnet sich vor allem durch unbändige weibliche Energie aus. Im Mittelpunkt stehen die drei Protagonistinnen Geneviève, eine homosexuelle "Engelmacherin", die zu Beginn zwölfjährige Waisin Charlotte und die naive und durch ein Muttermal entstellte Pétronille. Über 14 Jahre begleiten die Leser:innen diese Hauptfiguren durch wenig Freud und viel Leid, und es ist erstaunlich, wie viel Tiefe Julia Malye ihnen schenkt. Die Ängste und Sorgen der Mädchen und Frauen müssen dabei gar nicht explizit ausgesprochen werden, es reichen Gesten und Andeutungen.

Sprachlich stark sind die Beschreibungen der Schauplätze und der Naturphänomene, die diese begleiten. Seien es die peitschenden Stürme auf der Überfahrt nach La Louisiane, seien es die Geräusche und Gerüche in der überdimensionierten Salpêtrière oder später die Sümpfe in La Louisiane - Julia Malye schreibt so plastisch, dass man als Leser:in eine unmittelbare Vorstellung der Settings erhält und diese fast zu riechen oder hören scheint. Hoch anzurechnen ist der Autorin zudem, dass sie mit "La Louisiane" eine fast vergessene Episode der französischen Geschichte zum Leben erweckt. Unglaublich scheint es aus heutiger Sicht, dass Frauen und Mädchen - überwiegend gegen ihren Willen - auf einen meilenweit entfernten Kontinent verschifft werden konnten, ohne zu wissen, was sie dort erwartet. Und natürlich ohne ein wirkliches Mitspracherecht in Bezug auf ihre auserwählten Bräutigame zu haben.

Tatsächlich ist "La Louisiane" weit mehr als ein gewöhnlicher "Historien-Schmöker". Wer dies erwartet, dürfte vielleicht enttäuscht sein. Dafür ist Malyes Sprache zu literarisch, das Erzähltempo zu langsam, dafür sind die Beschreibungen zu kleinteilig. Vielmehr verbindet der Roman viele Themen, die nicht an Aktualität verloren haben. Ob Heimat oder Sprache, ob queere Liebe oder Feminismus, ob Kolonialismus oder Rassismus - mit Sensibilität und sprachlicher Eleganz verknüpft Julia Malye all dies zu diesen mächtigen Epos, das "La Louisiane" letztlich geworden ist.

Am Ende unbedingt hervorzuheben ist noch das zehnte Kapitel, das in dem Roman eine bemerkenswerte Sonderstellung einnimmt. Es ist nach dem Auftaktkapitel das einzige, das nicht aus der Perspektive einer der drei Hauptfiguren erzählt wird, sondern aus Sicht der indigenen Jugendlichen Utu'wv Ecoko'nesel. Das Mädchen soll Pétronille Kenntnisse über die heilenden Kräfte der Pflanzen vermitteln und gerät dabei in mehrere Konflikte, denen Julia Malye mit herausragender Empathie begegnet. Das Kapitel ist sowohl auf der Spannungsskala als auch in Sachen Emotionalität der unbestrittene Höhepunkt eines insgesamt begeisternden Historischen Romans.

Bewertung vom 02.10.2024
Trauriger Tiger
Sinno, Neige

Trauriger Tiger


sehr gut

Etwa mit sieben Jahren beginnt es. Neiges Stiefvater nähert sich ihr in der Nacht oder wenn die Mutter nicht im Hause ist. Er wird es immer wieder tun, über Jahre hinweg, bis in die Pubertät hinein. Ein Stiefvater und Vergewaltiger. Wie lebt ein Kind, das sich einer solchen Gewalt ausgesetzt sieht? Wie überlebt es? Und wie kann man den Menschen davon erzählen, dem eigenen Umfeld, aber auch der ganzen Welt? Mit einem Buch wie "Trauriger Tiger" von Neige Sinno, das in der Übersetzung aus dem Französischen von Michaela Meßner bei dtv erschienen ist.

Schon der Anfang strahlt diese Wucht aus, die die Leserschaft während der Lektüre des Buches häufig überfallen wird. Völlig unvermittelt beginnt Neige Sinno nämlich mit dem Versuch des Porträts ihres Peinigers, den sie einst mit ihrer späten Anzeige vor Gericht brachte. Sie wird in der Folge immer wieder damit beginnen. "Denn auch mich interessiert im Grunde vor allem das, was im Kopf des Täters vor sich geht", so lautet der überraschende erste Satz von "Trauriger Tiger", das in Frankreich fünf große Literaturpreise und dazu den Premio Strega Europeo erhielt. "Porträts" und "Gespenster" heißen die beiden Teile des Buches, die sich zunächst um das Umfeld von Neige und ihrer Familie drehen, ehe es in der zweiten Hälfte der gut 300 Seiten eher um die Auswirkungen des Missbrauchs auf die "Überlebenden", wie Neige Sinno die Missbrauchsopfer häufig nennt, und somit auf sie selbst geht.

Wobei die literarischen Auszeichnungen doch etwas überraschend sind. Rein sprachlich ist das Buch nämlich recht unauffällig. Zwar gibt es zwischendurch immer wieder so aufrüttelnde Sätze wie "Man vergewaltigt, um zu existieren", doch in seiner Gesamtheit liest sich "Trauriger Tiger" eher wie eine Mischung aus Sachbuch und Memoir. Das Besondere ist vielmehr Neige Sinnos Zugang zu ihrer so persönlichen Geschichte. Und hier kommt die Literatur dann doch wieder ins Spiel, denn Sinno analysiert und beschreibt ihren langjährigen Missbrauch und die Auswirkungen auf sie, aber auch auf den Täter, auch mithilfe von Büchern und Erzählungen. Ob Nabokovs "Lolita", Hans Christian Andersens "Die wilden Schwäne" oder Emmanuel Carrères "Widersacher" - sie alle spielen eine zentrale Rolle in "Trauriger Tiger".

Positiv hervorzuheben ist, dass das Buch keineswegs voyeuristisch ist. Im Gegenteil, die Darstellung des Grausamen ist erstaunlich sachlich, was einen emotionaleren Zugang zum Buch allerdings teilweise auch verhindert. In dieser Hinsicht konnte "Tiger, Tiger" der mittlerweile verstorbenen Margaux Fragoso mit einem sehr ähnlichen Thema aus dem Jahre 2011 deutlich mehr überzeugen. "Tiger, Tiger", das unverblümt Namenspate für Neige Sinnos Werk ist, hat letztere überraschenderweise aber gar nicht gelesen, obwohl sie sonst nahezu alles zum Thema Missbrauch verschlungen hat. Abgeschreckt hat sie eine negative Kritik, was eine etwas seltsame Entscheidung ist.

Der Zugang über die Literatur ist dennoch ein kluger, wenn auch nicht der einzige Ansatz von Neige Sinno in diesem Buch. Sie reflektiert über die Auswirkungen der jahrelangen Vergewaltigungen, über männliche Sexualität, über Schuld, über die Wirksamkeit von Therapien und Strafen, ja, sogar über das Leben und den Tod. Und es gelingt ihr, dass man auch als Leser:in darüber reflektiert, dass man gezwungen wird, eine Haltung einzunehmen. Schwächer ist das Buch, wenn Sinno sich in ihren Gedankengängen verheddert, unverständlich bleibt und wenn sie einzelne Passagen zu häufig wiederholt.

Zudem wird nicht ganz klar, warum Neige Sinno ihr Buch überhaupt geschrieben hat. Sie wünscht ihm "nicht viele Leser", ja, es widere sie sogar an, aus ihrer Geschichte Kunst zu machen, was man beides nicht besonders glaubwürdig findet. Eine therapeutische Wirkung hatte das Schreiben für sie auch nicht. Warum also auch immer, die Entscheidung war natürlich richtig. Denn "Trauriger Tiger" gelingt es trotz oder wegen des persönlichen Schicksals der Autorin, dass man als Leser:in schockiert und nachdenklich zurückbleibt. Und dass man Neige Sinno, die Überlebende, nicht so schnell wieder vergisst.

3,5/5

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