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zuckerblueten
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Dresden

Bewertungen

Insgesamt 8 Bewertungen
Bewertung vom 17.05.2025
Tisch 5
Dörp, Thorsten

Tisch 5


ausgezeichnet

Die Geschichte einer Familie, stilsicher in einer Kurzgeschichte verpackt

"Tisch 5" ist eine Kurzgeschichte ... aber eine, die es in sich hat. Sie zählt zu denen, die dich noch länger beschäftigen, dich aufwühlen und nachdenken lassen.

Im Fokus steht dieser schwere, massive Holztisch, der die Familie vereint, sie trennt, an dem sich Dramen abspielen, der aber auch Raum für Begegnungen und Gespräche bietet. Er ist Dreh-und Angelpunkt des Familienlebens, Zeitzeuge des Alltags.

Was für andere der Stoff für einen dicken Roman wäre, packt der Autor gekonnt und stilsicher in diese Kurzgeschichte. Beim Lesen fühle ich mich als der stille Gast, der einfach durch das offene Fenster schaut und zuhört. Ich spüre Liebe und deren Vergänglichkeit, Wehmut und schmerzliche Momente, aber auch Hoffnung und schöne Erinnerungen.

Diese Geschichte bleibt. Du schaust dir deinen eigenen Tisch an, blickst in die Vergangenheit, schaust auf deine Träume und Wünsche. Er ist ein Spiegel deines Alltags und deines Lebens.

Bewertung vom 07.05.2025
Beeren pflücken
Peters, Amanda

Beeren pflücken


ausgezeichnet

Wie jedes Jahr im Sommer kommen auch im Juli 1962 die Eltern mit ihren fünf Kindern von Kanada nach Maine, um bei der Beerenernte zu helfen. Die Familie gehört den Mi`kmaq an, einer indianischen Minderheit. Ebenso wie die anderen Erntehelfer auch, sichern sie sich durch die schwere Saisonarbeit ein gutes Stück ihres Einkommens. Jeder muss mithelfen, nur die Kleinsten sind noch von der Arbeit ausgenommen. Sie beschäftigen sich weitestgehend selbst, spielen am Rand der Felder, warten auf den Abend.

Joe verbringt seine Pause mit der Schwester Ruthie, die gerade einmal vier Jahre alt ist und damit zwei Jahre jünger als er selbst. In einem Moment der Unachtsamkeit verschwindet Ruthie und wird selbst nach tagelanger Suche nicht gefunden. Joe gibt sich die Schuld daran, über all die Jahre hinweg kann er sich von diesen Gedanken nicht lösen. Als er alt, krank und gebrechlich ist, schaut er mit viel Wehmut zurück. Doch er hat nie daran geglaubt, dass Ruthie tot sei.

Norma wächst nicht weit von den Feldern entfernt in einem gut bürgerlichen Haushalt auf. Ihr Vater ist Richter, ihre Mutter lässt kaum einen Blick von ihr. Sie liebt dieses Kind, gewährt ihr jedoch kaum Freiheiten, weil in ihr die ständige Angst des Verlustes lebt. Norma bleibt kaum Luft zum atmen, sie darf nicht wie andere Kindern unbeschwert in der Nachbarschaft spielen. Doch gleichermaßen begleiten sie andere Dinge, denn sie wird ständig von geheimnisvollen Träumen geplagt.

Ruthies und Normas Leben sind jedoch eng miteinander verwoben. Es wird noch viele Jahrzehnte dauern, bis die Wahrheit ans Licht kommt.

Mich zog dieses Buch von Beginn an in seinen Bann. Joes Prolog bietet einen gelungenen Einstieg. Wir lernen seine Familie kennen, erfahren von dem unheilvollen Verschwinden seiner kleinen Schwester. Gleichzeitig ist der große Schmerz in seinen Worten spürbar. Er beschreibt den Alltag auf den Feldern, schafft Nähe zu den Gegebenheiten und lässt an dieser Stelle bereits Einblicke in die tiefe Ausgrenzung zu.
Die Kapitel wechseln zwischen Joe und Norma. Es gibt zwei unterschiedliche Erzählperspektiven, die einerseits gut nachvollziehbar sind und zum anderen die Möglichkeit bieten, in zwei völlig unterschiedliche Welten einzutauchen. Der Autorin gelingt es sicher, dem Leser Normas Gefühlswelt und ihr Aufwachsen nahe zu bringen. Sie wirkt von der Liebe ihrer Mutter beinahe schon erdrückt, sie scheint schon früh Zweifel zu hegen, möchte jedoch auch ihre Mutter und ihr Handeln verstehen.

Sehr gut gefällt mir der Stil des Buches. Die beschreibende Art, zum Teil tatsächlich sehr detailreich, sorgt für ein leichtes Verständnis, der Leser fühlt sich inmitten der Situation. Die Worte sind bedacht, behutsam gewählt. Neben der eigentlichen Thematik, nämlich dem Verschwinden eines Kindes, spricht die Autorin auch die Ausgrenzung der indianischen Minderheit an. Sie gelten lediglich als "Durchreisende" mit wenig Rechten, sind billige Arbeitskräfte und eigentlich nimmt sich niemand wirklich wahr.

Für mich ist es ein Roman, den man nur ungern wieder aus den Händen legt. Er beschreibt Verlust, Schmerz, Zerrissenheit auf einfühlsame und bewegende Weise. Ein Buch für die stillen Stunden des Tages.

Bewertung vom 04.05.2025
Die innere Ordnung
Siehl, Harald

Die innere Ordnung


ausgezeichnet

Vera ist eine junge Mutter, die durch den Krieg ihren Mann verloren hat. Die Nachkriegsjahre erweisen sich, wie für viele andere auch, als schwierig. Sie lebt in einfachen Verhältnissen, wohnt über der Wäscherei, in der sie halbtags arbeitet und erzieht ihren Jungen mit all ihren Möglichkeiten. Durch einen Zufall lernt sie den Verwaltungsbeamten Eberhard kennen und verliebt sich in ihn. Die Heirat mit ihm verhilft ihr zum gesellschaftlichen Aufstieg.

Sie genießt ihre neue Rolle. Die Zeit des Verzichts ist vorbei. Es ist genug Geld vorhanden, um das Leben schön zu gestalten. Auch ihr gesellschaftliches Ansehen ist natürlich gestiegen. Eberhard klettert stetig auf der Karriereleiter und landet irgendwann im Direktorium. Für die Menschen ist sie die Gattin des hohen Beamten und gleichermaßen begegnen sie ihr: voller Respekt, mit gebührlichem Abstand.

Die Jahre vergehen und Vera sieht sich in ihren Wünschen erfüllt. Ihr Junge besucht die höhere Schule, studiert und macht einen entsprechenden Abschluss. Sie selbst fährt ein teures Auto, genießt Ausflüge und Reisen, kleidet sich stilvoll, zeigt sich auf Empfängen und Anlässen als lobenswerte Ehefrau. Natürlich weiß sie, dass sie Eberhard dies zu verdanken hat. Doch irgendwann kommt die Frage nach Eberhards Vergangenheit auf. Welche Schuld hat er während des Krieges auf sich geladen? Das zu hinterfragen bleibt für Vera eine Frage des Gewissens...

Zu Beginn hatte ich mir etwas anderes von diesem Buch erwartet. Ich ging davon aus, dass es deutlich mehr um Eberhards Vergangenheit und seine Stellung im Krieg gehen würde. Stattdessen taucht der Leser in das Leben, den Alltag von Vera und ihren Gedanken ein. Man begleitet sie über die Jahre und merkt rasch, wohin sich die Wertigkeiten dieser jungen Frau ab ihrer Hochzeit verschoben. Sie selbst bezeichnet Eberhard als "glückliche Fügung", sie liebt den neuen Lebensstil, nimmt ihre Rolle als perfekte Ehefrau gelungen wahr. "Die Etikette muss stimmen...", das zeigt sie mit ihren Kleidern, ihrem Auftreten, ihrem Handeln. Positiv anzumerken ist jedoch, dass sie Eberhard tatsächlich liebte, auch wenn über die Jahre hinweg die gesellschaftlichen Verpflichtungen häufig an vorderster Reihe kamen. Sie war sich ihrer Stellung sehr bewusst, ebenso der Verantwortung die damit einherging. Alles musste funktionieren.

Wahrscheinlich lassen sich damit auch der Buchtitel sowie Veras Leben am besten beschreiben. Gefühle und Emotionen blieben im Hintergrund. Der Alltag und die gesellschaftliche Stellung brachten feste Regeln mit sich. Doch für mich scheint es so, als hätte sich Vera wunderbar damit arrangiert. Das beweist sich auch am Ende des Buches.

Zugegeben, der Schreibstil erfordert an manchen Stellen viel Aufmerksamkeit. Doch es lohnt sich tatsächlich dranzubleiben, um in Veras Leben einzutauchen. Wahrscheinlich steht sie für nicht wenige Frauen der Nachkriegszeit, die sich nach einem besseren Leben und gesicherten Umständen gesehnt haben und bereit waren, dafür einen gewissen Preis zu zahlen. In meinen Augen absolut nichts Verwerfliches, da ich nicht wirklich das Gefühl hatte, das Vera etwas vermisste. Und schließlich entscheidet jeder selbst, welchen Weg er in seinem Leben gehen möchte.

Bewertung vom 20.04.2025
Sonnenvögel
Beser, Daniila;Mackenrodt, Richard

Sonnenvögel


ausgezeichnet

Der Roman erzählt von vier Menschen, die zum Teil auch familiär verbunden sind, in unterschiedlichen zeitlichen Ebenen. Eines jedoch ist ihnen gleich: Sie bringen den Mut auf, sich zu widersetzen. Sie trotzen gesellschaftlichen und politischen Zwängen, erheben sich gegen menschliche Gewalt und streben Veränderung an.

Franz arbeitet als Flößer, ein körperlich schwerer und dennoch notwendiger Beruf. Im 19. Jahrhundert zählt er damit gesellschaftlich zu einem Stand, der eher als gering anzusehen ist. Flößer gelten als wenig gebildet, erscheinen ungepflegt und mit unzureichenden Manieren. Seine große Liebe bleibt ihm dennoch nicht verwehrt. Sein großes Ziel ist es, die Situation seiner Berufsgruppe zu verbessern, Arbeitsbedingungen zu verändern und Rechte für die Arbeiter einzufordern.

Henning genießt sein unbeschwertes Leben in Südamerika. Doch als der Besitz seiner adeligen Familie in Deutschland vor dem Ruin steht, bricht er alle Brücken ab, um zurückzukehren und es zu retten. Dem Militär bleibt er auch als Offizier bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten treu. Doch ihn überkommen mehr und mehr Zweifel am System.

Viktoria wächst kurz nach dem 2. Weltkrieg in Kasachstan auf. Umgesiedelt von der Krim, hat es die Familie nicht immer leicht. In dem Mädchen wächst der Wunsch, Tierärztin zu werden. Doch stattdessen landet sie im Schlachthaus einer Kolchose. Diesen Umstand verdankt sie ihrem Ehemann, in den sie sich einst verliebte und der ihr das Leben zur Hölle macht. Das mündet in einer Tragödie.
Den Bogen in die aktuelle Zeit schließt Daniila. Sie flieht 2014 von der Krim ins Allgäu und begibt sich auf Spurensuche, was einst mit ihrer Großmutter Viktoria geschah.

Das Buch weist für mich einen sehr guten Lesefluss auf. Jedes Kapitel widmet sich einer der vier Personen und ist mit einer Jahreszahl versehen. Das schafft eine nachvollziehbare Handlung sowie Struktur. Man kann jeder dieser Lebenserzählungen deutlich folgen. Die detailreichen Beschreibungen formen Charaktere und der Leser fühlt sich mittendrin. Das gefällt mir sehr gut.

Meine persönliche Lieblingsfigur war Franz Beser. Fleißig, zielstrebig und mit einem gewissen Feingefühl für seine Mitmenschen. Das mag nicht außergewöhnlich klingen, betrachtet man jedoch die zeitliche Epoche seines Lebens, so ist gerade sein emphatisches Auftreten, die Hingebung zu seiner Frau und seine Fürsorge für andere sehr ausgeprägt und besonders.

Auch Viktoria empfand ich in großen Teilen ihres Lebens als sympathisch, ihre Entwicklung als bewegend. Sie erscheint mutig und bereit, sich Widrigkeiten entgegenzustellen. Dennoch kann ich ihre Handlungen im letzten Abschnitt ihres Lebens nicht nachvollziehen und kann dafür auch kein Verständnis aufbringen.

Der Roman schafft es, mich als Leser zu fesseln und zu begeistern. Die zeitlichen Umstände und Personen werden greifbar. Liebe, Verzweiflung, Hoffnung und Widerstand sind nah beieinander. Jede der Figuren verkörpert etwas Spezielles. Man lernt, dass der Mut zu Veränderung und die Entscheidung, sich einsetzen und kämpfen zu wollen, nicht immer der leichte Weg ist. Vielmehr erfordert es individuelle Stärke und einen außergewöhnlichen Willen. Gleichermaßen riskiert man, vieles verlieren zu können.

Für mich ein berührendes Buch, das oft nachdenklich stimmt, aber auch ein Wegweiser sein kann.

Bewertung vom 11.04.2025
Jenseits der Tränen
Pattis, Erika

Jenseits der Tränen


ausgezeichnet

Annes Kindheit steht von Beginn an unter keinem guten Stern. Wie sehr hatte sich ihre Mutter einen Jungen gewünscht, letztendlich blickte sie nach der Geburt nur in die Augen eines Mädchens. In den nächsten Jahren merkte die Tochter rasch, dass sie sich bemühen konnte, wie sie wollte, Liebe und echte Zuneigung würden ihr seitens der Mutter verwehrt bleiben. Sie konnte ihr nichts recht machen, war stets fehl am Platze und ertrug Beleidigungen und manchmal sogar Schläge.

Ganz anders verhielt sich ihr Vater. Er unternahm Ausflüge und spielte mit ihr gemeinsam in jungen Jahren, später erfuhr sie Verständnis und bekam praktische Hilfe. Er war da, wenn sie ihn brauchte. Sie liebte ihren Vater. Ersetzen konnte er die fehlende Mutterliebe jedoch nicht.

Kaum volljährig entschied sich Anne zu heiraten. Ihr war klar, dass es kein Traummann wäre, doch Dieter schien das Ticket in die Freiheit zu sein. Und sie wollte endlich frei sein, frei von ihrer Mutter. Die Jahre vergingen, sie bekam selbst zwei Kinder, doch ihre Ehe zerbrach zusehends mehr. Ihm waren Anne und die Kinder längst egal. Dementsprechend abweisend, egoistisch und verletzend verhielt er sich.

Auch die nächste Ehe scheiterte. Aus ihr gingen zwei Mädchen hervor. Anne hatte nun vier Kinder und stand vor dem Nichts. Durch eine zufällige Begegnung und viele lange Gespräche wurde ihr klar, dass sie ihr Leben ändern kann. Es lag in ihrer Hand, es auszurichten und einen Neuanfang zu wagen...
Dieses wunderbare Buch erzählt die wahre Geschichte einer Frau, die viele Jahre unter einer Mutter litt, die keinerlei Liebe für sie empfand. Gleichzeitig zeigt es die Auswirkungen einer solchen Kindheit auf das spätere Leben. Anne fehlt es auch im Erwachsenenalter an einem gesunden Selbstwertgefühl, sie lässt zu, das andere über sie bestimmen, sie ausnutzen. Grenzen zu setzen und eigene Bedürfnisse zu äußern, das hat sie nie gelernt. Im Gegenteil, sie tat alles, um andere nicht zu verärgern und opferte sich auf. Dementsprechend schlecht ging nicht nur ihre Mutter mit ihr um, auch spätere Partner machten sie zu ihrem Opfer. Sie erlebte physische und psychische Gewalt.

Heute lebt Anne ein selbstbestimmtes Leben. Sie hat sich beruflich nach ihren Wünschen verändert, ihre Kinder sind erwachsen und sie liebt sie. Ein Außenstehender würde vielleicht fragen, warum sie solange damit wartete. Menschen, die ähnlich aufwuchsen, können sie ganz sicher verstehen. Sie empfinden ähnlichen Schmerz, können Verhaltensweisen und jahrelange Bemühungen nachvollziehen. Selbst (aussichtslose) Hoffnungen kommen uns bekannt vor. Doch wir bleiben nicht unser Leben lang Opfer, das hatte Anne bewiesen....

Ein wirklich wunderbares Buch, das mit einem bildhaften und berührenden Stil arbeitet, Emotionen jeder Art weckt und eindringlich aufrüttelt. Ein Kompliment der Autorin, die "Annes" Geschichte bewegend erzählt.

Bewertung vom 08.04.2025
Laurenzerberg   Roman
Zielinski, Christoph

Laurenzerberg Roman


ausgezeichnet

Der Autor erzählt von jüdischen Emigranten, die in den 60er Jahren nach Wien kamen, auf der Suche nach einem Neuanfang. Viele von ihnen haben die Schrecken des zweiten Weltkriegs selbst miterleben müssen, wurden in Konzentrationslagern gefangen gehalten oder mussten untertauchen. Wenige der Figuren waren bereits die Nachkommen dieser Menschen.

Eines hatten sie gemeinsam. Sie lebten nach dem Krieg im kommunistischen Polen. Einige litten unter den politischen Umständen, andere wiederum erhofften sich in Österreich einfach ein besseres Leben für sich und ihre Kinder. Für manch einen galt Wien lediglich als Zwischenstation, um später nach Israel oder den USA ausreisen zu dürfen.

Für den Neuanfang gaben sie alles Bisherige auf, ließen die vermeintliche Heimat, ihre Verwandten und Freunde, ihre Arbeit hinter sich. Auch Wacek, seine Frau Fela und ihr gemeinsames Kind strebten nach einem anderen Leben. Sie hatten in Wien lediglich seine deutlich ältere Cousine Ada und deren Mann, der gleichzeitig Wacek Arbeit und damit Einkommen gab.

Schnell stellte sich heraus, wie unglücklich Fela mit ihrem neuen Leben in Wien war. Sie verstand die Menschen und deren Kultur nicht, litt unter den beengten Wohnverhältnissen und vermisste ihre Familie und Freunde sehr stark. Ihr Wunsch war es, nach Krakau zurückzukehren. Doch Wacek wollte diese Niederlage, dieses Versagen keinesfalls zulassen. Niemals würde er zurückkehren und sich als Verlierer präsentieren.
Ähnlich wenig konnte auch Rosenberg, ein ehemaliger politischer Verurteilter, der Stadt Wien und seinen Bewohnern abgewinnen. Er wollte jedoch auch seine Zeit als Jude hinter sich lassen, registrierte sich im Konsulat auf einen anderen Namen und wanderte zunächst in die USA aus. Mit Blick auf die frühere Zeit äußerte er beispielsweise treffend und auch melancholisch: "Es ist ein anderes Leben gewesen. Ein anderes Leben."

Der Krieg hatte seine Spuren hinterlassen. Die Menschen hatten vieles verloren, ihr Zuhause, Familienmitglieder, Freunde, einen Teil ihrer Identität. Das lastete auf ihnen. Umso schwerer fiel ihnen das neue Leben, denn sie lebten tatsächlich häufig in ihren Erinnerungen, die sie nicht zurückholen konnten. Sie brachten ihre eigene Kultur mit, stießen jedoch auf eine völlig andere in ihrem neuen Leben. Es entsteht ein toxischer Nährboden für Verzweiflung, Trauer und auch Wut. Das Gefühl von Heimat geht nicht selten komplett verloren. Folglich bleiben diese Emigranten auch oft unter sich, finden selten Anschluss und fühlen sich stets fremd und verloren.



Ein lesenswertes Buch, dessen Stil mir gefällt. Ungewöhnlich, jedoch ansprechend, waren die kurzen Unterteilungen, anstatt gewohnter Kapitel sowie die rasch wechselnden Orte und Situationen. Auf diese Weise ermöglicht der Autor jedoch meiner Meinung nach deutlich breiter gefächerte Einblicke in die Welt des Einzelnen. Er schafft für Außenstehende ein Verständnis für diejenigen, deren Auftreten und Handeln uns manchmal ungewohnt, zurückhaltend oder anders vorkommt. Wirklich lesenswert!

Bewertung vom 07.04.2025
Schwebende Lasten
Gröschner, Annett

Schwebende Lasten


ausgezeichnet

Kurz vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs, 1913, erblickt Hanna das Licht dieser Welt Nur wenige Jahre später stirbt ihre Mutter und sie wächst bei ihren älteren halben Schwestern auf. Kein wirklich idealer Ausgangspunkt für ein erfülltes Leben. Doch eines nimmt Hanna aus jener Zeit definitiv mit, etwas, was sie ihr ganzes Leben begleiten wird: die Liebe zu den Blumen.

Die Grundlagen der Blumenbinderei erlernte sie im Geschäft der Schwester Rosa und ihres Mannes in Berlin. Zurück in Magdeburg ergab es sich durch einen Zufall, dass sie Karl, ihren zukünftigen Ehemann, kennenlernte. Stets formulierte sie klar, dass es sich nicht um den erwünschten Traummann handele, sondern eher die Zweckmäßigkeit die Hochzeit der beiden bedingte. Auch später liest sich das immer wieder. Karl eignete sich nicht wirklich für die große Liebe, erst recht nicht, wenn er sich dem Alkohol zuwandte.

Ihr Glück und ihre Zufriedenheit fand Hanna in ihrem eigenen Geschäft. Der kleine Blumenladen war nichts Besonderes. Er befand sich zudem in einem Viertel in Magdeburg, in das die Menschen nicht zum Bummeln kamen, weil es von Armut gezeichnet war. Dennoch mochte Hanna das Umfeld, vor allem die Johanniskirche, nach der sie ihren ersten Sohn benannte. Sie brachte es nicht zu Reichtum, vielmehr reichte es gerade so zum Überleben. Es gab einmal jedoch einen spannenden Auftrag, gut bezahlt und dennoch geheimnisvoll. Hanna sollte einen Strauß, der auf einem bekannten niederländischen Gemälde zu bewundern ist, nachbilden. Leider meldete sich der Auftraggeber nicht mehr, der Strauß blieb Hanna ihr Leben lang jedoch im Gedächtnis...
Nach dem Krieg lebte Hanna natürlich im Gebiet der ehemaligen DDR. Kranführerin sollte ihr neuer Beruf sein, eine Vorstellung, die ihr anfangs nicht gefiel. Dennoch wuchs sie auch hier in ihren neuen Bereich hinein, nahm ihre Aufgaben ernst und ernte entsprechende Anerkennung dafür. Die Autorin zeichnet, wie in allen Abschnitten des Buches, auch hier ein sehr detailreiches Bild. Vor allem Leser, die selbst noch einen Teil dieser Republik erlebt haben, werden vieles wiedererkennen; sei es die Beschreibungen des Kaufhauses und des großen Blumengeschäfts, das eigentlich immer zu wenig anzubieten hatte, oder die Schlangen vor Geschäften, wenn es wieder einmal etwas Spezielles gab.

Für mich bot dieses Buch ein wunderbares Leseerlebnis. Die Autorin schaffte es, mich von Beginn an zu fesseln. Ihr gelang eine ausgewogene Balance zwischen zeitlichen Episoden, der Beschreibung von historischen Gegebenheiten und dem Leben einer Frau, die vieles ertragen musste, dabei jedoch wenig leben durfte.

Wunderschön finde ich den blumigen Beginn eines jeden Kapitels. Er steht für etwas Außergewöhnliches, das hier nicht genannt wird, und vor allem für Hannas innige Verbindung und Liebe zu den Blumen, die niemals vergingen.

Hanna selbst steht für mich für viele Frauen einer Generation, die stets Verantwortung tragen mussten, in deren Leben jedoch für Selbstverwirklichung, Lebensfreude und Liebe oft nur wenig Platz blieb. Diese Frauen mussten Kriege miterleben, Verluste ertragen und Schicksalsschläge hinnehmen. Sie arbeiteten ein Leben lang, bauten mit auf und funktionierten. Auch das beschreibt die Autorin treffend und man merkt schnell, dass für Gefühle und Emotionen in dieser Welt kein wirklicher Raum zur Verfügung stand.

Das Buch hat meine Erwartungen nicht nur erfüllt, sondern weit übertroffen. Sehr real, klug und beeindruckend. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 06.04.2025
Kosmos der Abseitigen
Daniel, Hardt

Kosmos der Abseitigen


ausgezeichnet

"Kosmos der Abseitigen" zeigt sich als Sammlung von Kurzgeschichten, die von Menschen und Situationen erzählen, die anders sind. Anders bedeutet in diesem Fall, dass vermeintliche vorgegebene Standards nicht mehr gelten und überschritten werden, Verhaltensweisen geschildert werden, die als ungewöhnlich, erstaunlich oder gar bedenklich gelten. Doch sind diese Menschen, um die es geht, wirklich so viel anders oder ist es lediglich eine subjektive Einschätzung des Einzelnen.

In den sieben Geschichten geht es um Menschen, die überall unter uns leben könnten. Und doch würden sie irgendwann auffallen, da sie offensichtlich anders handeln, als wir es gewohnt sind, es vermuten würden. Sie passen nicht in vorgegebene Normen, wie etwa der Zoobesucher, der nicht etwa diesen besucht, um Tiere anzuschauen. Er beobachtet Menschen, wie sie kommen, um zu gaffen. Dabei gerät er irgendwann selbst in die Fänge eines Käfigs.

Nicht weniger skurril erscheint der Kriminelle, in dessen Liste lediglich noch der Mord an einem Menschen fehlt. Sein passendes Opfer meint er, in einem Nachbarn gefunden zu haben. Bis sich seine Meinung zur Opferwahl ändert.

Alle Geschichten sind völlig unterschiedlich, was den Ort des Geschehens und den Typ Mensch betrifft. Das war auch ein Punkt, der fesselt. Es ist kein Buch, das man an einem Nachmittag lesen möchte. Man liest eine Erzählung und legt das Buch beiseite, weil man über das Ganze nachdenken möchte. Man versucht sich in den Menschen hineinzuversetzen, möchte dessen Beweggründe verstehen, dessen Handeln näherkommen.

Letztendlich muss man feststellen, dass es oft gar keine richtige oder falsche Einschätzung gibt. Wir bewerten andere subjektiv und vergessen allzu häufig, wie individuell doch jeder von uns ist.

Für mich ein wirklich empfehlenswertes Buch!