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Benutzername: 
Max Gutbrod
Wohnort: 
Berlin

Bewertungen

Insgesamt 41 Bewertungen
Bewertung vom 21.10.2025
Das Tagebuch (1880-1937), Band 4 (Das Tagebuch 1880-1937, Bd. 4)
Kessler, Harry Graf

Das Tagebuch (1880-1937), Band 4 (Das Tagebuch 1880-1937, Bd. 4)


ausgezeichnet

Die Gespräche mit Dungern, vielleicht angereichert um die gemeinsam mit Rathenau und Hoffmansthal angestellten Überlegungen und die politische und persönliche Kurzbiographie Hardens könnte eine bessere, präzisere Darstellung der Sexualmoral und des Einflusses ihrer Verlogenheit auf die Biographien der Herrschenden als die üblichen ergeben. Besonders niederschmetternd ist das Bild des Kronprinzen und seiner Frau, eher verständnisvoll das von Wilhelm II, auch oder vielleicht gerade, weil Kessler bei ihm homosexuelle Neigungen denkbar macht.
Kessler glänzt wie immer mit vielen Plänen, die heute schwer nachzuvollziehen sind: Als Mitorganisator einer Kunstausstellung in Köln, verständnisvoll-kritisch ist sein Gespräch mit einem Maler-Eleven mit Namen Hamann, in dem man ´Ähnlichkeit mit Nolde vermutet.
Der Apparat ist in seinem Reichtum wundervoll, in seiner Organisation eher ärgerlich. Die in im Stichwortverzeichnis enthaltenen Kurzbiographien werden etwa wie die von Liebermann unabhängig von der Bedeutung des Genannten im jeweiligen Band langatmig wiederholt.

Bewertung vom 21.10.2025
Tagebücher 1918-1937: Graf von Kessler
Kessler, Harry Graf

Tagebücher 1918-1937: Graf von Kessler


ausgezeichnet

Der Band ist, was erreichbar war, bis weitere Tagebücher in Moskau aufgefunden und dann in einer Monumentalausgabe zugänglich gemacht wurden.
So vieles ist darin:
Kessler wagt mit Gide eine Bewertung der Architekturstile, protokolliert den Aufstieg Hitlers zur Macht mit wenig schmeichelhafter Beurteilung von Papen, stellt Schmitt sich den Nationalsozialisten anbiedernd dar in seinen Auslegung des Verbots der Uniform.
Eine sehr skeptische Beurteilung des Liebestods (anders als andere Bemerkungen hier gibt das Stichwortverzeichnis für Derartiges die Seiten nicht her, daher: s. S. 602). Auf S. 603 findet sich eine m. E. plausible, viel weniger negative Beurteilung als üblich der Rolle Wilhelms II für den Krieg.
Unsicherer Beginn Weimars etwa an eher skeptischen und doch wohl formalen Bemerkungen zu Amtseinführung Eberts, zur mangelnden rhetorischen Begabung von Hugo Preuß, im Überlegen einer energischen Reaktion auf die Ermordung Rathenaus, für den Zauderer Kessler nicht uncharakteristisch, dass „wegen Heiserkeit“ nicht reden konnte. Stresemanns Tod stellt Kessler als ein erstes großes europäisches Ereignis dar.
Kabinettsstücken mit Ausstrahlwirkung sind, wie der zunächst herablassend geschilderte Erzberger durch eine brillante Parade die Rechten in die Ecke treibt, wie Tschitscherin, zunächst unverständlich französisch sprechend, Verhandlungen zu bestimmen gelingt und Kessler dahinter eine englische Verabredung vermutet. Bewegend, gerade aufgrund der eher unbedachten Rekonstruktion im 21. Jahrhundert, ist seine Sympathie für das Neue bei einer Veranstaltung im Stadtschloss, die er als unpassend gerade deshalb empfindet, weil er dem biederen Bürgerlichen gegenüber dem protzigen Neubarock die Zukunft zuschreibt.
Fassungslos beobachtet er das zunehmende Abgleiten von Frau Förster-Nietzsche gemeinsam mit der damaligen Wagner-Familie in den Nationalsozialismus, die Instrumentierung des offenbar völlig überforderten O. Spenglers für das Nietzsche-Gedenken und die Banalisierung der einst aufrührerischen Nietzsche- und Wagner-Bewegungen.
Aufgrund seiner Begegnungen mit R. Strauß und Familie, vielleicht noch bereichert um die Erinnerungen Hartmanns, könnte man Strauß’ Biographie schreiben. Aus der Gesamtausgabe der Tagebücher während des Krieges bleibt Strauß‘ Stellungnahme für den Frieden, auch eine von Strauß‘ Problemen mit der Tristan-Musik in Erinnerung und eine vielleicht übertriebene Darstellung der Borniertheit von Strauß‘Frau, die doch für den Umgang mit Unbelehrbaren interessant bleibt.
Berührende Erinnerungen an Gespräche mit der Familie über den Tod Hoffmannsthals und mit Tilla Duriuex anlässlich des Todes von Paul Cassirer.
Der ferne Tod der Mutter zieht vorbei, von der er durch den Krieg so lange getrennt war, und deren Grab er besuchen wird.
Durchzogen werden die Tagebücher auch von den eigenen, jedenfalls im Tagebuch nur angedeuteten, aber dennoch klaren Neigungen zu Männern, etwa wenn er gegenüber Nostitz Päderastie anspricht und bei ihr anregt, ihren Ehemann zu fragen, Julien Green mit Freund auftritt.

Bewertung vom 07.10.2025
Richard Wagner
Gregor-Dellin, Martin

Richard Wagner


weniger gut

Der Versuch, sozusagen aus der Sicht eines Schriftstellers, kundig durch Herausgeberschaften, die Biographie eines Musikers zu schreiben, misslingt eher. Zerrbilder werden an einander gereiht, die – fast naturgemäß, vielleicht aufgrund des Rückgriffs auf die zitierte, eher an der Musik orientierte Literatur - eine Stellung innerhalb der Musikschriftstellerei, aber kein eigenständiges Leben haben.
Schon der Held gerät allenfalls verwackelt. Er wird als unangenehmer, ständig andere an der Nase herumführender, kurzsichtiger Zappelphilipp dargestellt, der ein allen Zweifeln enthobenes Werk geschaffen hat, ohne dass er irgendwelche Zeichen spielerische Genialität an den Tag legt.

Auch Gregor-Dellins Einzelbetrachtungen gewinnen keine Kontur: Beckmesser etwa soll aufgrund seiner Texte ernst genommen werden, aber als was wohl? Handlung und Musik erlaubt ihm den expressionistischen Dichter nicht, ein Revolutionär wie vielleicht Alberich oder allenfalls auch Klingsor kann er zwar in einer entsprechenden Inszenierung sein, der Literat, der Derartiges mit Worten plausibel machte, müsste aber doch außerordentlich sein. Musikalisch mag der Mime näher an das gekommen sein, was bald nach Wagner etwa in der Person Saties Sensation machte, Gregor-Dellin interessiert sich für die entsprechenden Möglichkeiten nicht.

Über Ludwig II bekommen wir nahegelegt, er könne Wagner nicht wegen der Musik geschätzt haben, weil er selbst kein guter Musikschüler gewesen sei (als habe Musikhören und -ausüben unmittelbar etwas miteinander zu tun) und habe Musikprogramme willkürlich zusammengestellt, von denen wir aber weiter nichts hören. Statt, wie häufig, Friedrich Wilhelms III Theaterbesuche lächerlich zu machen, die ja auch die Zauberflöte eingeschlossen haben müssen, versteht man möglicherweise über den Portraitierten mehr, wenn man den Zeitgeschmack, die damals herrschende Verniedlichung, die ja auch ETA Hoffman scharf anging, sich vorstellt. Dass Ludwig II, wie so viele, gerade von dem scheinbar Unmusikalischen bei Wagner, davon angezogen war, dass Wagner auch für den Klänge liebenden greifbarere als die bisherigen Formen fand als bisher üblich, nicht zufällig Extremes in Musikform goss, kann man sich nach der Lektüre von Gregor-Dellin nicht vorstellen, obwohl etwa zur Zeit der Entstehung dieser Biographie Elmar Budde eben dies plausibel zu machen vermochte.

Besonders unangenehm, wenn, nachdem er Wagner lange Abschied nehmen hat lassen, er Cosima scheinbar für Wagners Tod aufgrund einer schein-souverän angedeuteten Eifersuchtszene, obwohl vorherige Eheprobleme eher ausgeblendet wirken.

Geradezu peinlich für einen Literaten ist, wie Fontane (auch etwa zur selben Zeit, als Gregor-Dellins Biographie erschien, hat hingegen Wiesler die Flucht Fontanes aus Bayreuth wirkungsvoll in einen Zusammenhang gebracht) für die Interpretation des Rings in Anspruch und gleich wieder weggeblendet wird, als könnte ein Großer wie Fontane kein Gespür etwa für die Grausamkeit mit der Wagners Gestalten, etwa Woton, laut z. B. des Gesprächs Waltraute-Brünhilde mit seiner Tochter oder Siegried im "schlag mich oder sei mein Freund" mit anderen umgehen konnte, sie als opern- und vielleicht theatertypisch nachvollziehbar charakterisieren.

Wenn schon ein Literat über Musik, dann doch lieber so wie in Werfels Verdi!

Bewertung vom 07.10.2025
Die Frage der Entmythologisierung
Jaspers, Karl; Bultmann, Rudolf

Die Frage der Entmythologisierung


gut

Ein inhaltlich eher unfreundlich ausgetragener, unübersichtlicher Streit, in dem es um so vieles geht, was Vielen am Herzen gelegen haben dürfte, u. a. wie folgerichtig Seelsorge sein, inwieweit Sachverhalte wie die der Bibel wahrgenommen werden können kann. Bultmann liest sich diesbezüglich recht klar: Wer Christentum beibringen will, hat sich mit den Sprachen der Bibel zu beschäftigen. Schon die Frage, warum das Christentum der Bibel-Autoren wichtiger als das ihrer Exegeten wird nicht behandelt. So deutet sich eine Groteske an, die wohl auch wiederum nur bei weiterer, genauer Lektüre dieses und anderer Werke genauer offen gelegt werden könnte: Der so an der Rekonstruktion der Erfahrung älteren Denkens interessierte Jaspers, dass er ein Werk über die "großen Philosophen" herausgegeben hat, scheint Probleme mit Erkundigungen darüber zu haben, wie die Größe Jesu zu erklären ist.

Bewertung vom 05.10.2025
Raimund von Doblhoff 1914-1993

Raimund von Doblhoff 1914-1993


gut

Eben sprang mir der Name in den Kopf, und ich freue mich, dass es eine Veröffentlichung über ihn gibt: in den 80-igern studierte ich in München und war oft bei meinen Eltern in Stuttgart, schaute also immer einmal wieder in Augsburg vorbei. Dabei muss ich in einer Ausstellung (eines gemässigt modernen Malers?) auf ihn getroffen sein. Er hatte mich Jungspund angesprochen, von seiner Nähe zum Hause Fugger, seinen Projekten und pointierten Ansichten zur damaligen Diskussion über die Moderne erzählt. Ich weiss nicht mehr, ob wir uns mehrfach trafen. Jedenfalls blieb die Erinnerung über die Jahrzehnte.

Bewertung vom 19.09.2025
Lebenszeit und Weltzeit
Blumenberg, Hans

Lebenszeit und Weltzeit


gut

Zusammengefasstes Nachdenken über Zeit hat nicht viele Vorbilder. Merkwürdiger ist daher, dass Blumenberg weniger Allgemeines wie die Zeit des Lebens eines Menschen (die ja auch individuelle Gationalitäten begrenzt) oder Vorstellungen über das Ende der Welt, Neues oder Wiederkehrendes und mehr Anekdotisches, etwa erhellend zum Verhältnis zwischen Heidegger und Husserl, behandelt. Eher hintergründig-feullietonistisch ist das, wenn er an Montaignes Zweifel bei der Einführung eines allgemeinen Kalenders erinnert. Zur Philosophie, einer eigenartigen Begrenzung der Freiheit durch den Stand der Entwicklung, kommt Blumenberg bei der Unterscheidung zwischen dem zurück, was er Muss- und Kannzeit nennt. So regt das Buch sehr vielfältig an, beeindruckende Gedankenführung ist aber nicht seine Stärke.

Bewertung vom 19.09.2025
Lebenszeit und Weltzeit
Blumenberg, Hans

Lebenszeit und Weltzeit


gut

Zusammengefasstes Nachdenken über Zeit hat nicht viele Vorbilder. Merkwürdiger ist daher, dass Blumenberg weniger Allgemeines wie die Zeit des Lebens eines Menschen (die ja auch individuelle Gationalitäten begrenzt) oder Vorstellungen über das Ende der Welt, Neues oder Wiederkehrendes und mehr Anekdotisches, etwa erhellend zum Verhältnis zwischen Heidegger und Husserl, behandelt. Eher hintergründig-feullietonistisch ist das, wenn er an Montaignes Zweifel bei der Einführung eines allgemeinen Kalenders erinnert. Zur Philosophie, einer eigenartigen Begrenzung der Freiheit durch den Stand der Entwicklung, kommt Blumenberg bei der Unterscheidung zwischen dem zurück, was er Muss- und Kannzeit nennt. So regt das Buch sehr vielfältig an, beeindruckende Gedankenführung ist aber nicht seine Stärke.

Bewertung vom 16.09.2025
Kolberg
Eitner, Hans-Jürgen

Kolberg


gut

Eben habe ich - wie Bewertungen zu löschen sind, weiss ich nicht - ein Buch, das die offenbar eindrucksvolle Leitung der Schlacht im 2. Weltkrieg betraf, rezensiert, als handle es sich um dieses. Beide sind das Durchblättern wert!

Bewertung vom 16.09.2025
Die letzten Tage von Kolberg
Voelker, Johannes

Die letzten Tage von Kolberg


gut

Das Buch ist vielleicht das hinsichtlich der Geschichte aussagekräftigste einer Serie von Kolberg-Verbundenen und -Vertriebenen: Man kann aus ihm entnehmen, wie umkämpft (vielleicht wegen der Hafenlage und dem Hinterland) die Stadt war, wie der (an der vorherigen Niederlage der Preussen in Jena/Auerstedt gemessen: erfolgreiche) Widerstand gegen die Franzosen die Katastrophe im 2. Weltkrieg veranlasste. Es fehlt die polnisch/deutsche Problematik, der Untergang (und sein wahrscheinliches Verblassen nach dem Tod der Vertriebenen) wirkt also wie von einem übermächtigen, fernen Schicksal gesteuert, die Übrigbleibsel der Vergangenheit wie ein Verweis auf eine gute alte Zeit, deren Konflikte ja eben bewusst in den Hintergrund gedrängt werden.

Bewertung vom 15.09.2025
Mommsens Block. Brief an einen Senator
Müller, Heiner; Langhoff, Matthias

Mommsens Block. Brief an einen Senator


ausgezeichnet

Der "Brief an einen Senator" wäre ein würdiger Teil einer DDR-Theatergeschichte; mit ebensoviel Liebe wie Offenheit geht er mit der Geschichte des Berliner Ensembles in ihr um und spekuliert über die inzwischen ja vergangene Zukunft im vereinten Deutschland..

"Mommsens Block" so alleine zu lesen empfand ich als großen Gewinn: So gewinnen die aneinandercollagierten Gedanken zur Frage, wie große historische Werke entstehen und warum Mommsen die Geschichte es römischen Kaisertum nicht geschrieben hat, inwieweit Mommsens Welt untergegangen ist und welche Bedeutung Heiner Müller hat, Gewicht.