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Adelebooks
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 158 Bewertungen
Bewertung vom 03.11.2025
Heimat
Lühmann, Hannah

Heimat


gut

Kurzweilig, aber eher oberflächlich und zu gewollt

Dem Druck der Stadt entfliehend, in der auch ein Akademikerpaar sich nicht mehr ohne weiteres ein eigenes Haus leisten kann, ziehen Jana und Noah mit ihren beiden kleinen Kindern aufs Land. Ihr neues Eigenheim: ein Haus in einer sorgfältig geplanten Neubausiedlung, ein Trampolin in jedem Vorgarten. Jana hat im Frust über die Reaktion ihrer Chefin auf ihre erneute Schwangerschaft ihren Job in einer Marketingagentur überstürzt gekündigt, sehr zu Noahs Missfallen, denn ein Kredit für das Haus, ist abzubezahlen, das dritte Kind unterwegs und das Geld nur mit Noahs Lehrergehalt knapp.

Trotz ihrer neuen Freiheit während Louis und Ella im Kindergarten sind, fühlt sich Jana in ihrem neuen Zuhause seltsam fremd, Siedlung und Ort wollen noch nicht zu ihr passen und lösen keine Zugehörigkeit bei ihr aus. In dieses Gefühl der Einsamkeit und Verlorenheit tritt plötzlich Nachbarin Caro. Attraktiv, charismatisch, immer hilfsbereit zieht sie Jana sofort in einen seltsamen Bann. Scheinbar spielend scheint Caro Alltag, Beziehung und Mutterschaft zu meistern, all das, was Jana zunehmend mehr abverlangt und herausfordert.

Stück für Stück tritt Jana in Caros Leben ein, ihren Freundinnenkreis, der auch ihrer werden wird, und erhält Einblicke in ihr Familienleben. So lernt Jana nicht nur neue Freundinnen kennen, sondern auch eine Lebenswelt, die ihr zunächst vollkommen fremd ist und doch in ihrer gelebten Selbstverständlichkeit und scheinbaren Funktionalität eine seltsame Anziehung auf sie auswirkt. Janas alte Überzeugungen werden zunehmend in Frage gestellt und provozieren tief greifende Veränderungen in Jana selbst, aber auch ihrer Beziehung.

Hannah Lühmann gibt in Heimat Einblicke in ein Milieu aus Tradwifes, AfD-Aktivisten, Kirchentreuen und Pro Life Bewegung und zeigt dabei auf wie subtil und selbstverständlich diese gerade in ländlichen Regionen ihre Ideen verbreiten und anschlussfähig werden können. Wirklich gelungen ist der Aspekt, wie dies jenseits von Aktivismus allein darüber funktioniert, indem das Milieu funktional Lücken besetzt, die von gesellschaftlichen Entwicklungen forciert entstanden sind und vermeintliche Antworten auf Herausforderungen der Gegenwart liefert. Dorffeste für Zusammenhalt, Freizeitangebote, Kinderbetreuung, um nur einige Beispiele zu nennen.

Insgesamt konnte mich der Roman jedoch nicht vollständig überzeugen. Die Charaktere wirkten auf mich nicht immer authentisch. Dass Jana trotz ihres Jobs im Marketing, als aufgeklärte Frau mit fast 40, noch nie von der Tradwife-Bewegung gehört haben soll, war für mich schwer vorstellbar, wie auch ihre Unbedarftheit mit und Faszination für Caro. Das Landleben wird in einem sehr speziellen Ausschnitt dargestellt, den es vielleicht an einigen Orten geben mag, mit dem Dorfleben, das ich kenne, jedoch eher wenig zu tun hat. Auch dass Jana trotz Job im Vorfeld, nicht ALG1 beantragt sondern Bürgergeld erhält, war für mich nicht nachvollziehbar und wirkte, als ob nun eben einfach das Bürgergeld auch noch untergebracht werden soll. Dass es hier Nachzahlungen für vergangene Monate gibt, mag der Fantasie der Autorin entsprungen sein, denn es gilt das Antragsdatum. Bei solch sensiblen Themen würde ich mir mehr Faktentreue wünschen.

Der Roman ist kurzweilig und liest sich flott weg, verbleibt jedoch an der Oberfläche und wirkt gewollt in der Botschaft und den Themen, die er erzählen möchte, was zu Lasten der Authentizität geht und nicht wirklich originell wirkt.

Heimat taugt daher als Roman für zwischendurch, aufgrund fehlender Tiefe jedoch nicht als Gesellschaftskritik.

Bewertung vom 31.10.2025
Ich hab dich ganz genauso lieb
Knightley, Keira

Ich hab dich ganz genauso lieb


gut

Wunderschön gezeichnet, liebevolle Botschaft

Schauspielerin und nun auch Kinderbuch-Autorin Keira Knightley erzählt in - Ich hab dich ganz genauso lieb - von den Veränderungen für die ganze Familie, aber eben besonders auch das erstgeborene Kind, wenn ein Geschwisterkind die Familie vergrößert. Neid und Verlustängste vermischen sich angesichts des Raums, den das Neugeborene einnimmt und die Protagonistin der Geschichte versucht nach anfänglichen Schwierigkeiten Stück für Stück in ihre neue Rolle als große Schwester hineinzuwachsen. Dabei begleiten wir sie in eine magische Traumwelt, die die kindliche Fantasie beflügelt und in der einige Abenteuer auf sie und Babyschwester Lily warten.

Das Eindrücklichste und Auffälligste sind in diesem Kinderbuch für mich die wunderschönen Illustrationen der Geschichte, die im A4 Format besonders gut zur Geltung kommen. Sowohl zeichnerisch als auch in der Farbgestaltung wirken die Bilder sehr harmonisch, fast schon künstlerisch. Ein echtes Highlight für das Auge! Es lohnt sich fast die Geschichte allein über die Zeichnungen zu verfolgen. Allerdings strahlen die Zeichnungen eine gewisse Reife aus, die gerade jüngere Kinder überfordern könnte. Im Ästhetikempfinden richten sie sich für mich eher an ältere Kinder und Erwachsene.

Sprachlich konnte mich das Buch nicht ganz überzeugen. Die Geschichte und der Ausdruck wirken an einigen Stellen nicht ganz rund und etwas holperig, was irgendwie schade angesichts der schönen Gestaltung der Seiten ist.

Insgesamt ist - Ich hab dich ganz genauso lieb - eine tolle Idee, die zeichnerisch kunstvoll umgesetzt wurde, mich im Erzählen und Ausdruck jedoch nicht vollkommen überzeugen kann. Für jüngere Kinder ist die Erzählung aus meiner Sicht zu komplex und die Zeichnungen zu künstlerisch. Ein Highlight im Bücherregal ist das Buch mit dem wunderschönen Cover jedoch allemal!

Bewertung vom 30.10.2025
Lasst mich einfach hier sitzen und Yakisoba essen
Tsumura, Kikuko

Lasst mich einfach hier sitzen und Yakisoba essen


sehr gut

Ein einfühlsamer, kurzweiliger Einblick in die japanische Arbeitswelt und den Weg aus einem Burn Out

Die Ich-Erzählerin in - Lasst mich einfach hier sitzen und Yakisoba essen - ist in ihren Dreißigern und kämpft noch immer mit den Nachwirkungen ihres arbeitsbedingten Burn Outs. Dieser hat sie gezwungen wieder bei ihren Eltern einzuziehen und ihr Verhältnis zur Arbeit neu zu überdenken. Doch welchen Job möchte und kann sie überhaupt ausführen und dabei gesund bleiben? Auf genau diesem Weg und ihrer Probezeit in verschiedenen Jobs begleitet der Roman die Ich-Erzählerin. Jeder Arbeitsversuch bildet ein eigenes Kapitel und wirkt fast wie eine eigene kleine Kurzgeschichte.

Dabei erfährt die Leserin nicht nur viel über die Ich - Erzählerin sondern erhält ebenso Einblicke in verschiedene Arbeitsbereiche und Abhängigkeitsbeziehungen darin in der modernen japanischen Arbeitswelt. Immer wieder baut die Autorin surreale, fast märchenhafte Elemente in die Erzählung ein, die so dem Erleben der Ich-Erzählerin und der Geschichte trotz aller Schwere eine gewisse Leichtigkeit verleihen. In jeder Geschichte geht die Autorin zudem über die Arbeitswelt und Ich-Erzählerin hinaus und zeichnet ein zuweilen nachdenklich machendes Bild der japanischen Gesellschaft und dem Arbeitsethos darin auf.

Den Rahmen jedes Kapitels und Arbeitsversuchs bildet die Frage nach dem Verhältnis des Individuums zur Arbeit in modernen kapitalistischen Gesellschaften. Entfremdung und Identifikation als zentrale Konzepte behandelt die Autorin fast schon spielerisch, ebenso die Herausforderung für das Individuum in diesem Spannungsfeld eine Balance zu finden. Das Ende war für mich jedoch nicht ganz schlüssig und angesichts der zuvor in der Handlung aufgezeigten strukturellen Probleme im Arbeitsmarkt zu seicht und unkritisch.

Sprachlich überzeugt die Autorin mit einem sanften, liebevollen und wachen Blick in das Innenleben ihrer Protagonistin, das sie in einer ganz eigenen Mischung aus Nüchternheit und Empathie in der Sprache ausleuchtet.

Lasst mich einfach hier Sitzen und Yakisoba essen, ist ein langsames, fast schon zartes und meditatives Buch, das eine verwundete Seele beim Heilen begleitet und zum Nachdenken über das Verhältnis von Arbeit und Individuum in modernen Gesellschaften anregt.

Bewertung vom 20.10.2025
Schwanentage
Yueran, Zhang

Schwanentage


ausgezeichnet

Träume gehören zu den Privilegien der Reichen

In Schwanentage eröffnet Zhang Yueran einen seltenen und oft verborgenen Blick in die chinesische Gesellschaft, ihre Oberschicht und die ungeschriebenen Regeln des sozialen Miteinanders, ebenso wie des mächtigen Einparteienstaats.

Protagonistin Yu Ling ist seit vielen Jahren Kindermädchen des 7 Jährigen Kuan Kuan in einer wohlhabenden, einflussreichen chinesischen Familie: die Mutter Künstlerin und Tochter eines einflussreichen Funktionärs, der Vater erfolgreich in der Wirtschaft, nicht zuletzt dank der Kontakte des Schwiegervaters. Als Yu Ling sich unter Einfluss ihres Partners auf eine Entführung Kuans Kuans einlässt, um selbst am Wohlstand zu partizipieren, wird zeitgleich der mächtige Großvater und mit ihm die ganze Familie in einen Korruptionsskandal verwickelt und Yu Lings Plan nimmt eine vollkommen unerwartete Wendung.

Über Yu Lings Leben in der Familie vermittelt der Roman Einblicke in die Welt der (städtischen) chinesischen Oberschicht, und der besonderen Rolle von Angestellten, oft aus ländlichen Regionen, darin. Eine Illusion von Zugehörigkeit umgibt Yu Ling durch ihre Partizipation am Lebensstil der Familie, Limousinen, teuere Theaterplätze und doch ist nichts davon ihre eigentliche Welt und kann ihr jederzeit mit einem Schlag genommen werden. Die Illusion von Zugehörigkeit zerplatzt so regelmäßig, wenn Angestellte wie Yu Ling auf sich selbst und ihre Herkunft im Klassensystem zurückgedrängt werden. Wie ein falsches Leben in Widersprüchen wirkt Yu Lings Existenz: Nähe und vollständige Abhängigkeit, in Verbindung mit dem Klassensystem ein Leben in unbegreiflicher Fallhöhe, vermeintlicher Luxus, jedoch ohne echte Freiheit.

Die Klassenunterschiede werden dabei insbesondere auch im Kontrast von Yu Lings Familie und der der Hausherrin überdeutlich. Die Rolle als Frau der Arbeiterschicht ist gezeichnet von (männlicher) Gewalt und Entbehrungen, und dies über Generationen hinweg, sodass dies in Yu Lings Umfeld bereits als völlige Normalität gilt.

Am Beispiel der Hausherren zeichnet Yueran wiederum den Aufstieg von Funktionären nach und gibt Einblicke in die Mechanismen von Macht und Herrschaft im modernen China.

Seite für Seite arbeitet die Autorin so in der Geschichte um Yu Ling und ihre Arbeitgeber heraus, wie Klassenschranken im Einparteienstaat China wirken und wie gleichzeitig Frauen in jeder Klassenlage in dem patriarchal geprägten System diskriminiert werden. Besonders erhellend sind dabei die Narrative, die Yueran pointiert aufdeckt und mit denen sowohl Frauen der Arbeiterklasse als auch der Funktionärseliten ihre Rolle im System internalisiert haben und diese kaum in Frage stellen.

Dass all dies so eindrucksvoll gelingt, ist auch der besonderen, schnörkellosen Sprache der Autorin zu verdanken, die distanziert und zugleich mit Tiefe und analytischem Blick die Abhängigkeiten, Zwänge und Möglichkeiten nach Herkunft, Klassenlage und Geschlecht ausleuchtet.

So wird der Roman, der als Entführungsgeschichte beginnt, zu einem Lehrstück über die Funktionsweise der chinesischen Gesellschaft und der Rolle von Frauen darin. Absolute Empfehlung!

Bewertung vom 01.10.2025
Der OktoBus auf großer Fahrt
Gerhardt, Sven;Dulleck, Nina

Der OktoBus auf großer Fahrt


ausgezeichnet

Kurzweiliges Lese- und Bilderbucherlebnis: liebevoll erzählt und wundervoll gezeichnet, wie ein Regenbogen

Was für ein tolles Kinderbuch! Der Oktobus unternimmt eine Reise, sein Fahrer Otto der Oktopus, ebenso wie die Tiere an jeder Haltestelle sind in freudiger Erwartung auf ihr Ziel. Doch dieses Ziel rückt beim Lesen angenehm in den Hintergrund, denn das Entdecken der Passagiere, ihre Zeichnung und Charakterisierungen sind bereits ein Erlebnis für sich, das jede Seite zu einem Vergnügen macht. Egal ob Otto selbst oder Gerlinde die Giraffe, Carlo das Chamäleon, Krokodil Friedhelm, Ingo Flamingo, Faultier Fanni oder Dackel Rudi, jedes Tier wird in seinen Besonderheiten liebevoll beschrieben. So wird die Geschichte zu einem wundervollen Symbol für den Wert von Vielfalt. Der geschickt eingebundene Hinweis auf die unpünktliche Bahn, bringt darüber hinaus sicher auch vorlesende Eltern zum Schmunzeln.

Sowohl die Geschichte als auch die wundervollen Illustrationen überzeugen auf ganzer Linie. Hier fallen nicht nur die liebevoll gezeichneten Tiere auf, sondern auch die Farbwahl ist von allen Farben des Regenbogens bestimmt und sorgfältig aufeinander abgestimmt, sodass jede Seite für sich ein kleines Erlebnis und Augenschmaus ist. Das Buch lädt so neben dem Lesen auch zum Entdecken ein, fast wie ein Wimmelbild.

Der Oktobus auf großer Fahrt ist ein ebenso liebevoll erzähltes, wie wundervoll gezeichnetes Buch zum Vorlesen und Entdecken!

Bewertung vom 01.10.2025
Dr. No
Everett, Percival

Dr. No


ausgezeichnet

Gesellschaftskritisch, satirisch, anspruchsvoll

Wer hätte gedacht, dass ein Roman über Nichts so klug und humorvoll sein und dabei gleichzeitig ganz tief den Finger in die Wunden unserer Gesellschaft legen kann? Vom Attentat auf Martin Luther King bis in die Gegenwart verwandelt Percival Everett seine pointierte Gesellschaftskritik in einen skurrilen, humorvollen und nicht weniger anspruchsvollen Spionageroman im Stile James Bonds. Wer hier der Bond ist, bleibt gewiss oft zweifelhaft.

Im Mittelpunkt: Wala Kitu, Mitte 30, Professor an der Brown University, brillanter Mathematiker und Experte für nichts. Eines Tages wird Wala vom Milliardär John Sill angesprochen, der seine Unterstützung benötigt, um nicht weniger als ein Superschurke zu werden und die moderne USA zu zerstören. Und dafür benötigt er nichts, für das zufällig Kitu der Experte ist. Klingt verwirrend und skurril? Ist es auch! Und genau das macht den Reiz dieses Romans aus, der sich stets zwischen Philosophischer Theorie, Mathematik sowie Logik und Paradoxie bewegt.

Als Bond-Girl firmiert in einer spektakulären Verwandlung Walas Kollegin Professor Eigen Vector. In der Auseinandersetzung mit Vector spielt Everett nicht nur mit dem Klischee des Bond Girls, zu dem Eigen erst wird, nachdem sie unter Drogen gesetzt und ihr komplette Identität als intelligente Frau abgelegt hat, sondern thematisiert auch andere Formen von Sexismus in der modernen Gesellschaft, zum Beispiel in der Gehaltsstruktur.

Ich denke der Roman macht am meisten Spaß, wenn man die philosophischen, logischen und mathematischen Aspekte darin tatsächlich mitdenkt und versteht, ohne dass ich an der Stelle behaupten möchte, dass mir das durchgängig gelungen ist. Was oft so absurd klingt, ist es jedoch tatsächlich nicht, sondern verweist auf zentrale wissenschaftliche, philosophische Fragestellungen. Sicher nicht zufällig kommen sehr schnell Sartre und Heidegger in den Sinn, die dem Nichts eben viel mehr als nichts zuschreiben, sondern, obgleich durchaus theoretisch different, es als zentrale Bedingung des Seins herleiten. Ich habe den Eindruck, dass der Autor sich hier richtig austoben konnte und so geschrieben hat, wie er selbst denkt und fühlt, ohne dabei auf kommerzielle Aspekte Rücksicht zu nehmen. Für mich ein echter Lichtblick in der Fülle aktueller Literatur, in der sich gefühlt jede Journalistin/Schauspielerin/Influencerin etc. als Schriftstellerin berufen fühlt.

Ich mochte den Humor unglaublich gern, so wunderbar trocken und klug. Trotz aller Bissigkeit fand ich gerade die Einblicke in die Lebenswelt im Autismus-Spektrum sehr gut herausgearbeitet, ebenso wie die beginnende emotionale Bindung zwischen Eigen und Wala.

Everest beweist in Dr. No einmal mehr, was für ein aufmerksamer Beobachter unserer Gesellschaft er ist, denn neben der rassismuskritischen Perspektive, die gewissermaßen Grundlage des Romans ist, integriert er u.a. auch Kirchenkritik und Sexismus sehr deutlich in den Plot.

Für mich war Dr. No ein echtes Highlight, das ich unbedingt allen ans Herz lege, die sich gern in theoretische Konzepte reindenken und bitterböse Gesellschaftskritik zu schätzen wissen!

Bewertung vom 27.09.2025
Hustle
Bähr, Julia

Hustle


sehr gut

DIE MORAL VON DER GESCHICHT: EHRLICH UND EHRBAR SEIN, LOHNT IM KAPITALISMUS NICHT!

Leonie Hendricks, beinahe 30 Jahre alt, studierte Biologin, Pflanzenexpertin, Hobby: Schimmelpilzexperimente. Schon die Hauptprotagonistin in diesem Roman ist so liebevoll, klug und skurril gezeichnet, dass es Lust macht, ihren Lebensweg für ein paar Stunden zu verfolgen. Nachdem Leonie mit einer Sabotageaktion ihren letzten Arbeitsplatz bei einem ethisch umstrittenen Saatguthersteller aufgegeben hat, ist sie zunächst in ihrem Kinderzimmer in Bocholt bei ihren stets streitenden Eltern gestrandet. Da dies nun überhaupt nicht der Ort ist, den man mit fast 30 im Leben erreichen möchte, kommt Leonie das Jobangebot im Münchner Staatsarchiv gerade gelegen. Hauptsache raus, Hauptsache Arbeit, auch wenn es in Bayern ist und der Job nicht viel Spannung verspricht.

Der Neustart in München gestaltet sich jedoch nicht nur kulturell für Leonie herausfordernd. Anschluss zu finden fällt ihr schwer, sie wird von ungewohnter Einsamkeit begleitet, der sie mit One Night Stands für ein paar Stunden zu entfliehen versucht. Schnell wird ihr schmerzlich bewusst, dass das Leben in München teuer ist und sie mit ihrem Gehalt nicht einmal eine 1,5 Zimmer Wohnung anmieten kann. Wie machen das all die anderen Menschen in München, die dazu auch noch immer adrett in Kaschmir gekleidet und perfekt gestyled in teueren Restaurants sitzen?

Als sie zufällig auf die eindrucksvolle Genevieve trifft, meint sie eine Verbundenheit zu spüren, und von Genevieve und deren Freundinnen Yasmin und Kim, soll sie schließlich auch erfahren, wie man in München gut leben und sein Dasein genießen kann. Doch auch dies kommt nicht ohne Preis. Ist Leonie bereit diesen zu zahlen?

Gelungen umgesetzt sind für mich die Themen Schwesternschaft und Freundschaft im Roman. Leonie, Yasmin, Genevieve und Kim bilden ein imposantes und inspirierendes Freundinnengespann, das sich erfolgreich durch patriarchal-kapitalistische Strukturen navigiert und gegenseitig unterstützt.

Für mich nicht ganz konsequent und schlüssig umgesetzt ist der vermeintlich kapitalismuskritische Aspekt im Roman. Letztlich bedient Leonie, ebenso wie ihre Freundinnen die gleichen kapitalistischen Mechanismen und ist von bestimmten Ausdrucksformen kapitalistischen Wohlstands, wie Kleidung und Aussehen, fasziniert, eifert dem sogar nach. Hier habe ich die an anderen Stellen durchaus berechtigte Kritik an kapitalistischer Funktionslogik, wie unbezahlbar hohen Mieten oder Feinkostläden für kleine Hunde, als nicht konsequent erlebt. Ich denke mir fehlt an der Stelle ein revolutionäres Element im Plot, denn bei allen clandestinen Aktivitäten der Freundinnen, sind diese nicht geeignet ein System zu stürzen, sondern eher sich selbst eine Nische darin zu suchen, es damit zu stabilisieren und sich ein gutes Leben zu machen. Die grundlegende Funktionslogik des Kapitalismus wird so nicht wirklich in Frage gestellt, ebenso wenig wie die Rolle der einzelnen Person darin. Leonie und ihre Freundinnen reflektieren nur ansatzweise sowie eher oberflächlich und plakativ, wie sie selbst kapitalistisch-patriarchale Anerkennungsformen internalisiert haben und mit ihrer Lebensweise reproduzieren.

Unterhaltsam ist diese Geschichte jedoch allemal! Und so bleibt die Moral von der Geschicht: ehrlich und ehrbar sein, lohnt im Kapitalismus nicht!

Bewertung vom 19.09.2025
Katabasis
Kuang, R. F.

Katabasis


sehr gut

Endlich ein neues Werk von Rebecca F. Kuang! Wie von der Autorin gewohnt hervorragend geschrieben und natürlich bereits auf den ersten Seiten wieder mit klugen Verweisen in Philosophie und Mythologie, die es zu entschlüsseln gilt. Im ersten Moment erscheint es viel, so schnell werden Figuren und Ereignisse eingeführt, Alice, Peter, Prof. Grimes. Aber gleichzeitig entsteht so auch unmittelbar Alice Welt vor dem inneren Auge, ihr Campus, Arbeitsplatz, die Hölle und natürlich die Magie!

Aber zunächst von vorn: Alice studiert Analytische Magie in Cambridge. Durch ein Versehen bei einem Experiment ist ihr Doktorvater Prof. Grimes verunglückt und nun in der Hölle gelandet. Da Alice glaubt auf Grimes für ihre akademische Zukunft angewiesen zu sein, fasst sie einen Plan: sie geht in die Hölle, um Grimes zurückzuholen. Unverhofft schließt sich ihr Kollege und Erzfeind Peter diesem Höllentrip an. Was die beiden in der Hölle erwartet, soll sich oft nicht wesentlich von ihrem realen akademischen Alltag als Nachwuchswissenschaftler:innen unterscheiden. Werden die beiden Grimes finden und wenn ja, werden sie wohlbehalten zurückkommen und zu welchem Preis?

Mich hat besonders die doppeldeutige und bitterböse Botschaft des Romans abgeholt: Wissenschaft ist die Hölle - genau das ist sie für so viele junge Akademikerinnen, die in absoluter Abhängigkeit ihrer Doktorväter, ja es sind tatsächlich meist Männer, versuchen sich weiter zu qualifizieren. Da wird die Liebe zum Fach schnell zur ganz persönlichen Hölle. So viele Details dieser Abhängigkeitsbeziehung baut die Autorin in Katabasis ein, zum Beispiel die Erwartung die eigene Forschung zurück zu stecken und dafür dem Betreuer uneingeschränkt zur Verfügung zu stehen, natürlich ohne, dass der eigene Name in den entsprechenden Publikationen erwähnt würde oder die langen Arbeitszeiten weit über das honorierte Maß hinaus. All dies transportiert Kuang in eine magische Welt, in der Alice tatsächlich in die Hölle geht und dort auch auf andere Opfer ihres Professors und des Systems trifft.

An Alice Geschichte werden außerdem die Widersprüche und Entwicklungen innerhalb des Feminismus deutlich. Die Autorin arbeitet im Gespräch zwischen der Vertrauensperson Helen und Alice pointiert die Positionen zu und innerhalb des Feminismus heraus und macht deutlich, dass patriarchale Strukturen eben auch wirken, wenn man versucht sie zu ignorieren. Alice spürt das am eigenen Leib, so sehr sie es ignorieren möchte. Wobei sich Klassismus und Sexismus im Falle Alice vermischen.

All das ist faszinierend, inspirierend und amüsant zugleich und genau auf dieser Ebene, als Kritik an patriarchalen Machtstrukturen in der Wissenschaft funktioniert der Roman für mich wunderbar!

Was für mich nicht durchgängig gelungen ist, ist die Transformation dieser Kritik in die Hölle. Der Weg durch die verschiedenen Höfe der Hölle hat sich für mich insbesondere im letzten Drittel oft eher zäh gelesen. Hinzu kamen verschiedene Logikfehler.

Die Geschichte zwischen Alice und Peter hat mich auf einer Ebene sehr berührt. Sowohl Alice als auch Peter kämpfen gegen eine Objektifizierung, als Lustobjekt und als Wohltätigkeitsprojekt. So haben beide erfahren, was es bedeutet ihrer Individualität beraubt zu werden. Gerade dieser Aspekt ist für mich sehr gut herausgearbeitet von Kuang. Die Entwicklung der sozialen Beziehung zwischen den beiden war für mich jedoch zum Ende hin zu klischeebeladen und vorhersehbar.

Auch wenn der Roman für mich Schwächen in der Umsetzung zeigt, ist er noch immer eine sehr gute Lektüre, die zum Nachdenken anregt und im Gedächtnis bleibt. Ich habe noch keine andere so scharfe, erlebbare Kritik an patriarchalen Machtstrukturen in der Wissenschaft gelesen, auch wenn für mich am Ende der Blick auf mögliche strukturelle Veränderungen fehlte. Das magische Höllensetting hat mich für ein paar Tage in andere Welten eintauchen lassen und wunderbar unterhalten.

Bewertung vom 04.09.2025
Der Schlaf der Anderen (eBook, ePUB)
Noort, Tamar

Der Schlaf der Anderen (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Über Schlaflosigkeit, zwei Frauen und die Kraft der Freundschaft


Janis Templin ist seit 2 Jahren Nachtwache im Schlaflabor. Die Krankenschwester hat zuvor auf der Orthopädiestation im selben Klinikum gearbeitet. Als Nachtwache hat sie nun einen völlig anderen Rhythmus und Aufgabenbereich: sie schaut anderen Menschen beim Schlafen zu. Eine dieser Patientinnen ist Sina. Sina wollte einmal Künstlerin werden, nun ist sie Lehrerin, Mutter, Ehefrau und trotzdem seltsam einsam und unglücklich, als ob sie sich ab einem bestimmten Punkt in ihrem Leben verloren hat. Das drückt sich nicht zuletzt in ihrer Schlaflosigkeit aus, die sie zu Janis ins Schlaflabor geführt hat.

Bereits nach kurzer Zeit verspürt Janis eine seltsame Verbundenheit mit der Lehrerin, die in ihrem Alter ist, ihr Geburtstag ist am selben Tag mit genau einem Jahr unterschied. Noch bevor Sina alle Elektroden angelegt bekommen hat, führt diese Vertrautheit, die Janis spürt, dazu, dass sie Grenzen überschreitet, zunächst ist es nur das vertrauliche Du in der Ansprache, doch dabei soll es im Laufe der Nacht nicht bleiben.

Vor dem Hintergrund dieses Settings begleitet Der Schlaf der Anderen zwei Frauen, in der Mitte ihres Lebens, die seltsam verloren scheinen und sich vielleicht gerade deshalb in der anderen erkennen und aneinander festhalten.

Die Perspektive alterniert zwischen Janis und Sina, wobei die Autorin raffiniert in der Form variiert. Während in etwa der ersten Hälfte Sina in der Ich-Form erzählt und Janis Perspektive über eine Erzählerin vermittelt wird, wird dies im Laufe der Erzählung gespiegelt und wir lernen Janis in der Ich-Form kennen und Sina über die Erzählerin.

Sensibel zeichnet Tamar Noort so zwei Frauenleben und eine Begegnung dieser nach. Wann begann Sinas Schlaflosigkeit? Wann hat sie sich selbst verloren? Wie hat es Janis ins Schlaflabor verschlagen? Die Frauen geben sich gegenseitig Einblicke in ihr Leben, Sinas abweisende Mutter und Janis Trauer, um den Tod der ihren, und zeigen so ein Verständnis und Verstehen, dass beide sonst im Alltag mit anderem Menschen vermissen. Was aus dieser Begegnung zweier Schlaflosen erwächst, ist im besten Fall Mut das eigene Leben zu ändern, bei sich selbst anzukommen und so auch wieder die Ruhe der Nacht zu finden.

Über Janis, der Krankenschwester, und Sina, der Lehrerin, erfasst Noort auch scharfsichtig die Herausforderungen dieser Berufsgruppen und die immer schnelllebigere Gesellschaft in der die menschlichen Bedürfnisse der und des Einzelnen immer weniger Beachtung finden und der Effizienz untergeordnet werden. Dies zeigt sich nicht zuletzt in unserem Umgang mit Kindern wie Jugendlichen und kranken Menschen und den Personen, die diesen Menschen, oft zulasten ihrer eigenen Gesundheit versuchen in einem dysfunktionalen System gerecht zu werden.

Der Schlaf der Anderen ist ein sensibler und klug konstruierter Roman, der zentrale Fragen der Gegenwart aufgreift und an zwei Frauenleben erlebbar macht. Ganz klare Empfehlung!

Bewertung vom 27.08.2025
Onigiri
Kuhn, Yuko

Onigiri


weniger gut

Viele lose Fäden und leider wenig Tiefe und Reflexion

Halbjapanerin Aki hat seit jeher ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter. Mit der beginnenden Demenz von Mutter Keiko blickt sie auf diese Beziehung mit anderen Augen und einer neuen Dringlichkeit. Als sie dann noch vom Tod ihrer japanischen Großmutter erfährt, fällt sie einen Entschluss: ihre Mutter noch einmal in deren Heimat Japan zu bringen. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich der Roman, wobei knapp die erste Hälfte der Erzählung komplett der Aufarbeitung Keikos Vergangenheit und auch Akis Rolle darin gewidmet ist. Über einzelne Anekdoten werden Schlaglichter auf prägende Ereignisse geworfen, der Weg der Mutter nach Deutschland, ihr Ankommen im fremden Land und seiner Kultur, das Kennenlernen, die Heirat und Scheidung der Eltern, die vielfältigen Konflikte mit der dominanten, wohlhabenden Schwiegerfamilie und die schwierige Zeit nach der Scheidung. Auch während der Reise nach Japan spielt die Autorin mit Rückblicken, hier steht die japanische Familie mehr im Mittelpunkt.
Onigiri verpackt schwere Themen leicht - das ist Schwäche und Stärke des Romans zugleich. Als kurzweilige Unterhaltung, die in die Lebenswelt einer Tochter mit einer Mutter mit beginnender Demenz einführt und ein Aufwachsen zwischen Kulturen thematisiert funktioniert der Roman wunderbar. Hier vermittelt die Autorin authentischen Einblicke in die japanische Kultur, kontrastiert die zurückgenommene, japanische Kultur die Aki mit ihrer Mutter erlebt und das privilegierte Leben der deutschen Oberschicht bei den Großeltern. Auch die zarte Beschreibung der Demenz der Mutter und der Herausforderungen als Tochter damit umzugehen, haben mir im Ansatz gefallen. Mit Blick auf Keiko werden die Herausforderungen des Ankommens in Deutschland und seiner fremden Kultur und die latente Ablehnung durch die Schwiegerfamilie aufgegriffen.

In einer weiteren Dimension beschreibt Kuhn die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, die geprägt ist von Abhängigkeit (der Mutter) und Verantwortlichkeit (der Tochter). Hier kontrastiert die Autorin mit Akis Bruder Kenta, der auf den ersten Blick gelassener mit der Situation umgeht, jedoch gleichzeitig auf seine Art durch die Vergangenheit und Eltern geprägt ist, und keine eigene Familie gründet. Gerade der Aspekt der Mutter-Tochter-Beziehung war für mich der noch stärkste im Roman was die qualitative Aufarbeitung betrifft. Hier gibt es immer wieder Momente und Ansätze einer Tiefe, die der Roman sonst missen lässt und auch an diesen Stellen gerne weiter aufgegriffen hätte werden können. Auch die Prägung in einer Familie, in der beide Elternteile psychisch sehr belastet sind, spielt eine Rolle, wird jedoch nicht wirklich auserzählt.

Insgesamt konnte mich der Roman leider nicht überzeugen und lässt mich etwas frustriert zurück. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Wie der einleitende Überblick bereits verdeutlicht, möchte der Roman viele Themen auf wenigen Seiten behandeln, was zu Lasten von Tiefe und Relevanz geht. Die Geschichte entwickelt sich sehr anekdotenhaft, die eigentliche Reise findet etwa bis zur Hälfte des Romans überhaupt nicht statt, die einführenden Rückblicke sind für sich interessant, stehen aber oft atomisiert, ohne, dass die Autorin sich in die Tiefe einer Analyse wagt. Das ist leider ein Phänomen, dass ich zuletzt öfter in autofiktionalen Romanen beobachtet habe. Die angesprochenen Themen haben alle für sich ihre Berechtigung, sind sicher prägend, werden jedoch kaum in einen Kontext gesetzt und nicht wirklich entwickelt und auserzählt.

Sehr auffällig und mit Wirkung auf fast alle behandelten Themen im Roman ist das völlige Fehlen einer Reflexion der sehr privilegierten Klassenlage in der westdeutschen Oberschicht der Ich-Erzählerin und ihrer Familie. Geld spielt an keiner Stelle eine einschränkende Rolle für Reisen, Ausbildung und Pflege und auch Erwerbstätigkeit und Existenzsicherung sind keine Sorgen mit denen sich die Figuren in Kuhns Roman herumschlagen müssen.

Beim Thema Demenz hat mich der Roman an diesem Punkt, trotz der durchaus zarten Beschreibungen des Erlebens der Ich-Erzählerin, vollständig verloren. Der Roman wirkte hier auf mich wie eine emotional angehauchte Nabelschau Akis, ohne wirkliche Reflexion - viele Härten des Alltags Betroffener und Angehöriger finden nicht statt, spielen im privilegierten Milieu der Ich-Erzählerin offensichtlich auch gar keine Rolle: nicht-finanzierbare Eigenanteile im Heim, überhaupt das Finden eines guten Heimplatzes, der Kampf mit Behörden um Pflegegrade und Unterstützung, gefährliche Situationen im Alltag, Vereinbarkeit von Sorge, Pflege und Job und Familie, der ganze emotional, organisatorische, kraftzehrende Alltag - nichts davon begleitet die Ich-Erzählerin. Onigiri entwickelt sich so zu einem anekdotischen Roman, ohne wirkliche Tiefe, im Kreisen einer Ich-Erzählerin aus einem sehr privilegierten Milieu um sich selbst.