Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
dracoma
Wohnort: 
LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 196 Bewertungen
Bewertung vom 14.04.2025
Der Gott des Waldes (eBook, ePUB)
Moore, Liz

Der Gott des Waldes (eBook, ePUB)


sehr gut

Ein Feriencamp in den Adirondacks, und ein junges Mädchen verschwindet spurlos. Die Suche weckt Erinnerungen an ihren kleinen Bruder, der ebenfalls vor Jahren plötzlich verschwand und es zeigt sich, dass beide Fälle miteinander verzahnt sind.
Damit hat sich die Autorin einen spannenden und sehr ergiebigen Plot einfallen lassen, den sie von Anfang an betont langsam entwickelt. Die Verzahnung der Vergangenheit mit der Gegenwart zeigt die Autorin durch ständig wechselnde Perspektiven, durch Zeitsprünge und chronologische Verwürfelungen, die die Handlung gelegentlich unnötig zerhackstücken und das Erzähltempo zusätzlich drosseln.
Liz Moore nimmt sich viel Zeit für die Ausgestaltung ihrer Szenen und für die Profilierung ihrer Charaktere. Sehr schnell wird deutlich, dass ihr die weiblichen Charaktere eher am Herzen liegen, und hier weitet sich der Krimi zu einem Emanzipations- und Gesellschaftsroman aus. Die gesellschaftlichen Einschränkungen der Frauen und allgemeine Klassenunterschiede in den 60er und 70er Jahren werden deutlich und geschickt mit der Darstellung der Polizeiarbeit verbunden. Die Darstellung der Upper Class, vor allem der Männer, ist aber nicht frei von Klischees; hier zeigt die Autorin deutlich ihre Sympathien für die Ärmeren und damit (ihrer Meinung nach) Rechtlosen und verzichtet auf einen differenzierenden Blick. Schade auch, dass nicht alle Erzählstränge zu einem Ende geführt werden und manche Handlungen recht gewollt konstruiert sind. Und schade auch, dass die Protagonistin Barbara keine kräftigeren Konturen bekommen hat.
Trotz dieser Einschränkungen: Liz Moore bietet einen spannenden und breit gelagerten Roman, leicht zu lesen, unterhaltsam bis zum Schluss!

Bewertung vom 11.04.2025
Mord auf Westwater Manor
Hamilton, Henrietta

Mord auf Westwater Manor


sehr gut

Dieser Krimi ist, wie sein Vorgängerband, nichts für Leser, die rasante Verfolgungsjagden und dramatische Show-downs lieben. Wir befinden uns wieder im Nachkriegsengland. Das Duo Sally und John ist inzwischen verheiratet und wird auf ein Landgut gebeten, um eine Bibliothek zu katalogisieren. Die Autorin entführt ihre Leser damit wieder in eine Umgebung, die man als typisch britisch empfindet: ein prächtiges Landhaus in einer malerischen Landschaft, umgeben von einem weitläufigen Park, der von mehreren Gärtnern in Ordnung gehalten wird. Und natürlich gibt es einen Butler und mehrere Bedienstete, damit sich die Bewohner nicht mit so trivialen Beschäftigungen wie Kochen, Bettenmachen und Staubwischen aufhalten müssen.
In diesem Ambiente einer untergegangenen Zeit geschieht unverhofft ein Mord: der Hausherr wird tot aufgefunden. Das Ermittlerduo arbeitet nun mit der örtlichen Polizei zusammen, und zwar konstruktiv; Hamilton verzichtet auf die beliebte Charakterisierung der Polizei als unfähig und beschränkt. Sally und John ermitteln allein mit Logik, und so muss man als Leser durchaus aufpassen, wenn man ihren teils recht verzwickten Gedankengängen folgen will. Hier zeigt Hamilton ihre Erzählkunst, wenn sie den Austausch der beiden in abwechslungsreichen und zugleich humorvollen Dialogen schildert. Die Ermittlung wird komplizierter durch ungeahnte familiäre Probleme, und unverhoffte Wendungen halten die Spannung aufrecht.
Ein liebenswertes Ermittlerpaar, eine verzwickte Handlung, ein schönes Setting – all das garantiert einen ungetrübten Lesegenuss für einen Leser, der ein Herz für klassische Kriminalgeschichten hat!

Bewertung vom 08.04.2025
Wildwuchs
Bialik, Chaim Nachman

Wildwuchs


ausgezeichnet

Eine schöne Auswahl!
Bialik war mir bisher kein Begriff; und inzwischen weiß ich, dass er die hebräische Sprache aus der religiösen Ecke herausnahm, sie für die Literatur öffnete und damit wieder lebendig machte, was ihn zum israelischen Nationaldichter machte. In diesem Buch geht es um sein Herkunftsland: Wolhynien, ehemals Sowjetunion, heute Teil der Ukraine.
Bialik erzählt von einer untergegangenen Welt: der Welt des osteuropäischen Judentums. Dabei malt er ein durchaus ambivalentes Bild seiner jüdischen Dorfgemeinschaft. Die Juden müssen zwar Gewalt und Willkür ertragen, aber umgekehrt üben auch sie Gewalt aus. Sie werden ausgegrenzt, aber grenzen selber auch aus. Das Verhältnis zur Tradition wird besonders deutlich in der Erzählung „Hinter dem Zaun“. Noah, der Protagonist, ist ein rebellischer junger Mann, der gegen die traditionsverhafteten Eltern aufbegehrt und sich mit dem nicht-jüdischen Nachbarsmädchen anfreundet. Das Schlussbild zeigt ihn jedoch als feige: er verleugnet das gemeinsame Kind, das ihn nun „hinter dem Zaun“ nur durch ein Astloch sehen kann, und fügt sich in die von seinen Eltern arrangierte Ehe. Die Rebellion gegen die Tradition ist beendet, und an ihre Stelle ist das Bewusstsein der Verwurzelung in diese Traditionen getreten, womit er allerdings Schuld auf sich lädt. In „Wildwuchs“, der Titelerzählung, erzählt Bialik ebenfalls von einem jungen Menschen, dessen Lebensauffassung der seines tätigen Vaters diametral widerspricht. Der Vater arbeitet und sorgt für die Familie, während der Sohn gedankenversunken auf der Wiese liegt und in die umgebende Natur das Heilige Land und die Geschichten des Alten Testaments hineinträumt. Immer gelingen Bialik poetische, leicht melancholische Naturbeschreibungen seiner Heimat, die wie zart hingetupfte Bilder wirken.
Ganz anders klingt das abschließende Langgedicht „In der Stadt des Tötens“, eine Totenklage, die die Schrecken eines Pogroms in grellen Bildern deutlich macht. Auch hier zeigt sich Bialiks ambivalente Haltung. Das Gedicht ist nicht nur eine Totenklage, sondern auch eine sehr kritische Anklage an die jüdischen Männer, die der Massenvergewaltigung und -abschlachtung der Frauen wie verängstigte Mäuse aus einem Mauseloch zusehen statt sich zu wehren. Damit hat das Gedicht einen deutlich appellativen Charakter und weist auf die Schaffung eines jüdischen wehrbereiten Staats hin.
Verschiedene Nachworte informieren den Leser über die Biografie Bialiks, die Übersetzungsproblematik und die biografischen Anteile an den Erzählungen.

Eine lohnende Lektüre!

Bewertung vom 06.04.2025
Vaterländer
Tambrea, Sabin

Vaterländer


sehr gut

Mein Hör-Eindruck:
Menschen verlassen ihre Heimat, aus unterschiedlichen Gründen. Migration ist historisch gesehen kein typisches Phänomen unserer Zeit, aber das Wort wird momentan politisch genutzt, um die Gesellschaft zu polarisieren. Daher haben Migrationsgeschichten, wie Sabin Tambrea sie vorliegt, ihren Sinn. Und sollten vor allem von den Geschichtsvergessenen unserer Gesellschaft gelesen werden.
Der Autor erzählt die Geschichte seiner Familie in drei Teilen, über drei Generationen und in mehreren Perspektiven. Er beginnt mit seiner Ankunft in Deutschland und erzählt von seiner Kindheit, vor allem von den Ferien bei den geliebten Großeltern in Rumänien. Hier erfährt der Leser auch von den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Rumänen und Ungarn, die sich auch im Exil zeigen. Seine Kindheit ist behütet, allerdings leicht umschattet von dem Ehrgeiz seiner Eltern. Beide Eltern sind Geiger, und sie können sich ein Leben außerhalb der Musik nicht vorstellen. Im Unterschied zu ihrem Sohn, der sich zunächst fügt, aber dann seine Liebe zur Oper und zum Theater entdeckt.
Der 2. Teil besteht aus den Erinnerungen des Großvaters Horea, der Verhaftung, Folter und Zwangsarbeit zu ertragen hatte und auch nach seiner Entlassung unter dem Stigma des politischen Gefangenen Entbehrungen ertragen musste. Hier wird der ganze Schrecken eines Unrechtsystems deutlich.
Der 3. Teil nimmt die Liebesgeschichte der Eltern ins Visier und endet mit der Flucht des Vaters. Damit schließt sich dieser 3. Teil direkt an den 1. Teil an. Die private Geschichte unterbricht der Autor immer wieder mit allgemeinen Darstellungen zur politischen Geschichte Rumäniens. Hier hätte der direkte Zusammenhang zum privaten Leben der Familie durchaus deutlicher erzählt werden können! Damit wäre auch der Fluchtgrund vielschichtiger geworden.
Tambrea erzählt die Geschichte eines starken Familienzusammenhalts in schweren Zeiten. Dadurch, dass er sein Buch selber eingelesen hat – was er als Schauspieler perfekt macht - wird die Geschichte authentischer. Dennoch: einige Episoden hätten deutlich gestrafft werden können. Das gilt auch für das Erinnerungsbuch seines Großvaters. Diese Aufzeichnungen haben als Zeitdokument unbestritten ihren Wert, vor allem deshalb, weil der Großvater Ross und Reiter beim Namen nennt.
Auch die Sprache hätte einige Korrekturen seitens des Lektorats vertragen können; manche Wendungen sind sehr abgehoben und wirken daher nicht lyrisch, sondern sehr gewollt.
Insgesamt aber eine lohnende Lektüre und ein sehr privater Beitrag zum Thema Migration.

Bewertung vom 01.04.2025
Ginsterburg
Frank, Arno

Ginsterburg


sehr gut

Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit kam in Deutschland nur zögerlich in Gang. Kaum zu glauben, dass erst jetzt eine Dissertation den Umgang des bayerischen Justizministeriums mit seinen belasteten Juristen ins Visier nimmt und ihn als „vergangenheitspolitische Fehlleistung“ und „Versagen“ bezeichnet.
Arno Frank geht einen anderen Weg. Er wirft drei grelle Schlaglichter auf eine fiktive Kleinstadt und einige ihrer ausgewählten Bewohner, und zwar zu geschickt ausgewählten Zeitpunkten. Einmal 1935, das Jahr, in dem die Herrschaft der Nationalsozialisten gesichert war und die Nürnberger Rassegesetze erlassen wurden – dann 1940: Deutschland befindet sich im Krieg, die Luftschlacht um England beginnt – und schließlich 1945: der Zusammenbruch.
Arno Frank beschränkt sich auf die Erzählung des Alltäglichen. Somit wird beklemmend deutlich, wie sich der braune Sumpf schleichend und fast unmerklich ausbreitet, wie er den Alltag erobert und zur Normalität wird. Der Autor verzichtet auf einen moralischen Zeigefinger oder eine Schuldzuweisung, sondern zeigt an seinen Figuren die unterschiedlichen Motive auf. Da sind die Karrieristen und Opportunisten, die in den neuen Verhältnissen Möglichkeiten zum Aufstieg sehen. Dazu kommen die Mitläufer, die nicht gegen den Strom schwimmen wollen oder können und sich anbiedern. Andere wiederum genießen die neu gewonnene Machtposition und damit auch die Chance zur Brutalität, und wieder andere nutzen die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Krieges aus. Fast alle aber nehmen die Opfer der Zeit – - jüdische Mitbürger, Kommunisten, Sinti/Roma – zwar wahr, aber sie sind sich einig darin, dass Ausgrenzungen und Säuberungen das eigene Gemeinwesen nur stärken können. Schleichend und eher leise als laut werden sie alle vom braunen Sumpf umspült, in dem sie schließlich untergehen werden. Und man ahnt es: keiner wird schuld gewesen sein.
Das alles erzählt Arno Frank in einer wunderbar flüssigen und sehr eingängigen Sprache, bildstark und unterstützt von zeitgenössischen Dokumenten. Er baut historische Personen in seinen Roman ein wie z. B. Erich Bachem oder Lothar Sieber; da wäre ein kurzes Nachwort sicher interessant gewesen. Einige Ungenauigkeiten haben mich gestört, u. a. scheinen Autor und Korrektor auf Kriegsfuß mit römischen Zahlen zu stehen. Gemessen am Gesamt sind das jedoch Petitessen, die zwar unschön sind, aber verblassen gegenüber der eigentlichen Aussage: Wehret den Anfängen. Da wir in einer Zeit leben, in der auch in unserem Land demokratische Institutionen ausgehöhlt werden, kommt dem Buch eine beklemmende Aktualität zu.

Bewertung vom 27.03.2025
Drei Tage im Juni
Tyler, Anne

Drei Tage im Juni


ausgezeichnet

Anne Tylers Romane spielen immer im Alltäglichen. Sie nimmt nicht die großen Dinge der Welt ins Visier, sondern es sind die kleinen, alltäglichen Dinge und damit auch die eher alltäglichen Durchschnittsmenschen, die sie betrachtet. So ist es auch in diesem Roman.
Gail, die Protagonistin, ist schon etwas älter und liebt sich selber nicht. Sie ist der Typ der Grauen Maus, die sich keinen Friseur und keine Extravaganzen gönnt und die in ihrem kleinbürgerlichen Elternhaus ein ebenso kleinbürgerliches Leben führt. Ihr Leben wird jedoch in mehrfacher Hinsicht aufgemischt. Sie muss eine berufliche Schlappe erleben und sich neu orientieren. Dazu steht die Hochzeit der einzigen Tochter an, die aber durch einen Seitensprung des Bräutigams in Frage gerät – und ihr geschiedener Mann steht mit einer alten Katze vor der Tür und bittet um Aufnahme.
Diese Situation nimmt Anne Tyler zum Anlass, hinter die Fassaden zu schauen. Vordergründig werden uns die Diskussionen um eine eventuelle Absage der Hochzeit, um den Anzug des Brautvaters, die Proben für die Hochzeitszeremonie und so fort erzählt, aber dahinter kommt immer das Menschliche zum Vorschein. Es ist vor allen Gails Fassade, hinter die die Autorin uns blicken lässt. Das unverhoffte Zusammensein mit ihrem geschiedenen Mann lässt Erinnerungen in ihr hochkommen, und sie reflektiert ihr eigenes Verhalten. Allmählich wächst in ihr die Überzeugung, dass das Zusammensein mit einem vertrauten Menschen – und sei er noch so übergriffig und chaotisch – doch seine Vorzüge hat.
Damit schlägt Anne Tyler eigentlich große Themen an, aber sie beschränkt sich auf den Alltag ihrer Personen. Mir hat die menschenfreundliche Art, mit der sie ihre Figuren betrachtet, sehr gut gefallen. Anne Tyler urteilt nicht und hebt niemals den Zeigefinger. Aber sie betrachtet genau die Gefühle ihrer Figuren, wie sie sich in alltäglichen kleinen Dingen zeigen. Diese alltäglichen Dinge fand ich z. B. bei den Hochzeitsproben zu kleinteilig dargestellt, aber auf der anderen Seite gelingt ihr mit dem Bild der alten Katze eine wunderbar treffende Symbolik.

Bewertung vom 22.03.2025
Stumme Knochen
White, Loreth Anne

Stumme Knochen


sehr gut

Mein Lese-Eindruck:

Ein routiniert erzählter und spannender Krimi!
Wenn man sich in die Personenfülle einmal eingelesen hat, verfolgt man gespannt die Entwicklung der Ereignisse rund um einen fast 50 Jahre alten Mordfall. Die Ermittlungsarbeit wird realistisch beschrieben und mit einigen Sachinformationen angereichert, die in der Regel aber gut in der Handlung verankert sind. Bei der Protagonistin Jane verfolgt die Autorin das bewährte Prinzip einer guten Mischung aus Beruflichem und Privatem, sodass Jane mit ihrem besonderen, nicht leichten Schicksal dem Leser naherückt.
Die Handlung läuft in mehreren Strängen ab, sodass der Leser teilweise mehr Informationen als die Ermittlerin und ihr Team hat, was die Spannung zusätzlich steigert. Gelegentliche unglaublichen Zufälle habe ich gerne in Kauf genommen. Immer wieder andere Personen rücken in den Fokus, und sehr geschickt legt die Autorin eine falsche Spur nach der anderen aus. Besonders verdächtig ist die ehemalige Freundesclique um das Mordopfer, die sich gegenseitig voller Misstrauen umkreisen und von denen letztlich jeder nur seine eigene Haut retten will. Die Gerechtigkeit kommt dann nach einigen überraschenden Wendungen zum siegreichen Zug, und auch diejenigen, die unbewiesenen Dreck am Stecken haben, lässt die Autorin eine Strafe erleiden. Damit verlässt die Autorin zwar den Boden der Realität, aber sie bedient das Gerechtigkeitsbedürfnis ihrer Leser.

Bewertung vom 20.03.2025
Wie ein wilder Gott
Calligarich, Gianfranco

Wie ein wilder Gott


sehr gut

Die Erforschung des dunklen Kontinents durch die Europäer im 19.Jahrhundert – ein spannendes und vielschichtiges Thema! Die Forschungsreisen von Livingstone und Stanley bieten faszinierenden Lesestoff; der italienische Afrikaforscher Vittorio Bottego (1860 – 1897) dürfte dagegen wenig bekannt sein, und mit diesem Roman schließt der Autor eine Lücke.
Calligarich baut die Reisen Bottegos in eine Rahmenhandlung an: der Präsident der Geographischen Gesellschaft in Rom blickt am Ende seines Lebens zurück und sieht auf der gegenüberliegenden Garagenmauer wie auf einer Projektionsleinwand das Leben Bottegos und seine eigene Verwicklung darin vorüberziehen.
Bottego erscheint als abenteuerlustiger, mutiger junger Mann, dem es im Italien seiner Heimat zu eng wird. Er strebt nach Ruhm und Ehre, aber auch danach, ein besonders intensives und einzigartiges Leben zu führen. Die kolonialistischen Bestrebungen Europas kommen ihm hier entgegen. Bottego hat zwar vorrangig keine politischen, sondern wissenschaftliche Ambitionen, aber er kann sich schon allein aus finanziellen Gründen dem Zeitgeist der imperialistischen Expansion nicht entziehen. Daher führen seine Expeditionen in die italienischen Kolonien Eritrea, Äthiopien und Somalia, und er verpflichtet sich zur massenhaften Abschlachtung von Elefanten, um mit dem Elfenbein seine Expeditionskosten zu decken. In Afrika gebärdet er sich „wie ein wilder Gott“, der lokale Herrschaftsstrukturen missachtet und mit großer Grausamkeit seine Karawanen vorantreibt. „Zerstören oder zerstört werden!“ ist sein Motto. Da ist Bottego das Kind seiner Zeit; schließlich bezeichnet der italienische König Umberto seinen „Amtsbruder“, den Kaiser von Äthiopien, als „afrikanischen Affen“. Aus Unkenntnis gerät Bottego in das Fadenkreuz der politischen Entwicklung und der komplizierten imperialistischen Gemengelage, was ihn schließlich das Leben kostet. Dennoch kann er Erfolge verbuchen mit der Entdeckung der mächtigen Ströme Juba und Omo, die ihn mit ihrer Wildheit wie wilde, archaische Götter anmuten. Eine geglückte Doppelbödigkeit des Titels „Wie ein wilder Gott“!
Aber: Die Abenteuer selber reihen sich nur aneinander und ähneln sich. Dörfer werden überfallen und niedergebrannt, dann wieder wird verhandelt und getauscht. Deserteure werden erschossen, Askaris verletzt, die Ruhr und andere Krankheiten dezimieren die Karawane. Ein Abenteuer nach dem anderen wird aufgezählt, statt dass sie gestalterisch durchdrungen werden.
Diese fehlende Durchdringung stört vor allem bei dem zentralen Problem des Kolonialismus. Bottegos Entdeckungen interessieren den italienischen Staat nicht; er ist interessiert an Eroberungen, an einer Ausweitung seines Kolonialbesitzes und an Prestigegewinn im europäischen Konzert. Es gibt aber, so der Autor, durchaus Gegner dieser Politik, aber sie kommen nicht zu Wort. Um was geht es nun dem Autor? Möchte er mit seiner Figur das Scheitern der kolonialen Politik zeigen? Statt einer reinen Aufzählung der Ereignisse hätte ich mir eine gestalterische Durchdringung des Stoffes gewünscht, die die leider eher flache Aufzählung zu einem Roman gestaltet hätte.
Trotzdem habe ich das Buch gerne und mit großem Interesse gelesen, und es ist Calligarich anzurechnen, dass er diese historische Figur des Bottego dem Vergessen entrissen hat.

Bewertung vom 03.02.2025
Die Harzreise
Heine, Heinrich

Die Harzreise


ausgezeichnet

Mein Lese-Eindruck:

Lebet wohl, ihr glatten Säle,
Glatte Herren, glatte Frauen!
Auf die Berge will ich steigen,
Lachend auf euch niederschauen.

So lebensfroh beginnt Heinrich Heines „Harzreise“, eine der berühmtesten deutschen Reisebeschreibungen, die in 200 Jahren nichts von ihrer Frische, ihrer Unmittelbarkeit und ihrem Witz, aber auch von ihrer poetischen Schönheit verloren hat. Heinrich Heine verlässt im September 1824 die Stadt Göttingen, und er lässt kein gutes Haar an ihr. Sein Göttingen-bashing hat allerdings seinen guten Grund. Die Universität Göttingen hatte einst Weltruf, aber ihre progressiven Zeiten waren vorbei. Das akademische wie auch das städtische Leben waren geprägt von geistigem Stillstand und provinzieller Enge, und Heinrich Heine gießt seinen so herrlich spitzzüngigen Spott über sie aus. Die Bewohner Göttingens seien organisiert in vier Ständen, schreibt er: Studenten, Professoren, Philister und Vieh, wobei der Viehbestand der bedeutendste Stand sei.
In der Natur kann er aufatmen. Er fühlt sich frei. Er genießt die Natur, und seine Naturbeschreibungen zeigen, wie sich sein Geist einerseits befreit und andererseits beruhigt „durch das ruhige Herzklopfen des Berges“ oder den Anblick der lebhaften Wildbäche. Genauso genießt er den Umgang mit den einfachen Menschen, die er unterwegs trifft wie z. B. einen Schäfer, der seine Brotzeit freundlich mit ihm teilt oder den singenden Handwerksburschen, der ihn eine Zeitlang begleitet. Schließlich ist er angekommen, er steht auf dem Brocken, und der endlos weite Blick vom Brocken hinaus ins Land überwältigt ihn. Wer schon einmal auf dem Brocken war und Glück mit dem Wetter hatte, kann Heine verstehen.
Die Reisebeschreibung endet mit der Durchwanderung des Ilsetales, aber die Neuausgabe enthält viele Briefe an Freunde, in denen Heine seine Weiterreise schildert. Darunter befindet sich auch ein Brief, mit dem er das kurze und enttäuschende Treffen mit Goethe in Weimar schildert. Diese Briefe und die eingestreuten Illustrationen machen den Band ausgesprochen lesenswert!

Bewertung vom 30.01.2025
Verlorene Sterne
Orange, Tommy

Verlorene Sterne


sehr gut

Manche Romane sind harter Tobak, und dieser Roman gehört dazu. Ausgangspunkt ist das Massaker von Sand Creek in Colorado, als im Spätherbst 1864 die U.S. Armee das Winterlager der Cheyenne und Arapaho überfiel und die Bewohner töteten, 2/3 davon Frauen und Kinder. Ein Junge kann sich retten und schließt sich mit dem indigenen Deserteur Red Feather zusammen. Über sieben Generationen und 150 Jahre hinweg bis in die Jetzt-Zeit verfolgt nun der Autor die Geschichte der Abkömmlinge dieser beiden „Indianer“, wie der Autor sie nennt. Und weil der Autor selber dem Stamm der Cheyenne und Arapaho angehört, ist es erlaubt, das Wort zu übernehmen.

Orange verfolgt die Lebenslinien aber nicht chronologisch exakt, sondern eher in einer Zickzacklinie. So entsteht ein vielstimmiger und sprachlich abwechslungsreicher Chor, der eine unglaubliche Leidensgeschichte erzählt, wobei der Ton immer unterkühlt bleibt., so als ob selbstverständliche Fakten erzählt würden, und niemals ins Pathos wechselt.

Dennoch: der Roman ist eine einzige Anklage gegen die USA und den Umgang mit den Native Americans, der letztlich nur ein Ziel hatte: die systematische Ausrottung der indianischen Bevölkerung und ihrer Kultur. Der Leser liest von den sog. Bisonkriegen, in denen „meilenweit und mannshoch Bisonkadaver aufgeschichtet“ werden, denn „jeder tote Bison bedeutet einen Indianer weniger“. Internierungen, Zwangsarbeit, die Errichtung von Reservaten bzw. der Versuch, die Assimilierung durch die Ansiedlung in Städten voranzutreiben, der Entzug der Kinder und ihre Zwangseinweisung in die sog. Indianerinternate sind einige der Erfahrungen, die auch die folgenden Generationen traumatisieren:

„ Er hegt den Verdacht, dass sich noch etwas Schlimmeres unter seinen schlimmsten Erinnerungen an die Schule verbirgt, unter den Haarschnitten und dem Abbürsten, den Märschen, den Prügeln, dem Hunger und dem Arrest und den zahllosen Bloßstellungen, weil er Indianer blieb, während sie sich fortwährend bemühten, ihn zu bilden, zu christianisieren, zu zivilisieren.“

Darüber hinaus geht um den Landraub, der bis heute noch nicht aufgearbeitet ist und, wie es aussieht, unter Trump auch keine Beachtung finden wird. Es geht in diesem Buch also nicht nur um das Problem der Identität, der Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit, sondern auch darum, wie man in einem Land leben kann, das einem gestohlen wurde von Weißen, „die immer geglaubt haben, sie besäßen die Erde und dürften gebrauchen und ausnutzen, was immer ihnen in die kalten, toten Hände kommt, die dieses Land in die Versenkung geführt haben, in seinen unausweichlichen Niedergang.“

Über Generationen hinweg zeigt der Autor die Probleme, die damit einhergehen: Alkohol, Drogensucht, Arbeitslosigkeit, fehlende Bildung, Gewalt, dysfunktionale Familien und Orientierungslosigkeit und zugleich der Kampf um die Bewahrung indianischer Bräuche. Das Ende des Romans wirkt wie das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels: der junge Orvil beschließt einen Entzug. Ein etwas zu idyllischer Schluss.

Die unterschiedlichen Erzählstimmen werden nicht nur durch ähnliche Themen wie Suchtprobleme zusammengehalten, sondern auch sehr lyrisch durch das Motiv der Vögel, das im Namen Red Feather schon anklingt. Der Wunsch, frei wie ein Vogel sich über die Erde mit ihren Widrigkeiten zu erheben, verbindet alle Generationen.

4,5/5*