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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Batyr
Wohnort: 
Ahrensburg

Bewertungen

Insgesamt 112 Bewertungen
Bewertung vom 14.09.2025
Öffnet sich der Himmel
Hewitt, Seán

Öffnet sich der Himmel


ausgezeichnet

Obsession

Emotionsgeladen und in einer poetischen, verdichteten Sprache präsentiert uns der Autor Sean Hewitt die Wirren und Wonnen eines Jahres im jungen Leben seines Protagonisten James.
Erst seit kurzem ist diesem Sechzehnjährigen klar, homosexuell zu sein, was seiner latenten Einsamkeit in dieser weltvergessenen Dorfgesellschaft nur noch weiter Vorschub leistet. Eindringlich ist die Schilderung völliger Vereinzelung, die nicht nur aus James’ Naturell erwächst, sondern gespiegelt und verstärkt wird durch sein offenkundiges Anderssein.
Die Intensität dieser bedrückenden und düsteren Empfindungen schlägt ins ekstatische Gegenteil um, als er in der Nachbarschaft Luke kennenlernt, in dessen Unangepasstheit er alle seine geheimen Wünsche und Begierden hineinprojiziert.
Selbst zwar offenkundig heterosexuell orientiert, führen seine schwierigen familiären Verhältnisse Luke jedoch in eine von ihm ebenso intensiv erlebte, aber eher nonchalant gestaltete Beziehung zu James.
Im Wechsel der Jahreszeiten durchläuft James‘ Leidenschaft für Luke alle Stadien von der zögerlichen Annäherung bis hin zu der scheinbaren Erfüllung, die umso grausamer mit der unvermittelten, aber vorhersehbaren Trennung endet.
Die Rahmenerzählung zeigt uns einen erwachsenen James, der den Verlust seines Jugendfreundes nie hat verarbeiten können und an ihm gleichsam wie an einer Amputation leidet.
Betörend, wie der Autor die sprachliche Vergegenwärtigung der Landschaft verknüpft mit der feinziselierten Darstellung einer seelischen Entfaltung.

Bewertung vom 09.09.2025
Lilianas unvergänglicher Sommer
Rivera Garza, Cristina

Lilianas unvergänglicher Sommer


sehr gut

Mahnmal für eine tote Schwester

Dreißig Jahre nach dem Tod der zwanzigjährigen Liliana drängt es die ältere Schwester, sich mit diesem brutalen, doch vorhersehbaren Mord auseinanderzusetzen. Klarsichtig und schonungslos ersteht das Porträt der zutiefst frauenfeindlichen Gesellschaft Mexikos, in der Lilianas Tod beileibe kein Einzelfall ist, aber von der renommierten Autorin Cristina Rivera Garza klarsichtig, subtil, sensibel aufgearbeitet wird.

Ganz unterschiedliche Aspekte werden dabei berücksichtigt: der soziologischen Perspektive wird Rechnung getragen, indem die bahnbrechende Studie einer US-amerikanischen Krankenschwester herangezogen wird, die aus ihrer praktischen Arbeit heraus ihre Beobachtungen systematisiert als einen praktischen Leitfaden zum Umgang mit drohenden Femiziden veröffentlichte.

Politisch ist Garzias Darstellung ihres vergeblichen Versuchs, innerhalb der desinteressierten Justiz und Verwaltung der Unterlagen und Akten habhaft zu werden.

Doch menschlich ergreifend sind die Protokolle der Nachforschungen bei den Freunden und Studienkollegen, die ein lebenspralles Bild einer um Unabhängigkeit ringenden jungen Frau in der patriarchalischen Gesellschaft Mexikos zeichnen. Der Partner und Ex-Partner, Freund und Ex-Freund wird als latent drohender Schatten durchaus wahrgenommen, nicht aber die in letzter Konsequenz tödliche Gefahr, die von ihm ausgeht. Wahrhaft erschütternd schließt die Wiedergabe der tiefen Verstörung der untröstlichen Eltern dieses literarische Mahnmal für die getötete Schwester ab.

Eingeschränkt wird das positive Urteil über dieses überzeugende Werk durch die Übersetzerin, die es für notwendig hält, ihre persönliche Agenda durch ihr unsägliches deutsches Gendern umzusetzen.

Bewertung vom 02.08.2025
Wohin du auch gehst
Fonthes, Christina

Wohin du auch gehst


sehr gut

Geschundenes Land, geschundene Menschen

Dieser Roman konfrontiert den Leser mit der Darstellung von Verlusten auf allen Ebenen: Heimat, Selbstbestimmung, Identität.

Noch immer ist Afrika auf unserer Lektürelandkarte weitgehend eine terra incognita. Fassungslos und mit Entsetzen registriert man die Details der jüngeren kongolesischen Geschichte, nimmt tiefen Anteil am Schicksal der Protagonisten, die von diesem Strudel fortgerissen werden. Zunächst gebettet in einen Zustand von Wohlstand und gesellschaftlicher Saturiertheit, wendet sich das Blatt des persönlichen Schicksals für alle Figuren.

Immer neue Schicksalsschläge werfen die Frauen dieses Romans in Not und Verzweiflung. Politische Umstürze führen zum Verlust der Heimat, aber selbst im Exil greift die Repression durch aufrechterhaltene Traditionen. Die Wohlanständigkeit im Katholizismus im Kongo wird ersetzt durch den Psychoterror einer Freikirche in England. Sexuelle Selbstbestimmung, ja die Menschenwürde insgesamt bleiben auf der Strecke.

Durch die Bank werden die Frauen in diesem Milieu zu Opfern. Dass durchweg alle Männer in diesem Roman negativ gezeichnet sind, schmälert bedauerlicherweise die Qualität dieses außergewöhnlichen Romans. Aber das Panorama eines geschundenen Landes und seiner geschundenen Menschen bleibt lange im Gedächtnis.

Bewertung vom 21.07.2025
Der Schlaf der Anderen
Noort, Tamar

Der Schlaf der Anderen


gut

Die Blinde und die Lahme

Die Anlage dieses Romans erscheint zunächst recht vielversprechend: der zunächst präsentierte Schauplatz verspricht eine Art Kammerspiel. Die eine Protagonistin versorgt in einem Schlaflabor eine an massiver Schlaflosigleit leidende Patientin. Alles scheint auf eine auf diametralen Gegensätzen angelehnte Konstruktion angelegt. Die Nachtwache lebt allein, es ist zunächst von keinerlei sozialen Beziehungen die Rede, seit Jahren macht sie aufgrund ihrer Berufstätigkeit die Nacht zum Tage, sie wirkt vorläufig kompetent und zupackend. Das Gegenbild liefert die Patientin: eingebunden in ein enges Netz von familiären und beruflichen Beziehungen droht sie zu ersticken. Spontan entwickelt sich eine über das berufsbedingte Maß hinausgehende Nähe. Die Ereignisse, die diese Annäherung hervorrufen, erscheinen allerdings reichlich hypertroph, unwahrscheinlich und überspannt.

Denn nach dem Ende dieser Nacht, die natürlich kein brauchbares Schlafprotokoll liefert, wendet sich der Blickwinkel, und die Lebenshypothek der Nachtwache wird sichtbar. Nun ist sie es, die unter der plötzlich sichtbar werdenden Last niedergedrückt wird und nur in der Aufgabe ihrer Tätigkeit eine Lösung sieht.

Leider ist es sehr unbefriedigend, dass dieser anfangs so strenge Aufbau des Romans aufgebrochen wird zugunsten einer überbordenden Abfolge von zunehmend skurrilen bis wirren Episoden.

Schlaflosigkeit als Symptom einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder Überforderung und Orientierungslosigkeit aussetzt, wäre ein ausreichender Fokus, um ein erhellendes und befriedigendes Leseerlebnis zu bieten. Die beiden Hauptfiguren, in ihrer jeweiligen Verkürzung als Blinde und Lahme zu interpretieren, verkörpern in ihrer Anlage ein erschütterndes Bild weiblichen Leidens, das jedoch um einer positiven Botschaft Willen, zugunsten einer hoffnungsvollen Perspektive, zu einem geradezu süßlich-kitschigen Romanende verwässert wird.

Bewertung vom 06.07.2025
Furye
Rubik, Kat Eryn

Furye


weniger gut

Reichlich überspannt

Reichlich überspannt das Ganze. Wäre da nicht der rüde Sprachgestus und das Übermaß an explizit dargestelltem Sex in mancherlei Spielarten, man könnte meinen, es mit einem viktorianischen Schauerroman zu tun haben. Einigen wir uns vielleicht auf Bonjour tristesse 2.0.

Was man der Autorin zugute halten mag, ist der ungemein ausgefeilte Plot, der in immer neuen Pirouetten die beiden dicht verwobenen Zeitebenen mit immer neuen Twists ausstattet. So haben wir es also mit dem Dreigestirn der Freundinnen Alec, Meg und Tess zu tun, deren modernistische Namen bereits an die Furien der griechischen Mythologie angelehnt sind. In abgezirkelter Weise sind diese in ihr jeweiliges Setting eingebettet: familiärer Hintergrund, soziologisch definiertes Milieu, unterschiedliche Profile hinsichtlich Aussehen, Verhalten, Temperament.

So entfaltet sich auf beiden Zeitebenen eine übermäßig düstere Leidenschaft zwischen der Erzählerin Alec und Romain, so einer Art Halbgott, ein Adonis, aber leider hochdepressiv und entsprechen destruktiv. Im Gefolge dieser dramatischen Beziehung wird der Leser mit diversen Formen von Kollateralschaden konfrontiert. Die Apotheose der Heldin erfolgt höchst überraschend, und nach 349 Seiten gemischt aus zeitweise praller Action und mittigen Längen, kommt dieser Höllenritt aus pubertärem Ennui und Lebenshunger an ein in philosophischer Gelassenheit getränktes Ende.

Bewertung vom 10.06.2025
Sputnik
Berkel, Christian

Sputnik


gut

Vita navigatio

Die Autofiktion mit dem Moment der Zeugung zu beginnen, ist ja nicht unoriginell, zuletzt begegneten wir diesem Kunstgriff bei Tristam Shandy. Doch zu diesen Höhen der Erzählkunst vermag Christian Berkel sich nicht aufzuschwingen.

Was der Leser präsentiert bekommt, ist die in der Rückschau verklärte Nostalgie der Swinging Sixties, zuzüglich die politische Zuspitzung der Studentenrevolution und das Abdriften in den Terrorismus, die sattsam bekannten Ingredienzen von sex and drugs and Rock n Roll, ergänzt durch die zugegebenermaßen verstörenden biographischen Details der Elterngeneration. Es ist aber mehr als abstoßend, wenn der mittlerweile selbst gealterte Erzähler immer noch mit dem alten Hochmut, der typischen Selbstgerechtigkeit auf diese irregeleitete Generation herabblickt. Entlarvend die Episoden des letzten Drittels, in dem die verblasene Intellektualität der zeitgenössischen Theaterboheme ausgiebig zu Wort kommt.

Wenn es im Gefolge eines zweifelhaften psychologisch motivierten Probenprocedere beim Protagonisten zu einem Rebirthing-Erlebnis kommt, erfolgt damit eine unübersehbare Verknüpfung mit der Eingangspassage. Etwas prätentiös, wenn auch gut gemacht.

Insgesamt eine wenig befriedigende Lektüre, gedanklich eher unergiebig, emotional arm.

Bewertung vom 27.05.2025
Durch das Raue zu den Sternen
Kloeble, Christopher

Durch das Raue zu den Sternen


weniger gut

Prätentiös und verblasen
Wie es aussieht, hat sich der Autor mächtig an seinem Stoff verhoben.

Zunächst nimmt die 13jährige Heldin ja den Leser für sich ein, erscheint sie doch sensibel und vorlaut, selbstbewusst und verängstigt, unsicher und auftrumpfend - kurz, sie bedient alle Facetten eines pubertierenden Teenagers.

Doch sehr bald beginnt die Masche des Autors nervtötend zu werden: allzu viele Pirouetten dreht er, nicht nur die junge Hauptfigur, auch Mutter und Vater und im folgenden das gesamte Personal werden vollkommen überzogen dargestellt, mutieren umso nachdrücklicher zu bloßen Karikaturen, wo der Autor offenbar das Besondere, Erlesene vor Augen hatte. Wild ein paar Titel von klassischen Musikstücken in die Runde zu werfen, macht einen Text noch nicht zum Musikroman. Um die Wirkweise von Musik darzustellen, gelangt er nicht über die sprachliche Prägnanz von Poesiealbumsprüchen hinaus. Eine steile These zu einer Komponistenbiographie ad nauseam zu variieren, beweist nicht unbedingt tiefen musikologischen Tiefblick.

Kurz: nach meinem Urteil ist dieser Roman prätentiös, verblasen, verquast!

Bewertung vom 18.05.2025
Der Kaiser der Freude
Vuong, Ocean

Der Kaiser der Freude


sehr gut

Lauter Loser

Großartig! In einem Wortschwall, einer Sprachkaskade, einer Beschreibungsexplosion lässt der Autor vor uns ein Bild Amerikas erstehen, das nichts mit den Hochglanzbildern vom Big Apple oder Hollywood oder dem staatstragenden Washington gemein hat.

Dann endlich erscheint der Protagonist dieses Romans, unspektakulär als ‚der Junge‘ tituliert, und der Leser weiß: das ist Amerika!

Und wenn sich dann die Handlung entfaltet, dann repräsentiert das gesamte Personal zunächst die Nachtseite der USA: abhängig von Drogen und Medikamenten, beherrscht von fixen Ideen, gefangen in einer eigenen Scheinwelt, geleitet vom Betrug der Umwelt und vom Selbstbetrug - kurz, ein Panoptikum von Losern.

Und doch transportiert dieser Höllentanz die Botschaft tiefster Humanität: beginnend mit der alten Frau aus Litauen, die den jungen aus Vietnam stammenden Hai vom Selbstmord abhält, zeigen alle Figuren aus der tiefsten sozialen Schicht der Einwanderer, der unqualifizierten Arbeitskräfte ein Höchstmaß an Zusammenhalt, wahrer Solidarität, menschlicher Einsicht in die Nöte des anderen, dass selbst in diesem Pandämonium dem Leser der Eindruck von Hoffnung geschenkt wird.

Einzige Einschränkung dieses positiven Urteils: die Botschaft dieses Romans wäre noch eindrücklicher, hätte der Autor die Handlung straffer komponiert und damit gewisse Längen vermieden. Gewichtiger aber die Kritik am Übersetzerteam, das gelegentlich durch sprachliche Nachlässigkeiten die großartige Wirkung dieses Romans schmälert.

Bewertung vom 28.04.2025
Ein Raum zum Schreiben
Valla, Kristin

Ein Raum zum Schreiben


weniger gut

Motivation oder Legitimierung?

Kristin Valla strapaziert die Geduld ihre Leser über alle Maßen. Anfangs ist man ja noch durchaus bereit, ihren Überlegungen zu folgen: unversehens ist aus der Schriftstellerin eine Ehefrau und Mutter geworden, die ihre eigenen Bedürfnisse stets hintan stellt. Damit dürfte sie kein Einzelfall darstellen. Bemerkenswert allerdings, dass sie ganz ehrlich zugibt, dass es ihr vornehmlich um das Selbstverständnis als Autorin geht, weniger um die Tätigkeit des Schreibens an sich. Damit ist der vorherrschende Tonfall dieses Buches gesetzt: mürrisch, nörgelnd, um sich selbst kreiselnd.

Das probate Heilmittel für diesen unerquicklichen Zustand als Nicht-Mehr-Schriftstellerin ist schnell gefunden: ‚A Room of One‘s own‘, wie von Virginia Woolf vorgegeben, muss her. Die zahlreichen Beispiele unterschiedlich bekannter Autorinnen bieten anregenden Lesestoff - offenbar folgten viele Frauen dieser Maxime, dass eine schöpferische Tätigkeit definitiv eine konsequente räumliche Trennung von der Außenwelt erfordert.

Doch den Hauptteil dieses Buches bildet Vallas eigenes Projekt, ihre Suche nach einem geeigneten Objekt und seine Umgestaltung gemäß der individuellen Anforderungen und Vorstellungen. Und hier präsentiert sich eine Persönlichkeit, deren herausragende Eigenschaften ein stupender Egoismus, Ziellosigkeit, Hilflosigkeit sind. Endlos werden dem Leser die von Frustration dominierten Ergüsse zugemutet, wie am anderen Ende Europas eine Immobilie entdeckt, erworben und mit vollkommen ungeeigneten Maßnahmen renoviert wird.

Am Ende dieses ermüdenden Textes steht die wenig überraschende Erkenntnis, dass Kreativität und Produktivität weitgehend unabhängig sich vollziehen davon, ob der vorgeblich ideale Raum als unabdingbare Voraussetzung zur Verfügung steht.

Bewertung vom 28.04.2025
Beeren pflücken
Peters, Amanda

Beeren pflücken


ausgezeichnet

Zwei Leben gespiegelt

Diese Romanlektüre bietet alles, was Literatur für den Leser zu einem zentralen Interesse werden lässt: Schauplätze und Lebensformen, die weitgehend unbekannt sind; überzeugende Charaktere; Schicksale, die fesseln und ergreifen.

Neu dürfte für die meisten Leser die Lebensweise der kanadischen Indianer sein, die Jahr für Jahr südwärts über die Grenze ziehen, um einer untergeordneten Arbeit nachzugehen. Die Geschichte verknüpft die Lebenspfade aller Mitglieder einer indigenen Familie, die durch eine ganze Reihe von traumatischen Begebenheiten in ihrer Entwicklung geprägt werden.

Zwei Geschwister werden auf ihrem Lebensweg pointiert gegenübergestellt: Joe, der sich persönlich für die Katastrophen verantwortlich fühlt und als Konsequenz eine fundamentale Wut entwickelt, die ihn über lange Zeit aus seinem Familienzusammenhalt herauslöst; Norma, die tief in ihrem Innern ahnt, dass ihre Existenz nicht wirklich ist, was sie zu sein scheint, und mit bedenklicher äußerer Passivität reagiert.

Mit großer Sensibilität versteht es die Autorin, die Tragödie plastisch erstehen zu lassen, ohne jemals ins Kitschige oder allzu Gefühlvolle abzugleiten, so der zwangsläufigen Entwicklung der Ereignisse die Wucht einer antiken Tragödie verleihend.

Allein die gelegentlich ungelenke Sprache der Übersetzung zieht manchmal eine gewisse Kritik auf sich, die den vergeblichen Wunsch weckt, der Verlag hätte dem Text eine kritische Endredaktion angedeihen lassen.