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Benutzername: 
MarcoL
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Füssen

Bewertungen

Insgesamt 224 Bewertungen
Bewertung vom 20.04.2025
Hinterm Beton das Meer
Wildschütz, Phil

Hinterm Beton das Meer


ausgezeichnet

Herrlicher, tiefgreifender Coming-of-age bzw. Coming-to-life Roman! Sehr gerne gelesen!

Ein wunderbares Buch, eine Mischung aus Coming-of-age und coming-to-life. Ihr glaubt, davon schon genug gelesen zu haben? Mit nichten! Hier begleiten wir den Ich-Erzähler von seiner Jugend bis hinauf ins (für Jugendliche fast schon biblische) Alter von über 30 Jahren. Er ist auf der Suche. Aber nach was?
Stabile Beziehung? Erfüllender Job? Das Strampeln nach Sehnsuchtsorten? Die Möglichkeit, das zu tun, was man gerne tun möchte?
Aber was will man denn gerne tun um dabei das eigene Innenleben zu verwirklichen, aber sich dennoch lieber verstecken für eine scheinbare Sicherheit?

Wir begleiten unseren Helden und starten mit ihm, als er als zwölfjähriger von der Schule fliegt.

S.10: „Wir schaffen das“, sagte sie leise. Damals war ich zwölf und mein Vater war gerade gegangen. Ich war unsicher, was wir schaffen mussten – ich war zu jung um es zu verstehen.“

Dann geht es recht schnell dahin, er scheint immer wieder über seine eigenen Füße zu stolpern. Ein erster Roadtrip mit seinen Kumpels ist ein Hit. Einfach nur abhauen und den Tag auf sich zukommen lassen. Dann Studium, Job, Hamsterrad. Hie und da eine Beziehung, selten was langes oder stabiles. Aufkeimende Unsicherheiten, zu vieles Nachdenken? Versagen und Versagensängste begleiten den jungen Mann. Und die Sehnsucht nach damals. Und der Surfsommer an der französischen Atlantikküste, der immer wieder kapitelweise auftaucht wie ein Gespinst.

Auf eine sehr unterhaltsame und tiefschürfende Weise in einer feinen Sprache zieht uns der Protagonist (seinen Namen erfahren wir erst am Schluss) durch den Roman. Ohne übertriebene Knalleffekte versteht es Phil Wildschütz, uns mit seiner Art zu Schreiben einzulullen und nimmt uns mit auf diese Reise. Zwischen Träumen und Alltagschaos gibt es immer diesen Funken, der einen antreibt, um eines Tages die perfekte Situation für einen zu finden.

S.236: „Ich dachte, jemand könnte mir zeigen, wie das geht – das Leben, Menschen, Beziehungen. Dass ich’s nur falsch verstanden habe“, sagte ich leise.

Und die Schlusssequenzen haben es in sich … versprochen!

Ganz große Leseempfehlung für diesen wunderbaren Reisebericht!

Bewertung vom 16.04.2025
Mondbad
Lahens, Yanick

Mondbad


ausgezeichnet

Intensiv wie ein Geschichtsbuch, spannend wie ein Krimi, weich wie ein Gedichtband, hart wie die Realität.

Bereits 2014 im französischen Original erschienen, wurde dieser preisgekrönte Roman (Prix Femina) der Haitianischen Autorin nun mit einem grandiosen Sprachgefühl ins Deutsche übersetzt.
Sie beschreibt auf den 200 Seiten eine Familiensaga über einhundert Jahren, wie sie typischer für das gebeutelte Land nicht sein kann.
Auf der einen Seite sind die reichen Landbesitzer. Skrupellos und brutal, nur auf den eigenen Vorteil bedacht, nehmen sie sich, was sie wollen. Häuser, Ländereien, Frauen, Mädchen, Leben. In diesem Fall ist es die Familie Mésidor, ständig auf der Suche nach noch mehr Macht. Auf der anderen Seite die weitverzweigte Großfamilie Lafleur, die Tag für Tag versucht, genug zum Essen und zum Leben zu ergattern. Die Lafleurs hatten einst Land, doch das fiel vor langer Zeit den Mésidors in die Hand. Seitdem kämpfen sie sich durch. Als die Militärs das Land übernehmen, ändert sich nicht viel. Trotz der Hoffnungen der armen Landbevölkerung. Arme wie Reiche sind an der Teilnahme beim Regime nicht abgeneigt, um ihr Stück am Kuchen zu ergattern. Die einen machen es, um es den Landbesitzern „mal so richtig zu zeigen“ und vielleicht aus dem Elend ausbrechen zu können, die anderen tun es in der Hoffnung, noch mehr Macht und Besitz zu ergattern. In beiden Fällen geht der Schuss nach hinten los.
Die Autorin zeichnet hier ein markantes Sittenbild des ländlich geprägten Haitis. Die Kluft zwischen arm und reich bleibt immer bestehen, auch wenn sich die Grenzen manchmal in die eine oder andere Richtung verschieben. Das Leben der Landbevölkerung ist stark geprägt von der Voodoo–Religion mit all ihren Geistern, Göttern und Geschichten (sehr interessante Einblicke, und Voodoo ist keinesfalls das Klischee von Puppen mit Nadeln drinnen). Doch auch die Lehren (und Hartnäckigkeit) des Christentums fließen mit ein. Man pickt sich heraus, was gerade am Nützlichsten erscheint.

S.17: „Ein Wechselspiel, das uns alle mit den Mésidors verband und sie, wider Willen, an uns kettete. Ein Wechselspiel, das wir, Sieger wie Gefangene, seit langer Zeit meisterlich beherrschten. […] Nur eine Geschichte der Menschen aus der Zeit, da die Götter noch nicht fern sind … Da Meer und Wind ihre Namen aus Schaum, Feuer, Staub noch leise hauchen oder auch laut hinausschreien.“

In klaren, und auch immer wieder sehr poetischen Worten, wird uns dieses Gesellschaftsbild nahe gebracht. Die Sprache ist intensiv wie ein Geschichtsbuch, oftmals spannend wie ein Krimi, weich wie ein Gedichtband und dennoch hart wie die Realität.
Wenn man mit einem offenen Geist in die Seiten eintaucht, erlebt man ein Gefühl für das Land, ohne es bereisen zu müssen. Ganz große Leseempfehlung.

Bewertung vom 11.04.2025
Hatokos wunderbarer Schreibwarenladen
Ogawa, Ito

Hatokos wunderbarer Schreibwarenladen


ausgezeichnet

Still, leise. Mit Tiefgang. Ein feiner Wohlfühlroman um die Tageshektik zu entschleunigen.

Der Titel mag etwas abgedroschen klingen, aber das Buch entpuppt sich von Anfang an zu einem feinen, stillen Wohlfühlroman. Gerade die richtige Ablenkung in dieser hektischen Zeit voll von alltäglichen politischen Horrormeldungen. Es sind ruhige Episoden aus Hatokos neuem Leben, angefüllt mit Herzlichkeiten und guten Dingen. Ich würde sagen typisch japanisch. Die Leser*innen werden dabei gut unterhalten mit der traditionellen Höflichkeit und Zurückhaltung, Fremde nicht mit Problemen zu belasten.
Um was geht es: Hatoko kommt nach dem Tod ihrer Großmutter zurück nach Kamakura und übernimmt deren Schreibwarenladen. Sie ist damals im Streit davongelaufen, hatte jeglichen Kontakt abgebrochen, da ihre Großmutter meinte, Zuneigung könne man nur durch eine sehr strenge Erziehung beweisen.
Dennoch, ihre „Vorgängerin“, wie sie von Hatoko meistens genannt wurde, gab ihr eine wertvolle Gabe mit: die hohe Kunst der Kalligraphie und die Befähigung, für andere im Auftrag Briefe zu verfassen. Und das ist es, um was es hauptsächlich im Roman geht. Es kommen die unterschiedlichsten Menschen zu ihr mit der Bitte, einen Brief zu schreiben. Die Gründe sind sehr verschieden – von Dankesschreiben bis zum Trennungsbrief ist alles dabei. Wichtig hierfür ist, das richtige Papier zu wählen, und auch das für die Situation passende Schreibutensil.
Rund um diese „Jobs“ begleiten wir Hatoko natürlich auf ihren privaten Pfaden, treffen liebevolle Nachbarinnen, einen Baron, und andere gute Freunde. Und so ganz nebenbei erfährt unsere Protagonistin auch etwas über ihre Vergangenheit …
Klingt langweilig? Nein, denn die Art und Weise wie Ito Ogawa diese Geschichten schreibt ist alles andere als kitschig. Mit einer sanften Feder (für die sie zahlreiche Auszeichnungen erhalten hatte) leitet sie uns durch die Seiten, lässt einen dabei zurücklehnen und dahinschweben.
Für mich ist das ganz große Erzählkunst und somit gebe ich hier sehr gerne eine absolute Leseempfehlung – Entschleunigung ist das Zauberwort.

Bewertung vom 09.04.2025
Zucker
Knoll, Ursula

Zucker


ausgezeichnet

Ungesüßt historisch! Klug inszenierte Reise durch die Zeit anhand dreier Frauengenerationen.

Puh – wo fange ich an bei diesem sehr vielschichtigen, klug inszenierten Roman …

Drei Frauen sind es, die uns hauptsächlich durch die ungesüßte Wahrheit des weißen Goldes führen. Dabei durchschreiten wir mehrere Epochen der Zeitgeschichte.
Ejo (eine allwissende Geisterscheinung – wunderbare Idee) erzählt über ihre Schwester Mary Prince (1788-1834). Mary war Sklavin auf den Zuckerrohrplantagen, erlangt die Freiheit und zerbricht daran. Ihr Buch wird wegweisend für die Abschaffung der Sklaverei (zumindest bei den Briten).

1848 während der Märzrevolution in Wien treffen zwei Frauen aufeinander. Dita, ehemalige Arbeiterin in einer Wiener Kolonialzuckerfabrik, der Hunger ein treuer Bekannter ist und sich den Aufständen anschließt, landet als Dienstmagd bei den Rothermanns. Tochter Mathilde (Hunger ist ein Fremdwort) hat gute Ideen, um der großen Konkurrenz an Rohrzucker aus den „Kolonien“ zu begegnen und setzt auf die Zuckergewinnung aus Zuckerrüben, trotz massiver Widerstände von der patriarchalen Seite.

In der Jetztzeit, beginnend 1990, begleiten wir Paula. Zuerst als Gastschülerin in London, dann mit ihrer Arbeit an der Entwicklung einer Brennstoffzelle, gespeist mit Zucker. Zusätzlich spielt Paulas Tochter Katja eine tragende Rolle mit ihren Recherchen zur Familiengeschichte – natürlich verschränkt mit der Historie des Zuckers.
Die Autorin verwebt hier sehr genial die Schicksale der handelnden Frauen, und nach und nach kommt man in den Genuss der Wahrheit, wie diese Lebensgeschichten miteinander verflochten sind.
Reichtum prallt auf bittere Armut. Der Drang, einfach nur etwas zu Essen, ein Bett und ein Dach über dem Kopf zu haben, waren bzw. sind Grund genug, Menschen bis aufs Blut auszubeuten.
Der Roman ist mehr als eine Aneinanderreihung von historischen Fakten, verpackt in die Geschichten der jeweiligen Protagonistinnen. Der Zucker ist das bindende Glied zwischen mehreren Generationen und Familiengeschichten. Dabei kommt die gesellschaftliche Akzeptanz der Frauen nicht zu kurz, gleichwohl ob sie in Reichtum oder Armut leben.

Das Nicht-Erkennen und Nicht-Akzeptieren von Hunger und den Nöten der Arbeiterschicht, die ja letztendlich zum Wohlstand der Unterdrücker und Arbeitgeber maßgeblich beiträgt, ist für mich ein weiterer Faden, der sich durch das Buch zieht (und bis heute nichts an Aktualität verloren hat, wenn man die Volksfremde der Politiker betrachtet).

Meine Hochachtung an die Autorin für diesen Roman, der akribisch recherchiert und genial umgesetzt ist. Geschichte meets Gegenwart, ungesüßt – wohlgemerkt. Somit gebe ich gerne eine Leseempfehlung

Bewertung vom 06.04.2025
Die Prinzen vom Birkensee
Elling, Lars

Die Prinzen vom Birkensee


sehr gut

Zwei Jungen in den Wäldern auf sich alleine gestellt. Ein Abenteuer 1913/14. TW: viel Tierleid!

Die Prinzen vom Birkensee sind der dreizehnjährige Arnstein und sein um einige Jahre jüngere Bruder Truls. In den Sommern der Jahre 1913 und 1914 wurden beide von ihrem Vater, den sie meist nur den „Kaiser“ nannten, in die Mark nördlich von Christiania (dem heutigen Oslo) geschickt. Es ist ein ausgedehntes Waldgebiet rund um den Holmenkollen mit vielen Seen. Ganz auf sich alleine gestellt durchstreifen die beiden die Wälder, unterhalten hier und dort ein Lager, leben von dem, was die Natur ihnen bietet. Manchmal schaffen sie es auch, so viel zu „hamstern“, damit sie es auf den Märkten der kleinen Ortschaften verkaufen können.
In dieser Zeit schweißen die beiden richtig zusammen, agieren oft wie ein Individuum, merken und spüren, was den anderen gerade beschäftigt. Der drohende erste Weltkrieg wirft seinen langen Schatten bis in diese Gegend, und so beschließt der Vater der beiden, dass sie im Spätsommer 1914 ihren fünfzehnjährigen, schwer kognitiv beeinträchtigten Bruder mit in die Wildnis nehmen müssen. Mit Folgen …
1985. Filip, 19, ist der Enkel von Arnstein, und zusammen mit seinen Eltern und seiner Schwester bewohnen sie ein Haus am Rande der Stadt. Ihr unmittelbarer Nachbar ist Arnsteins Bruder Truls mit seiner Frau. Es herrscht Stille zwischen den beiden Familien, ein lächerlicher Apfelkrieg ist nur eine kleine Auswirkung davon. Arnstein ist ein Pflegefall, sein von Arbeit geschundener Körper liegt im Sterben, doch Arnstein will noch nicht aufgeben. Filip tritt seinem Opa sehr abschätzig entgegen, macht abfällige Bemerkungen über dessen langes Aufbegehren gegen den Tod. Doch so allmählich, nachdem er zuerst gezwungen wurde, sich mehr um seinen Großvater zu kümmern, entwickelt sich doch noch so etwas wie eine Beziehung zwischen den beiden. Filip ändert sich und seine Einstellung, genauso wie Arnstein sein Mürrischsein und seine Bosheit etwas beiseiteschieben kann. Er beginnt, von jenen Sommern zu erzählen, und Filip hängt an seinen Lippen. Er möchte unbedingt erfahren, was der Grund für das Zerwürfnis zwischen den beiden Brüdern war.
Der Roman liest sich leicht und flüssig, die Erzählweise ist oftmals spannend wie eine Abenteuergeschichte. Es geht aber auch um andere Dinge. Das Leben von Filip wird durchleuchtet, mit seiner Liebe zu Fußball und der Musik von Brian Ferry, sein Gehader mit den Kassetten im Walkman, und vieles mehr.
Bis jetzt würde ich sagen: eine feine Geschichte.
Was mir aber absolut komplett gegen den Strich ging, ist die ausufernde und wie für selbstverständlich angenommene Gewalt der beiden Jungs gegen Tiere. Hier hätte ich mir vom Verlag eine ordentliche Triggerwarnung gewünscht, und nicht eine Glorifizierung des Angelns am Buchrücken. OK – ich dachte, ist sei nur eine Metapher. Aber da lag ich falsch. Auch wenn das Verhältnis zur lebenden Natur vor hundert Jahren ein anderes gewesen sein mag, und die Jungs auf sich alleine gestellt waren um in der Wildnis nicht zu verhungern, dann hätte ich gerne auf die expliziten Beschreibungen des Tötens (manchmal fast schon ein Massenmord) sehr gerne verzichtet.
Mehr als einmal war ich versucht, aus diesen Gründen das Buch abzubrechen. Aber die Neugier, wie die Geschichte wohl ausgehen mag, hat gewonnen.
Schreibtechnisch gibt es gegen den Roman auch nichts auszusetzen – ganz im Gegenteil.
Und so mag sich bitte jede*r selbst ein Bild machen, ob dieser Roman, der sicherlich auch den ein oder anderen familienpolitischen oder gesellschaftlichen Aspekt behandelt, gelesen werde möchte.
Für mich war es eine Grenzerfahrung. Und eine Bewertung: Zwischen zwei und fünf Sterne ist alles drinnen.

Bewertung vom 03.04.2025
Kumari
Krömer, Philip

Kumari


ausgezeichnet

Nepalesischer Geschichtsunterricht in einem packenden Roman rund um die Kindgöttin Kumari! Ein wunderbares Leseerlebnis!

Was wissen wir alles über Nepal? Geschichte, Religion, Politik? Sehnsuchtsort für viele Menschen am Fuße des Daches der Welt.
Das Land stand 2001vor einem Bürgerkrieg. Maoisten wollten die Herrschaft des Königshauses stürzen. Ein Blick ins Geschichtsbuch zeigt, dass am 1. Juni 2001 der Kronprinz Dipendra sein Land von der Monarchie befreien wollte und metzelte neun Mitglieder des Königshaues, darunter Vater und Mutter, dahin und richtete sich selbst.
Soweit der historisch-politische Hintergrund. Warum es so kam, und was vielleicht dahinter steckte, erzählt uns der Autor in einem sehr spannenden, und hervorragend recherchierten Roman.
Die titelgebende Kumari ist die wiedergeborene Schutzgöttin Taleju. Sie sieht alles, hört alles, weiß alles. Als Kleinkind, wenn die 32 Merkmale passen, vom Hohepriester aus der Bevölkerung Kathmandus ausgesucht, hat das Mädchen dieses Amt bis zu ihrer ersten Regelblutung inne. Mehr oder weniger eingesperrt, verdammt jeden Tag die Rituale auszuüben, ohne Schulbildung, wird sie danach mit einer kleinen Rente abgespeist und aus dem Tempel geworfen (pervers in meinen Augen).
Aber sie beklagt sich nicht. Sie erzählt uns, was sie sieht. Über sich selber und die nepalesische Götterwelt, über das Herrscherhaus, über Dipendra und seine Beweggründe. Und über Rupa Rana – eine fünfzehnjährige Rebellin, glühende Maoistin. Sie und ihre Mitstreiter*innen wollen Nepal umkrempeln. Sie wollen, der Lehre von Mao Tse Tung folgend, das Land dem Volk geben.
All das spielt sich rund um das Dasain-Fest ab. Es ist ein äußerst blutiges Opferfest (TW: es bedarf eines guten Magens bei der Lektüre). Denn Blut bestimmt nicht nur das Schicksal der Kumari …

Der Roman liest sich spannend vom Anfang bis zum Ende wie ein historischer Schinken epochalen Ausmaßes. Philip Krömer versteht es hier perfekt, die harten Fakten mit Fiktion zu vermischen. Er lässt ein ziemlich umfassendes Bild über Nepal entstehen – und das mit wenigen Worten auf gerade mal 220 Seiten. Man erkennt auf unterhaltsame Weise, wie und warum Religion (oder Mythologie) und Staat derart eng miteinander verschränkt sind.

Das Buch regt stark zum Nachdenken an. Auf der einen Seit der religiöse Wahnsinn, auf der anderen Seite die bedingungslose Aufgabe des Individuums im Maoismus, und nebenbei das Festhalten an feudalen Strukturen zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Unterdrückung. Und genau die „Macht“ ist Triebfeder für jedes Handeln, ohne Rücksicht auf den Einzelnen. Jede*r ist nur ein Zahnrad im Getriebe des Machterhalts, egal in welcher Maschinerie sich diese Räder drehen.
Im Falle der Kumari ist es ein unschuldiges Mädchen, welches die Rituale des Blutes aufrechterhalten muss, sowie ein armes Mädchen aus der Provinz, das für ein größeres Etwas eingespannt wird.
Für mich war die Geschichte komplettes Neuland – und umso tiefer bin ich zwischen die Zeilen gefallen.
Gerne gebe ich eine ganz große Leseempfehlung für diesen tief schürfenden und nachdenklich machenden Roman, gespickt mit spannender Fiktion und harten Tatsachen. Herrlich erzählt, ohne viele Ausschweifungen. Chapeau!

Bewertung vom 01.04.2025
Kaltblut (eBook, ePUB)
Bauer, Wolfgang Maria

Kaltblut (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Archaischer Roman aus der unwirtlichen Bergwelt rund um Schuld. Glasklar erzählt. Große Leseempfehlung.

Stubber war schon immer ein Außenseiter. Wortkarg wie die Berge, in denen er lebte und gerne umherstreifte. Mit anderen Menschen wollte er kaum etwas zu tun haben, dabei zog es ihn sogar mal in die Stadt zum Studieren, aber das war nichts für ihn. Zurück im Bergdorf übernahm er das Gewerk seines Vaters als Sprengmeister. Doch mehr als Gelegenheitsjobs gab es selten.
Die Gesellschaft nach getaner Arbeit vermied er, zu sehr war ihm das lose Geschwätz verpönt.

S. 26: „Ihre Gespräche über Staat, Weiber, die heutige Jugend, und die Welt überhaupt waren ihm zuwider gewesen. Laufe einen Regenbogen, hatte er einst in einem Jugendbuch gelesen, um rückständige Menschen.“

Doch einmal, ja einmal da traf er dabei seine große Liebe: Alaska nannte er sie wegen ihrer Augen. Sie waren wie eins, bis sie bei der Geburt seines Sohns verstarb. Ein Schlüsselmoment für Stubber. Er wollte mit seinem Kind, welches ihm Alaska nahm, nichts zu tun haben. Luka, so wie der Bub von seiner Ziehmutter, der bigotten Zugehfrau des Pfarrers, genannt wurde, trage die Schuld am Alaskas Tod. Stubber zog sich noch mehr zurück – die Jahre gingen ins Land, und dann starben bei einer folgenschweren Explosion einer Berghütte elf Männer. Darunter Stubbers einziger Mensch, der ihm in dieser Zeit etwas bedeutete: sein Gehilfe Sepp. Sepp war geistig behindert, und neben dessen Eltern kümmerte sich nur Stubber um ihn. Sepp, der immer fröhlich war, immer ein Lächeln parat hatte. Sepp, der nun nicht mehr war, zerfetzt vom Dynamit.
Die ersten Spuren führten sofort zu Stubber. Auch für die sogenannte Dorfgemeinschaft (Betonung auf gemein) war der Fall mehr als klar. Der Einzelgänger, den eh keiner mag. Endlich findet sich ein Sündenbock. Doch nach einer Nacht in der Zelle musste Stubber freigelassen werden, er hatte ein stichfestes Alibi. Das Dorf musste sich einen neuen Schuldigen suchen, und Namen fanden sich schneller als man mit dem Finger auf jemanden zeigen konnte. Denn darin waren die Bergdörfler meisterhaft begabt.

Drei Wochen nach der Explosion wurden die Leichen zur Beerdigung freigegeben. Stubber wollte sich von „seinem“ Sepp ebenfalls verabschieden, aber er wurde nicht zum Grab gelassen. So beobachtete er schweren Herzens die Beisetzungen von der Ferne. Danach, von schwerem Kummer geplagt, wollte er sich in die Berge zurückziehen. Aber er wurde verfolgt … nicht nur von seinem Gewissen … meisterhaft erzählt …und mehr wird jetzt wirklich nicht mehr verraten.

Die Sprache ist ohne Ausschweifungen, klar und ohne Trübungen wie ein Bergsee. Direkt und hart, wie Stubber selbst, kommt das Erzählte daher, lässt kaum Platz für Sentimentalitäten. Man schlägt sich beim Lesen rational bedingt auf seine Seite, auch wenn er ein Kaltblut sein mag, beziehungsweise so von den Dorfbewohnern bezeichnet wird. Und man fragt sich letztendlich, wer tatsächlich kaltblütig und kaltherzig ist.
Jemand, der von der Gesellschaft durch sein „Alleine-sein-wollen“ in den Wahnsinn getrieben wird, oder diejenigen, die zur Hetzgemeinschaft gehören?
Eines der Grundthemen kann mit dem Wort „Schuld“ betitelt werden, und wie damit im Einzelnen und in der Gesellschaft umgegangen wird.

Sehr gerne bin ich in diese archaische Bergwelt eingetaucht, mit vollen Sympathien für Außenseiter*innen und solchen, die nach außen gedrängt werden. Ganz große Leseempfehlung für diesen atmosphärischen Roman.

Bewertung vom 29.03.2025
Edith Holler
Carey, Edward

Edith Holler


ausgezeichnet

Genial aufgebauter Spannungsroman über ein Mädchen in einem alten Theater. Geister! Märchen! Fantasy! Große Leseempfehlung!

Edith Holler ist ein zwölfjähriges Mädchen, abgeschirmt von der Außenwelt. Sie lebt in einem Theater in Norwich, welches ihr Vater leitet. Sie hat zwar genug Kontakte zu all den Mitarbeitern im Haus – die meisten sind Tanten und Onkels. Aber sie darf die Straße vor der Türe nicht betreten, sonst stürzt das Gebäude ein und das letzte verbliebene Theater in Norwich – man schreibt das Jahr 1901 – würde verschwinden. Ein schwerwiegender Fluch liegt auf Edith.
Edith hat sich so gut es geht eingerichtet. Sie schreibt sogar ein dramatisches Stück über die Geschichte der Stadt. Denn in der Marmeladenfabrik geschehen furchtbare Dinge, und laufend verschwinden Kinder. Edith glaubt, dem Geheimnis auf die Spur gekommen zu sein … eine sehr grausame Entdeckung will sie in dem Stück enthüllen. Und dann will just ihr geliebter Vater die Besitzerin der Käfermarmeladenfabrik heiraten (vor allem des Geldes wegen um das Theater zu erhalten). In Ediths Drama, welches schon fleißig einstudiert wird, sitzt das Böse aber genau dort. Ein Konflikt … ein großer, böser Konflikt ... spannend, sage ich euch!
Der ganze Roman, der anfänglich für mich etwas Anlaufschwierigkeiten ob der ausschweifenden Erzählungen rund um Ediths Alltag mit all ihren Verwandten hatte, entpuppt sich als genial gestrickte Spannungslektüre mit so vielen unterschiedlichen Genreelementen. Fantasy, Horror, Geistergeschichte. Sogar etwas Gothic schwebt zwischen den Zeilen herum. Es darf ein wenig versteckte Gesellschaftskritik auch nicht fehlen, die leider Tag für Tag aktueller wird. Stichwort: Geld gegen Bildung.
Und das ganz tolle dabei: So realistisch das komplette Setting rund um Edith ist, und man glaubt wirklich an all die Geister, kommen einem doch wieder Zweifel, ob das nicht alles nur eine Ausgeburt von Ediths überbordender Fantasie ist, oder gar Wahnvorstellungen sind. Der Autor versteht es hier perfekt, die Wahrheit versteckt zu halten und die Leser*innen selbst entscheiden zu lassen. Es gibt natürlich eine Auflösung in einem tollen Showdown, die hier natürlich nicht verraten wird.
Der Roman von Edward Carey ist ein sehr klug aufgebauter Pageturner – ok, das mit dem pageturnen beginnt vielleicht erst so ab Seite 100, bis dahin muss man einfach durch (ist aber nicht langweilig) – doch dann geht die Post ab. So richtig. Ein Märchen, eine Geistergeschichte, eine Horrorgeschichte, ein Fantasyroman, ein Drama. Vor allem eins: ein schlaues Buch über den Wunsch der Selbstverwirklichung entgegen allen Steinen, Felsen und Gebirgen, die einem so in den Weg gelegt werden. Hervorzuheben ist natürlich auch die Übersetzung von Cornelius Hartz.
Illustrationen des Autors ergänzen die Handlung in angemessener Weise.
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für diesen höchst außergewöhnlichen Roman.

Bewertung vom 25.03.2025
Halbinsel
Bilkau, Kristine

Halbinsel


ausgezeichnet

Mutter und Tochter, einander fremd und dennoch vereint, in einer sprachlich wunderbaren Geschichte über eine Generationenkluft.

Linn ist noch ein Kleinkind, als ihr Vater Johan beim Joggen zusammenbricht und stirbt. Für ihre Mutter Annett stürzt eine Welt zusammen. Doch sie meistert ihr Schicksal, zieht Linn alleine auf, ermöglicht ihrer Tochter Abitur, Studium und Selbstverwirklichung.
Linn wächst heran, engagiert sich stark für den Umweltschutz, betreut Projekte, kommt in der Welt herum, hält Vorträge.
Und just während eines Vortrages bricht sie nach einem Schwächeanfall zusammen. Ihre Mutter nimmt sie zu sich, zur Erholung, um Kraft zu tanken. Aus einer Woche werden Monate. Linn bleibt in sich verschlossen, spricht kaum, schläft in den Tag hinein, scheint sich um nichts kümmern zu wollen. Annett beginnt dieses Verhalten zu stören, erst recht als Linn einen Teilzeitjob in der Bäckerei annimmt. Zu was der ganze Aufwand? Das Studium? Die Entbehrungen als alleinerziehende Mutter, wenn ihr Kind dann all das hinwirft. Doch tut sie das wirklich? Weiß Annett überhaupt, was das Beste für ihre Tochter ist?
Es hängt ein grauer Schleier über den beiden, und diese Stimmung hat die Autorin so perfekt inszeniert, dass man sie greifen könnte. Es ist wie eine Androhung eines möglichen Gewitters, von dem man nicht weiß, ob es sich entladen wird oder nicht. Gelegentlich kommt Wind auf, oder die Sonne nestelt sich hindurch, erhellt Szenen, gibt Hoffnung. Besonders dann, wenn die neuen Nachbarn ins Bild kommen – eine fröhliche Truppe, die ihr Leben abseits der gesellschaftlich festgefahrenen Pfade gestaltet.
Die Halbinsel an der Nordsee, den Elementen gnadenlos ausgeliefert in all ihrer Pracht, kann schnell zur Falle werden. Steigende Meeresspiegel, unverantwortliches Verhalten der Menschheit – es ist alles ein filigranes Gebilde, genauso wie die Zwischenmenschlichkeit von Annett und Linn. Auch kleine Teaser der alten Sage um Rungholt dürfen hier nicht fehlen und werden sehr geschickt in die Story eingebaut.
Und überhaupt - die Autorin spielt gekonnt mit den Emotionen ihrer Protagonistinnen, und auch mit ihren Leser*innen. Und das auf eine leichte, lockere Art – man kann das Buch einfach nicht mehr weglegen.
Die Zweifel von Annett, zusammen mit ihrem Sicherheitsdenken, sickern aus ihren Tiefen hervor, scheinen an einer Mauer, die Linn umgibt, abzuprallen. Auch Johan kommt zu Wort, als willkommenes Stilmittel in Annetts Gedanken. Wie würde er sich verhalten, was sagen, was tun?
Kristine Bilkau schreibt wunderbar berührend über eine Generationenkluft, über eine Mutter-Tochter-Beziehung, und darum, ob oder wie diese Spalten, wenn überhaupt, überwunden werden können. Mutter und Tochter sind einander fremd und dennoch vereint, beide im Versuch, das jeweilige Beste aus sich zu machen, im Kampf gegen die Ströme der Zeit.
Sehr gerne gebe ich für diesen sprachlich äußerst gelungenen Roman (wie alle Romane der Autorin) eine ganz große Leseempfehlung. Ich bin wirklich sehr angetan davon.

Ein wenig erinnert mich der Grundgedanke des Romans auch an das letzte Buch von Donatella di Pietrantonio „Die zerbrechliche Zeit“, erschienen im Kunstmannverlag. Ein ebenfalls wunderbarer und sehr zu empfehlender Roman mit ähnlichen Topics.

Bewertung vom 23.03.2025
Und dann springen wir
Lange, Gianna

Und dann springen wir


ausgezeichnet

Wunderbarer Debütroman über Trauer, Liebe, und die Sehnsucht nach Leben. Ganz große Leseempfehlung!

Dieses Debüt von Gianna Lange hat es in sich. Ein wunderbar aufgebauter, liebevoller Roman in einer poetischen Sprache, die einen von Anfang an fesselt und mitnimmt. Selten habe ich mich in den Zeilen derart wohl gefühlt. Da gibt es kein Holpern, kein Ruckeln, sondern einen sehr harmonischen Flow rund um die Geschichte von Rosa.
Rosas Familienleben ist nicht einfach. Sie hat mir ihrer Mutter Elise eine besondere Beziehung. Und Elise hat Schwierigkeiten mit ihrem Leben. Es gibt dunkle Momente, aber auch sehr Helle. Rosa erinnert sich an eine gemeinsame Reise, eine Art Road Trip, der die beiden über Berlin, Prag, Budapest bis nach Mostar und in die Herzegowina führte. Sie standen auf der Brücke und sahen den Wagemutigen zu, die hinunter in den Fluss sprangen. Sie beschlossen, es auch zu tun – wenn sie das nächste Mal wieder in der Stadt wären.

„… und dann springen wir …“

S. 48: „Wer ist Elise? Zutreffende Antworten an solchen Tagen: Glück und Leichtigkeit. Nudeln mit Tomatensoße, Vanilleeis im Gefrierfach. Worte, Taten, Lieder. Leben.“

Doch dann stirbt Elise. Ihr geschwächter Körper kann dem Druck der Tuberkuloseerkrankung nicht mehr standhalten. Und Rosa steht alleine da, muss die Beerdigung organisieren, muss mit ihrer Trauer fertig werden. Und sie muss, ob sie will oder nicht, Kontakt zu ihrem Vater aufnehmen. Der ist eines Tages gegangen, hat die beiden verlassen und eine neue Familie gegründet. Der Kluft ist groß, besonders weil Rosa es so wollte.
Bis zur endgültigen Beisetzung nach der Einäscherung hat Rosa Zeit, weiß nicht viel mit sich anzufangen, und beschließt, den Trip von damals zu wiederholen. Alleine.
Sie trifft auf eine Bekannte – Emma. Emma ist ganz besonders. Während Rosas Familie ein Trümmerhaufen ist, der vielleicht zum Teil wieder gekittet werden kann, ist Emma als Adoptivkind auf der Suche nach ihren Wurzeln. Emmas und Rosas Suche führt sie wieder nach Mostar. Und dort, ja was dort alles passiert, müsst ihr selber lesen. Schmerzliches und viel Herzliches, soviel kann ich noch verraten.
Parallelen zur Seele von Elise und der Stadt sind nicht von der Hand zu weisen, und in diesem Roman spielerisch miteinander verstrickt.

S.123: „Für Elise war es Mostar gewesen. Das Ziel ihrer Flucht. Die Stadt hatte etwas Brutales, sie war vernarbt und hatte Brüche und Risse von all den Schlägen, die sie eingesteckt hatte. Dem setzte sie trotzig ihre überwältigende Schönheit entgegen.“

Familie, Trauer, Suche nach sich selbst, nach dem Leben selbst – das und so vieles mehr steckt in diesem Roman, der, wie ich schon erwähnte, mich sehr begeistert hat. Und er ist nebenbei eine versteckte Liebeserklärung an die Stadt Mostar und die Herzegowina. Man möchte sich sofort auf diesen Roadtrip begeben.

S.8: „Ich hielt den Blick geradeaus gerichtet, wo sich die Nacht zwischen die Bäume schlich. Vielleicht sollten wir bleiben, Elise. Doch Elise war nicht mehr da.“

Was für ein Debürtoman! Ganz große Leseempfehlung. Da kann man sich sehr auf hoffentlich noch viele Romane von Gianna Lange freuen.