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Buch_im_Koffer

Bewertungen

Insgesamt 79 Bewertungen
Bewertung vom 09.07.2025
Am Kipppunkt
Staud, Toralf;Brackel, Benjamin von

Am Kipppunkt


ausgezeichnet

Kipppunkte - faktenbasierte Realität trifft auf positive Grundhaltung - „Wo das Klima zu kollabieren droht - …“ erläutern die beiden Autoren im ersten Teil des Buchs sehr ausführlich, basierend auf aktuellen Daten und gut erläutert anhand unzähliger Beispiele, Interviews und Hintergrunderklärungen. Und man ahnt es: Es wird unangenehm, um es mal vorsichtig auszudrücken. In vier Kapiteln „Eis“, „Wasser“, „Luft“ und „Natur“ erläutern von Brackel und Staud negative Kipppunkte wie das Schmelzen des Grönländischen Eisschilds, die Veränderungen der Atlantischen Umwälzzirkulation, den Monsun oder das Verblassen der Korallenriffe. Und das tun sie mit deutlicher Vehemenz, mit Fakten und mit den Versuchen von zeitlichen Ausblicken.
„… und wie wir uns noch retten können“ fokussiert dann auf drei „positive Kipppunkte“ beim Klimaschutz: erneuerbare Energien, e-Mobilität und Ernährung. Hoffnungsvolle Ansätze, weltweite Betrachtungen, zahlreiche Beispiele, Ideen und Lösungswege.
Über den Klimawandel zu schreiben, würde wahrscheinlich ganze Regale füllen. Den Fokus daher auf einige, wesentliche Kipppunkte zu lenken ist für mich persönlich ein sinnvoller Ansatz. Insofern ist das Sachbuch von von Brackel und Staud ein guter Einstieg in die Thematik, verständlich geschrieben und trotz seiner Ausführlichkeit und Theorie an manchen Stellen sehr gut und eingängig zu lesen.
Ich weiß, ich weiß: Es passiert so viel in der Welt, da will ich mich damit nicht auch noch beschäftigen. Klar. Nur: Das letzte, was uns gegen den Kimawandel helfen wird, ist es, den Kopf in den Sand zu stecken! Zu heiße Sommer, brennende Wälder, Fluten und Starkregen, abrutschende Berge kennen wir auch in Deutschland, in Österreich. Und insofern ist es wichtig, dass wir uns informieren, dass wir wieder größer denken, dass wir nicht den Mut verlieren, sondern erkennen, dass es schon weltweit viele gute Ansätze gibt. Und dass wir die Zuversicht nicht aufgeben. Dieses Buch liefert dazu viele Denk- und Diskussionsansätze.

Bewertung vom 16.06.2025
Das verlorene Band
Bresching, Frank

Das verlorene Band


ausgezeichnet

Wunderbar feinfühliger Roman über Herkunft und Identität - Wie eng das Band zwischen der zwanzigjährigen Mila und ihrer Mutter ist, zeigt sich in den vielen Zwisprachen, die die Tochter mit ihrem mütterlichen Tagebuch hält. Denn Milas Mutter ist durch einen tragischen Unfall getötet worden. In einem verzweifelten Trauerstreit dann platzt aus dem Vater das heraus, was eigentlich für immer ein Geheimnis bleiben sollte. Und Mila flieht.
Sie landet schließlich in einem kleinen, abgelegenen Bergdorf, wo sie bei der alleinstehenden Bäuerin Almut unterkommt. Hier, in der Abgeschiedenheit der Berge, möchte sie zur Ruhe kommen und Antworten finden, die ihr die Mutter nicht mehr geben kann. Eine Woche, sieben Tage, hat sie dafür geplant. Bezahlt im voraus. Und sie hofft, dass Almut ihr bei ihrer Suche helfen kann, denn Mila ist nicht zufällig genau hier.
Die Auflösung des Geheimnisses um Mila und ihre Mutter ist schnell voraussehbar. Schadet das dem Buch? Nein. Überhaupt nicht. Im Gegenteil! Denn die Stärke des Romans liegt zweifelsohne in den wunderbar fein gezeichneten Figuren und ihrer persönlichen Entwicklung (zueinander). Die junge Mila, die trotz einer schrecklichen Tragödie in ihrem Leben ihre Willensstärke und ihren Optimismus nie aufgibt. Die mit Lebensfreude und Empathie ihrer Umwelt begegnet, dass es eine Freude ist, ihren Weg zu begleiten. Almut scheint da auf den ersten Blick das Gegenteil zu sein. In sich gekehrt, zurückgezogen, vielleicht gar ein wenig verbittet, spricht sie nie mehr als notwendig. Im Zusammenspiel der beiden entwickelt sich dann aber über die Zeit eine Dynamik, der man sich nicht entziehen kann. Nach und nach finden die beiden Frauen einen innerlichen Gleichklang, der sie einander näher bringt. Und sie ermutigt, sich der anderen zu öffnen; die eine beginnt, sich ihrer jahrelangen Abgeschiedenheit zu stellen, die andere kann sich dem Familiengeheimnis stellen.
Frank Bresching schreibt in einer einfachen, leichten Sprache, die mich zunächst überrascht hat, dann aber immer stimmiger die Charaktere in ihrer Art ergänzte und die Leichtigkeit dieses Sommers in den Bergen einfing. Toll! Ergänzt wird das Ganze durch das Cover, das einfach perfekt zum Roman passt!

Bewertung vom 07.06.2025
Zwei Wochen am Meer
Sherriff, R. C.

Zwei Wochen am Meer


sehr gut

Entspannte Familientage am Meer -Seit vielen Jahren schon verbringt die Familie Stevens ihren Sommerurlaub in dem englischen Küstenort Bognor. Immer zur gleichen Zeit im September kehren sie in der Pension „Seaview“ bei Mrs Huggett ein. Früher noch waren die Kinder klein, heute sind Dick und Mary schon fast erwachsen, allein das Nesthäkchen Ernie benötigt noch die Aufmerksamkeit der Eltern. Über die Zeit ist auch die Pension etwas in die Jahre gekommen und doch ist es gerade das Gewohnte und Bekannte, auf das sich alle freuen.
Und so begleiten wir die Familie durch zwei entspannte, unaufgeregte Wochen, in denen die Tage nach gewohntem Muster verlaufen, aber gerade dadurch schöne Erinnerungen erwecken und einmal mehr den Zusammenhalt als Familie festigen. Drachensteigen am Meer, ihre Strandhütte „Cuddy“, Spaziergänge am Abend entlang der Promenade. Und doch bleibt auch genügend Zeit, in der jedes Familienmitglied seinen kleinen, persönlichen Gedanken und Tätigkeiten nachgeht. So sinniert Dick über seinen ersten Job, in dem er nicht recht glücklich ist, trifft Mr. Stevens im Pub alte Bekannte, findet Mary eine neue Freundin und kann Mrs. Stevens die abendliche Stunde allein in der Pension mit einem Glas Port genießen.
Im Grunde passiert nicht viel in diesem Roman und doch ist es genau das, was einen durch die Seiten fliegen lässt. R.C. Sherriff vermag es vortrefflich, dieses entspannte Nichtstun am Meer einzufangen und in Worten widerzugeben. Die Ruhe und vielleicht auch leichte Melancholie, die einen erfasst, wenn man immer wieder an Orte zurückkehrt, die über Jahre gemeinsam mit einem selbst „altern“; die Freude, wenn der Großteil des Urlaubs noch vor einem liegt und die Wehmut, wenn die letzten Tage sich dem Ende zuneigen.
R.C. Sherriff hat diesen Roman bereits 1931 verfasst; in einem schönen Nachwort hat der Übersetzter Karl-Heinz Ott den Text wunderbar eingeordnet. Sicherlich ist das Frauenbild und generell das Rollenverständnis eines Mr. Stevens etwas veraltet. Die unaufgeregte Atmosphäre und die ausgelassene Stimmung aber funktioniert damals wie heute perfekt.
Ein schönes Buch, das dich für einige Stunden auf wundersame Weise in den Sommer an die englische Küste zaubert.

Bewertung vom 30.05.2025
sterben üben
Feist-Merhaut, Katharina

sterben üben


ausgezeichnet

Einfühlsamer, sensibler Roman -Sterben üben – geht das überhaupt? Und ist es überhaupt das Sterben selbst, das „geübt“ werden könnte, oder vielmehr das Altwerden, gebrechlicher oder gar krank werden, die Gewissheit, dass das Lebensende naht? Und macht das Üben überhaupt irgendeinen Sinn, wo doch jedes Sterben anders und persönlich ist, wir das Ende gar nicht kennen?
Katharina Feist-Merhaut hat sich sehr intensiv diesem Üben gewidmet. Ganze 7 Jahre, in denen sie sich dem Sterben genähert hat, und das nicht allein, sondern gemeinsam mit ihrer Großma, die sie bereitwillig in ihrem Suchen nach Antworten und Erfahrungen begleiteten durfte.
Sie nähert sich von unterschiedlichen Seiten, kreist das Unergründliche, dieses nicht-Greifbare ein. Sucht Antworten in der Literatur, sammelt alle noch so kleinen Momente mit der Großma. Dann wieder führt sie einem Interview gleich Gespräche und kurze Dialoge, in der die alte Dame über ihre verstorbenen Ehemänner und Freundinnen, über Saunaabende und ihre Liebe zu Blumen berichtet. Aber auch über Tod, Sterben, Krankheit spricht und einzelne Textpassagen kommentiert. Die Enkelin beobachtet Routinen, führt Listen, sammelt den Alltag ein. Und sie setzt sich mit ihren eigenen Erinnerungen und Erfahrungen auseinander, mit dem Suizid der anderen Großeltern, der Rolle von Tochter und Enkelin. Und während man als Leserin das Gefühl hat, diese offenen und ehrlichen Wahrheiten könnten der Autorin gar nicht detailliert und direkt genug sein, so spürt man zum Ende hin, beim Kümmern, Dasein, auf-Abruf-sein, wie sehr diese Care Arbeit dann an den Kräften zehrt und bei all der Liebe, Fürsorge und dem gegenseitigen Vertrauen auch zur (temporären) Last werden kann.
Katharina Feist-Merhaut hat einen wunderbar sensiblen, tiefgründigen und einfühlsamen Text verfasst, der weit über ein Beobachten hinausgeht. Das Hinterfragen und Überschreiten von „gefühlten“ Tabugrenzen öffnet Perspektiven auf die letzte Lebensphase, die mir durchaus sehr nahegingen und mich gleichzeitig irritierten. Gerade weil sie meine persönlichen Grenzen überschritt und Worte formulierte, wo ich nicht einmal Gedanken zulassen wollte. Aber genau hier liegen die Antworten und Wahrheiten des Romans. „So, genug vom Sterben, momentan lebe ich noch.“ Und später im Text „Ich lebe. Ich lebe. Ich lebe noch“
Ein ganz großer Text, ein kurzes Buch, das ich als sehr lang und tief empfunden habe. Leseempfehlung.

Bewertung vom 15.05.2025
Erbarmen
Jorge, Lídia

Erbarmen


ausgezeichnet

Eine Ode an das Leben, an Liebe, Würde und Respekt - Ein Buch, in dem der Tod immer wieder anklopft und das doch das Leben feiert. Das seinen Zauber über die Zeit entfaltet und dann lange nachhallt. Das so viele Dinge thematisiert, auf so wenig Quadratmetern.
Maria Alberta Nunes Amado, genannt Dona Alberti lebt seit einem Unfall im Hotel Paraíso, einem Altenheim, wo sie einem Diktiergerät aus ihrem Alltag berichtet. Sie erzählt von den Menschen, die kommen und oftmals viel zu früh gehen, von Freundschaften und kleinen Intrigen, von der Liebe und ihrer Zuneigung zu einzelnen Pflegerinnen. Und immer wieder wird sie auch sehr persönlich und emotional, wenn es um die Tochter, eine Schriftstellerin geht, die ihres Erachtens nach zu wenig erfolgreich ist; wenn sie Pflegende in ihr Herz schließt und deren Schicksal sie sehr mitnimmt; wenn sie in der Nacht schlaflos mit sich, der Nacht, dem Tod ringt, vielleicht eher verhandelt.
Lídia Jorges Roman beginnt ruhig und distanziert aber je näher wir Dona Alberti kennenlernen, desto dichter lässt sie uns in ihr Leben und offenbart uns ihre Gedanken. Aus kleinen Ereignissen werden bedeutsame Begegnungen, etwa wenn ein Bewohner gleichsam einer Revolution für frische Spiegeleier kämpft oder sie einen Mitbewohner „verflucht“, der für die Kündigung eines ausländischen Pflegers gesorgt hat. Wenn aus wenigen geschriebenen Worten Liebe entsteht oder der Diebstahl einer Jacke einem Abzug der eigenen Haut gleichkommt.
Einfühlsam und sehr bewegend schreibt Jorges, verteilt allein auf zwei, drei Räume im Altenheim über das, was uns Menschen unser Leben lang – buchstäblich bis ins hohe Alter – ein Grundbedürfnis ist: Liebe, Würde, Respekt. Ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, auch dann oder vielleicht ganz besonders dann, wenn wir auf andere Menschen und deren Hilfe angewiesen sind.

Bewertung vom 11.05.2025
Jutta Limbach
Budde, Gunilla

Jutta Limbach


ausgezeichnet

Bewegende Biografie einer starken Frau - Geboren 1934 wuchs Jutta Ryneck in einer Familie von überzeugten Sozialdemokraten auf. Sie studierte Jura an der Freien Universität Berlin, u. a. bei Ernst Eduard Hirsch. Während sie bei ihm an ihrer Doktorarbeit schrieb und als Assistentin, später Oberrätin arbeitete, heiratete sie Peter Limbach, drei Kinder folgten. Sie trat in die SPD ein, wurde 1971 habilitiert und war als Professorin an der jur. Fakultät der FUB tätig. Die Familie lebte in Bonn, sie pendelte nach Berlin, der Mann ein Vorreiter als Hausmann und Erzieher. Ab 1989 dann war sie Justizsenatorin in Berlin und in dieser Rolle maßgeblich verantwortlich für die „Rechts- und Justizeinheit“ nach der Wiedervereinigung. Im März 1994 erfolgte dann die Ernennung zur Verfassungsrichterin am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe; kurze Zeit später trat sie die Nachfolge von Roman Herzog als dessen Präsidentin an. Und statt sich von hier in den wohlverdienten Ruhestand zu verabschieden wurde sie danach zur Chefin der Goethe-Institute, die sie durch engagierte Führung aus einem finanziellen und strukturellen Tief holte.
Jutta Limbachs Biografie liest sich spannend wie ein Roman. Sie hat als Frau „soziale, juristische, kulturelle und geschlechterpolitische Weichenstellung“ betrieben – zu einer Zeit, als Männern die großen Karrieren vorbehalten waren und deren Meinungen oftmals viel (mehr) Gewicht hatten. So gesehen war sie in Vielem eine Pionierin ihrer Zeit, die mit Bedacht, Witz, enormem fachlichen und kulturellen Wissen ihren Weg als Juristin, Politikerin, Richterin, als Frau und Feministin, meisterte.
Gleichzeitig ist Limbachs Wege geprägt von großen politischen, gesellschaftlichen und juristischen Ereignissen. Die Studentenbewegungen der 67er, der Terror der RAF, die Wiedervereinigung von BRD und DDR, das Karlsruher „Blauhelm-Urteil“ oder das „Kruzifix-Urteil“ fielen in ihre Zeit. Damit liest sich das Buch auch als Biografie der jüngeren deutschen Geschichte und trägt viel zum Verständnis von Zusammenhängen bis in die heutige Zeit bei.
Gunilla Budde hat es durch ihren einzigartigen Schreibstil geschafft, die Biografie Jutta Limbachs sehr fundiert und detailliert darzustellen, gleichzeitig aber auch sehr unterhaltsam und spannend zu gestalten. Dies ist nicht zuletzt den zahlreichen persönlichen Auszügen aus Tagebüchern und Berichten von Familie und Wegbegleitern sowie Fotos zu verdanken. Kleine Anekdoten und Begegnungen – zuweilen hat man beim Lesen den Eindruck, als würde Jutta Limbach direkt im Raum stehen und einem zuzwinkern.

Bewertung vom 08.05.2025
Die Victoria Verschwörung (eBook, ePUB)
Storm, Andreas

Die Victoria Verschwörung (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Verschwörung in London - Dr. Lennard Lomberg ermittelt wieder. Im dritten Krimi von Andreas Storm wird der Kunstexperte dieses Mal nach London gerufen. Hier droht ein Erpresser publik zu machen, dass ein Gemälde der Königin Victoria, das in den Privaträumen der Queen hängt, eine Fälschung ist. Als dann auch noch die Gutachterin, die das Gemälde dezent sichten soll, spurlos verschwindet, beginnt die Zeit gegen Lomberg und sein Team zu arbeiten. Immer mehr Details zum Originalgemälde und auch zur vermeintlichen Fälschung werden aufgedeckt. Und einmal mehr wird klar, dass sich nicht nur die Nazis sondern auch die noch junge Bundesrepublik für dieses Bild und seine Bedeutung für die Krone zu interessieren scheinen.
Auch im dritten Teil seiner Lomberg-Reihe verbindet Andreas Storm geschickt Fiktion mit geschichtlichen Fakten. Verbindendes Glied zwischen Royalen Kunstschätzen und der Geschichte der BRD ist in diesem Falle König Edward VIII, der Duke of Windsor, der aufgrund seiner Liebe zur Amerikanerin Wallis Simpson seinerzeit auf den Thron verzichtete – und der mindestens offene Sympathien mit Hitler und den Nazis hegte.
Im bekannten Setting rund um Lomberg und seine Tochter Julie, die Kriminalrätin Sina Röhm und seinen alten Freund Sir Peter Barrington knüpft der solide Krimi nahtlos an die beiden ersten Fälle an. Ich persönlich habe allerdings in diesem Fall ein wenig die kunsthistorischen und geschichtlichen Aspekte vermisst, die in den beiden vorherigen Fällen deutlich intensiver und bildreicher in den Plot eingearbeitet waren. Aber auch eine gute Verschwörung ist am Ende sehr unterhaltsam. Gern gelesen!

Bewertung vom 22.04.2025
Unter derselben Sonne
Kusanika, Nadège

Unter derselben Sonne


ausgezeichnet

Emotionale Erinnerungen an den Kongo - und ein Perspektivwechsel - Nadège Kusanika erzählt uns „Lisolo“, Geschichten aus ihrer Kindheit, aufgewachsen in der DR Kongo. Von ihrer Mutter und der großen Familie ihres Onkels. Von den Sternen, die auf zauberhafte Weise gegen Hunger helfen und vom Teilen der Lebensmittel mit denen, die noch weniger haben. Von der Regenzeit, die sie so liebt und vom Strom, der immer wieder „Urlaub“ macht. Kleine, freudige Erinnerungen an eine Kindheit, die trotz der entbehrlichen Umstände voller Glück und Zufriedenheit inmitten einer großen Gemeinschaft war.
Nadège ist neun Jahre alt, als dann der Krieg in ihr Leben tritt und 15, als sie nach Deutschland kommt und ihren Vater kennenlernt. Und auch hier reißen die Lisolo nicht ab. Es gibt Pflanzen in Wohnungen, flüssige Milch, unterschiedlich lange Tage. Es gibt neue Freundinnen, ein neues, anderes Leben, das sie nach und nach in Deutschland aufbaut. Und doch ist ein Teil ihres Herzens immer bei der Familie im Kongo.
Die Autorin erzählt sehr berührend, leicht und oftmals auch mit einem kleinen Augenzwinkern von dem, was Heimat, Zuhause und Identität ausmachen. Wie es ist, zwei Kulturen miteinander zu vereinbaren, und das Fremdsein als Chance für die eigene Entwicklung zu sehen. Was hat sie geprägt, was macht sie aus als Mensch? Sie, deren Herz für zwei sehr unterschiedliche Länder schlägt, die Heimat und die Wahlheimat. In ihrem Roman bekommen wir einen kleinen Einblick, was es heißt „unter derselben Sonne“ zu leben und diese beiden Leben zu vereinen.
Mich hat dieser Roman wirklich sehr berührt und das auf ganz vielfältige Art und Weise. Und er hat einmal mehr zum Nachdenken angeregt über das, was uns als Menschen eint aber auch über die Vielfältigkeit der Kulturen, über Geschichte und die Folgen des Kolonialismus. Ein ganz, ganz toller Roman, den ich sehr empfehlen kann.

Bewertung vom 11.04.2025
Wie du mich ansiehst
Lohmann, Eva

Wie du mich ansiehst


ausgezeichnet

Mit dem Alter kommen - Falten und Freuden - Johanna ist Blumenhändlerin, hat eine Teenie-Tochter und einen Ehemann, der als Marinekapitän wochenlang fort ist. In ihrem Laden unterstützt sie die quirlige und kreative Ruby, die mit neuen Ideen frischen Wind bringt und neue Kundinnen anlockt. Als ihr Vater Karl stirbt, nimmt Johanna dies emotional mehr mit, als sie gedacht hätte. Alte Erinnerungen an seinen Garten, den sie von ihm geerbt hat, kommen hoch. Gedanken kreisen um das Älterwerden, um die ersten Falten im Gesicht und ihr Verhältnis zu ihrer Mutter und Tochter. Doch Karl und sein Garten bringen mehr Veränderung mit sich als nur diese Gedanken und die Zornesfalte im Gesicht seiner Tochter.
Johanna ist mit 40 in der Mitte des Lebens und hat auf den ersten Blick eigentlich alles richtig gemacht: Ihr Laden läuft gut. Sie hat einen guten Draht zu ihrer Tochter und auch ihre Ehe ist glücklich. Und doch hadert sie mit sich und ihren unterschiedlichen Rollen. Mit ihrer eigenen Wahrnehmung und dem Bild nach außen. Ist sie noch attraktiv und begehrenswert? Warum ist sie nicht (mehr) so flippig wie die jüngere Kollegin? Wie wirkt sie auf andere? Kurzerhand lässt sie sich die Zornesfalte „wegspritzen“. Aber ist das die „Lösung“?
Johannas Reflektieren über die kleinen und großen Entscheidungen und Veränderungen im Leben, im Beruf, im Aussehen. Das fand ich persönlich sehr erfrischend realistisch und authentisch, wenn ich auch nicht immer jeden Gedanken so mitgehen konnte.
Mir gefiel der Roman sehr gut und auch sprachlich war er herrlich leicht umgesetzt. Eine insgesamt schöne und runde Geschichte, die ich gern gelesen habe.

Bewertung vom 06.04.2025
Hunger und Zorn
Renard, Alice

Hunger und Zorn


ausgezeichnet

Grandiose Geschichte über Freundschaft und Liebe -Isor ist von Geburt an anders als andere Kinder. Sie redet nicht - „Sie will nicht. (…) Aber sie könnte.“ Und sie lebt in ihrer ganz eigenen Welt. Ihre Eltern Maude und Camillio kommen kaum an sie heran. Ihre plötzlichen Wutanfälle und nächtlichen, heimlichen Streifzüge durch die Stadt treiben die Eltern an die Grenzen ihrer Kräfte.
Die Mutter ist hilflos in der Situation gefangen, versucht aber, die Tochter zu verstehen und zu beschützen. Für sie ist klar, dass Isor um ihren Zustand weiß, und „…versucht, uns ihr Unglück nicht aufzubürden, davon bin ich überzeugt,…“. Ganz anders der Vater. Er macht keinen Hehl daraus, dass er den Zustand seiner Tochter nicht versteht. Er selbst sieht sich in der Geiselhaft der Tochter, gefangen in „einer Blase der Aufopferung“, erwartet eher „Anerkennung für die Opfer“, die er erbringen muss.
Und dann tritt eines Tages Lucien in Isors Leben. Der 76-jährige Nachbar, der Isor quasi vom ersten Moment in sein Herz schließt und dem Mädchen eine Welt eröffnet, die sie bis dahin nicht kannte. Aber auch für Lucien verändert sich von einem Moment auf den anderen alles. „Darf man eigentlich ungefragt in das Leben anderer Menschen eindringen? Einfach so „da bin ich“ zu verkünden und sich in einem fremden Herzen niederlassen? Sich einfach so in jemand anderem einnisten und jeden Winkel seines Wesens bewohnen?“
Der alte Mann und die Teenagerin entwickeln eine tiefe Verbundenheit, ja eine Seelenverwandtschaft, die immer intensiver wird. Und gerade, als ich beginne, mich zu fragen, in welche Richtung dies driftet, dreht der Plot komplett und ich bin fasziniert, sprachlos, begeistert. Was für eine grandiose Geschichte!
Es fällt mir schwer zu beschreiben, was dieses Kunstwerk so besonders macht. Die Autorin lässt uns Isor in großartigster Manier kennenlernen: aus der Außenperspektive des Vaters und der Mutter, über Lucien hin zu Isor selbst. Wir erleben die Metamorphose eines jungen Mädchens, das sich aus den Grenzen ihres Daseins befreit. Und das in einer Erzählsprache, die einerseits so brutal ehrlich ist, dass es einem die Sprache verschlägt und dann wieder so poetisch und feinfühlig daherkommt, dass man die Tränen wegblinzelt. Ganz zu schweigen von der bravourösen Leistung, die die beiden Übersetzerinnen Katharina Meyer und Lena Müller durchweg aber ganz besonders im zweiten Teil des Buches an den Tag gelegt haben.