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Ikatzhorse2005

Bewertungen

Insgesamt 12 Bewertungen
12
Bewertung vom 30.06.2025
Im Leben nebenan
Sauer, Anne

Im Leben nebenan


ausgezeichnet

Im Leben nebenan ein Roman von Anne Sauer (dtv)
Was wäre wenn? Was wäre wenn, wenn es ein Leben parallel zum jetzigen eigenen gäbe? Toni: ihr Freund Jakob, eine kleine Wohnung, Workaholic, ohne Kind und Antonia: Ehemann Adam, ein Haus mit großer Küche, angrenzender Schwiegermutter und einem Kind. Zwei Entwürfe, die beide Male ihren Tribut zollen, körperlich, mental und gesellschaftlich. Welche Zweifel, Schwierigkeiten und Sehnsüchte entwickeln sich, wenn man im gewählten Lebensentwurf feststeckt. Kann man diesen revidieren, möchte man das und wenn ja, mit welchen Vorurteilen und Rollendenken hat man zu kämpfen? Kann man in eine selbstgewählte Rolle hineinwachsen? Welche Erwartungen müssen dabei erfüllt, welche Klischees bedient werden und wo bleiben, in diesem Fall, Antonia und Toni selbst?
Der Roman stellt sich auf die weibliche Seite, wertfrei, rein betrachtend und berauschend direkt erzählt.
Antonia schließt die Augen, atmet tief ein und wieder aus. Tief ein. Und aus. Wird ruhiger. Ist schon wieder und immer noch ganz am Anfang, als sie sich zu dem Baby nach unten beugt und flüstert: „Was machen wir den jetzt mit dieser Scheiße hier?“ Und von allen Dingen, die sie an diesem Tag für unwahr gehalten hat, gehört das kleine Babylächeln, das sich jetzt vor ihr ausbreitet, nicht dazu. Antonia lächelt hilflos zurück, kann gar nicht anders, außer über die rosa Zungenspitze zu schmunzeln, die ihr Hanna frech entgegenstreckt. S.69
Als sie hört, dass der Zug einfährt, löst sie sich von der Liste auf dem Bildschirm. Hat noch den Satz im Ohr, der vorhin fiel, leichtfertig in die Runde geworfen, gerichtet an niemand Bestimmtes: „Du wirst es sonst bereuen.“ Kinder zu bekommen, fragte sich Toni, oder keine bekommen zu wollen? S.167
Anne Sauer hat mich mit den Gedanken und Gefühlen der Protagonistin tief bewegt und zum Nachdenken gebracht. In ihrer sensiblen und gleichzeitig drastischen Sprache hat sie mich emotional gefesselt und direkt erreichen können.
Fazit. Ein Roman, der bewegt und nachhaltig in Erinnerung bleibt! Eine klare Leseempfehlung für diese herausragende Idee und gelungene Umsetzung.

Bewertung vom 09.06.2025
Nacht über Soho
Atkinson, Kate

Nacht über Soho


ausgezeichnet

Nacht über Soho von Kate Atkinson (DuMont Verlag)
Um in den Amethyst zu gelangen, musste man als Erstes zwischen den beiden Granitobelisken von Türstehern vorbei, zwei ehemaligen gnadenlosen Straßenkämpfern, die stolz darauf waren, Nellies Wachhunde zu sein.
„Jungs“, sagte sie und nickte ihnen zu.
Sie verzogen kaum eine teilnahmslose Miene, um sie zu begrüßen, auch wenn sich in ihnen ein Gemeinschaftsgefühl regte. Beide waren mehrmals im Gefängnis gewesen. Nellie war jetzt eine von ihnen. S.184
Vorhang auf für Nellie Coker und ihren Clan. Auf der Showbühne von Kate Atkinsons Roman über das Londoner Nachtleben der 20iger Jahre tummeln sich eine Vielzahl von interessanten Charakteren. Hier besticht Kate Atkinson mit ihrem Talent der ausgezeichneten Figurenbeschreibung. Trotz der zahlreichen Protagonisten verliert man nie den Überblick, da die Autorin durch einen kalkulierten, strukturierten und bestechend bildhaften Schreibstil brilliert.
Die knallharte Geschäftsfrau Nellie, die ihre Inspiration der realen Nachtclub-Königin Kate Meyerick zu verdanken hat, ist die Drahtzieherin ihres erschaffenen Imperiums. Das Setting des Sohoer Nachtlebens und der illustren Clubgesellschaft beschreibt die Autorin in schillernden Farben. Neben den Reichen, Mächtigen, Korrupten und kriminellen Banden tummeln sich die leichten Mädchen und Nellies sechs Kinder, die zum Missfallen ihrer Mutter ihre eigenen Wünsche und Ziele verfolgen. In diesem Pfuhl ermittelt der engagierte Detective Chief Inspector John Frobisher. Sein Ziel; schwarze Schafe ausfindig zu machen und tief im Sumpf des Coker-Clans zu rühren. Er will das Kartenhaus der Cokers zum Einsturtz bringen. Mehr noch interessieren ihn die verschwundenen Mädchen, die sich im Sohoher Nachtleben in Luft aufzulösen scheinen. Aus diesem Grund schleust er Gwendolen Kelling, eine Bibliothekarin in einen von Nellies Nachtclub ein. Ihre Intention ist die Suche nach der verschwundenen Schwester ihrer Freundin. Hieraus entwickelt sich ein Kriminalfall, da einige der vemissten Mädchen bald leblos aus dem Wasser gefischt werden.
Fazit: Die britische Schriftstellerin schreibt ein Gemisch aus Gesellschaftsroman, Familiengeschichte und historischem Krimi. Sie beschert uns hervorragenede Lesestunden mit dem vorliegenden fesselndem Theater. Mit einem unaufgeregten Charme erzählt sie diese Geschichte spannend und mit einer feinen Ironie, für mich eine Mischung, die begeistert!

Bewertung vom 02.06.2025
Sputnik
Berkel, Christian

Sputnik


ausgezeichnet

Sputnik von Christian Berkel (Ullstein Verlag)
Ein Foto von meinem Gehirn. Das wäre schon etwas anderes als der Milchzahn, mit dem sich Martin letzte Woche produziert hatte. Das war ein Mutterwort. „Produzier dich nicht so“, sagte sie immer, wenn ich Dinge etwas zu ausführlich schilderte. Sie erklärte mir, dass so etwas nur Angeber täten – besser wäre es, man übe sich in Bescheidenheit. Angeber fielen zwar auf, aber niemand erinnerte sich gerne an sie. „Und wir wollen doch nicht, dass man dich vergisst.“ Nein, das wollte ich nicht. Vergessen werden war das Schlimmste, was einem passieren konnte, schlimmer als der Tod, aber daran wollte ich jetzt nicht denken. Ich hatte noch alle Milchzähne und war von Martins Geschichte ziemlich beeindruckt gewesen. S.36
Dieses Mal steht Christian Berkel selbst auf der Bühne des Lebens. Er erzählt seine Geschichte. Und diese ist leichte und gleichzeitig schwere Kost, poetisch und alltäglich einfach, ergreifend und lustig delikat. Sein Schreibstil ist wunderbar. Ich mag seine klaren Sätze und die zahlreichen anschaulichen Anekdoten. An manchen Stellen erfasst mich eine Gänsehaut, die sich langsam über den Körper zieht, bis das letzte Wort im Bewusstsein angekommen ist. Genau so streift er privaten Themen oberflächlich und für den Leser gerade noch erträglich. Alte Bekannte aus „Der Apfelbaum“ und „Ada“ bereichern die Episoden und komplettieren diese angenehme Zeitreise.
Das Cover mit dem jungen Berkel reiht sich passend und prägend neben den zwei vorangegangenen Romanen ein.
Fazit: Mir hat dieses Werk unheimlich gut gefallen. Christian Berkel bleibt sich treu und vervollständigt mit „Sputnik“ seine Familen-Trioligie in gewöhnt angenehmen Stil. Einfach wunderbar und empfehlenswert!

Bewertung vom 21.04.2025
Wo wir uns treffen
Hope, Anna

Wo wir uns treffen


sehr gut

Wo wir uns treffen von Anna Hope (Hanser)
„Okay“, sagte sie. „Gut. Gedankenexperiment beendet. Danke, aber nein danke. Niemals. Das wäre eine Pflichtverletzung.“
„Wem gegenüber?“
„Meinen Vorfahren gegenüber. Allen Brookes, die vor mir kamen, gegenüber. Meinem Vater gegenüber. Er hat noch nicht mal ein Grab, in dem er sich umdrehen könnte.“
„Natürlich.“ Simon lehnte sich nach vorn. „Aber angesichts der Kombination aus finanzieller Vernachlässigung vonseiten deines Vaters und – ich bin jetzt ehrlich – seitens sturer Weigerung, die Möglichkeit seines eigenen Ablebens in Betracht zu ziehen, bis es zu spät war, wirst du einige harte Entscheidungen treffen müssen, Fran, wenn du willst, dass das hier in privatem Besitz bleibt. Hätte er das Haus vor sieben Jahren auf dich überschrieben und wäre er damals in das Cottage gezogen, müssten wir uns jetzt um keinen Penny Gedanken machen.“ S.72/73
Familienoberhaupt Philip Brooke stirbt und hinterlässt ein riesiges Anwesen mit uraltem Baumbestand, Ländereien, Wild-und Tierbestand. Zur Beerdigung treffen sich die drei Geschwister Frannie, Milo und Isa. Frannie, die Haupterbin lebt von jeher auf dem malerischen Landgut im südlichen Sussex und hat vor Jahren die Führung und Verantwortung für das Familienanwesen übernommen. Sie möchte mit ihrer Tochter Rowan hier bleiben, die Landschaft renaturieren und ein gutes Leben führen. Sie stellt sich der historischen Verantwortung und möchte ihrer Familientradition gerecht werden. Im Gegensatz dazu stehen die beiden anderen Geschwister. Ihr Bruder Milo möchte die Ländereien für den Bau eines Therapiezentrums, eine Art Klinik, nutzen. Die Jüngste Schwester Isa ist mit sich selbst beschäftigt und eckt ständig an. So ist es ihr zu verdanken, dass Clara auf der Bildfläche erscheint. Clara ist die Tochter von Philip und seiner langjährigen Geliebten. Keiner kennt sie und ahnt Derartiges! Hier könnte die Autorin mit Konflikten, spannenden Dialogen und infolge des Prologs, mit ungeheurer Sprengkraft agieren. Doch Clara teilt ihr Wissen erst ziemlich spät im Roman, so dass das eigentliche Geheimnis erst recht spät für Spannung sogt. Des Weiteren schöpfen der teils zähe Verlauf und die fehlende Dynamik nicht das ganze Potenzial der Geschichte aus. Die Langsamkeit, mit der die Autorin diese Familiengeschichte erzählt, verlangte mir einerseits an Geduld ab und bringt andereseits Tiefe in das Gesagte. Somit bleibt der Roman hinter meinen Erwartungen zurück. Einzig der Schreibstil und die verschiedenen Charaktere sind vielversprechend und gut gelungen.
Fazit: Schauplatz England mit schönen Beschreibungen, vielen Themen, etwas ausufernd, doch lesenswert!

Bewertung vom 07.04.2025
Es kann so schön sein, das Leben
Oetker, Alexander

Es kann so schön sein, das Leben


sehr gut

Es kann so schön sein das Leben von Alexander Oetker (Hoffmann und Campe Verlag)
„Ja“, sagt er und nickt, „dieser Süden hat mir eine ganz andere Dankbarkeit gegeben, für die großen Dinge, Gesundheit und Liebe, aber auch für die kleinen, den Sonnenaufgang und all das. Ich bin ehrfürchtiger geworden, vor der Schönheit – und vor dem Leben an sich.“ S.162
Dieses Gefühl, welches der Autor in seinem Buch beschreibt, ergibt sich, meines Erachtens, aus einem erfüllten Leben, aus reichlichen Erfahrungen, Lebensumständen, aus Verlusten, Wertschätzung, verschiedensten Reisen und Bekanntschaften sowie aus der Summe des eigenen Charakters und der jeweiligen Lebenseinstellung. Natürlich ist man geprägt durch äußere Einflüsse und eine gewisse Gruppendynamik. Oft zieht sich das regionale Korsett fester zu, wenn man wenig außerheimatliche Erfahrungen und Begegnungen macht.
Anderen Kulturen kennenzulernt, hilft mir zum Beispiel, besser zu differenzieren, zu vergleichen, einzuordnen, zu reflektieren und zu lernen. Und ja, auch dankbarer und ehrfürchtiger zu sein. Sicher liest man hier Klischees, doch haben mir die Anekdoten aus den südlichen Gefilden sehr gut gefallen und ich habe das ein oder andere wiedererkannt. Aus den gut gemeinten Ratschlägen kann man sich etwas passendes herauspicken und sollte nicht alles so bierernst nehmen!
Fazit: Ein nettes Buch mit sonnengewärmten Geschichten, die die Unterschiede zwischen Nord und Süd aufzeigen. Tolle Rezepte und Lebensweisheiten, Ratschläge, ein „süßes Schlusswort“ sowie Dolce Vita von A bis Z runden das Geschrieben ab.
Ja, und es kann so schön sein das Leben auch hierzulande, wenn die innere Einstellung passt! Im Hier und jetzt sein, genießen und die täglichen Aufgaben mit Freude angehen. Und sind wir ehrlich, würden wir alle im Süden wohnen, könnten wir das Meer gar nicht mehr vermissen. Die Vorfreude auf einen Urlaub im Süden ist genauso schön, wie das Leben hier!

Bewertung vom 16.03.2025
Die Summe unserer Teile
Lopez, Paola

Die Summe unserer Teile


gut

Die Summe unserer Teile von Paola Lopez

„...das sind diverse Versatzstücke“, sagt Robert, und Daria nickt.
Obwohl sie seit fast dreißig Jahren echte Papierdeutsche ist, ist ihr das Deutsche immer noch nicht vollständig geheuer. Diese Sprache mit ihrer Genauigkeit, ihrer Tendenz, alles zu zerhacken. Man kann in jedes Wort mit einer Lupe bewaffnet eintreten und findet weitere Wörter, die es näher beschreiben. Auf Deutsch kann sich nichts verstecken.
Englisch ist viel nachsichtiger, weniger grob. Englisch hält einem keine Taschenlampe ins Gesicht – es ist indirektes Licht in der Zimmerecke, eine sanfte Stehlampe. Zwischen englischen Wörtern bleibt viel Platz für das Ungesagte. Englisch, Darias Sprache, die einzige Sprache, die ihre Eltern gemeinsam hatten. S.186

Daria wusste, dass ihre Mutter auf dem Gymnasium in Polen Deutsch gelernt hatte. Deutsch, die Sprache der Zerstörung, Deutsch, die Sprache der Möglichkeiten. Sie fragte sich, wessen Idee es damals eigentlich war, dass sie die Deutsche Grundschule besuchte-die ihrer Mutter oder die ihres Vaters?
Sollte sie von Anfang an zum Studieren nach Deutschland geschickt werden?
„Dinge zu präzisieren, bedeutet auch, sich ihnen zuzuwenden“, sagte Robert. S.187

Der spezielle Schreibstil mit ausufernden, oft emotionalen Beschreibungen hat mich einerseits in seinen Bann gezogen, im klaren Gegensatz dazu stehen die nüchternen, ichbezogenen Charaktere der drei Frauen nachfolgender Generationen. Tochter, Mutter und Großmutter finden keinen Zugang zueinander, obwohl ausreichend Liebe vorhanden scheint. Jede für sich ist so sehr auf ihr eigenes Leben und die Probleme darin bezogen, dass wenig Platz für Kompromisse und die Empfindungen anderer bleibt. Selbst die Beziehungen zu ihren Ehepartnern ist durchdrungen von zu wenig Wertschätzung und Interesse am Gegenüber. Gerade Daria läuft dabei zur Bestform auf. Das stört mich gewaltig.

Konflikten gehen die Protagonisten mit Kontaktabbruch und Stillschweigen aus dem Weg. Als die Hintegründe des einen Konfliktes ans Tageslicht kommen ist es zu spät um sich noch entsprechend versöhnen zu können. Wie unbefriedigend und deprimierend! Mutter Daria und Tochter Lucy hingegen sprechen sich ansatzweise aus, finden jedoch keine Lösung für ihre Differenzen. Das Rätsel um den gelieferte Steinway in Lucys Wohnung mit dem Geburtsnamen ihrer polnischen Großmutter wird ebenfalls nicht endgültig gelöst und kommt nie wieder zur Sprache. Eine unterschwellige Depression und Pessimismus durchziehen diese Lektüre. Schade!

Fazit: Die Geschichte rund um Großmutter Lyudmila finde ich spannend. Daria scheint blass und Lucy hätte ich nicht vermisst in der Geschichte. Gut zu lesen und doch bleibt ein fahler Nachgeschmack und eine unteschwellige Unzufriedenheit zurück! Meine Erwartungen konnte die Autorin leider nicht erfüllen.

Bewertung vom 16.03.2025
Emma
Reno, Jean

Emma


ausgezeichnet

Emma von Jean Reno (lübbe Verlag)
Mit weit geöffneten Armen geht sie zu Fuß aufs Meer zu. Der Wind bläst so stark, dass er ihr fast den Atem nimmt und auf ihrer Zunge den salzigen Geschmack von Tränen hinterlässt. Ihre Mutter hat ihr erzählt, dass sie schon mit drei Jahren so aufs Meer zugelaufen war: die Ärmchen ausgebreitet wie Flügel, überzeugt davon, wegfliegen zu können.
„Ich hatte Angst, dass ein Windstoß dich mitnimmt, mein Liebes...“
Ihre Mutter ist hier überall. Emma versucht, ihr Bild wachzurufen – ihre anmutige Gestalt, wie sie sich hier in die Fluten stürzt. Jeanne war übermütig und verrückt und außerdem so schön, dass sie alle Herzen im Sturm eroberte. Sie liebte es, im Winter schwimmen zu gehen: „um meine Zellen zum Tanzen zu bringen“, pflegte sie lachend zu sagen. S.17
Er schreibt so schön! Seine Worte berühren mich und streicheln meine Seele!
Ich habe mich in diesen Roman verliebt, vielleicht, weil Emma in diesem Moment so verletzlich ist und die Parallelen unübersehbar sind.
Ja, und ich liebe Frankreich und die Bretagne, den Ort, wo dieser Roman beginnt. Die detailierten Beschreibungen der Natur, die Landschaft, die Kultur und die Gepflogenheiten in dem französischen Landstrich und später im Oman sind bildhaft und sehr interessant dargestellt. Die Probleme, die Jean Reno anspricht, verpackt er hervorragend in die erzählte Geschichte. Besonders die Gegebenheiten im Oman haben mich teils fasziniert und auch betroffen gemacht. Die Frau und ihre Rolle in der Gesellschaft, ein bestimmter Status und die Unterschiede zu unserer Lebensweise wurden sehr gut beleuchtet und in die Erzählung eingebaut.
Jean Reno hat mit Emma Morvan eine spezielle Figur geschaffen. Ihr Handeln ist von Schicksalsschlägen gezeichnet. Ein gewisser Eigensinn ist ihren Erfahrungen geschuldet. Sie ist intensiv und genau so erzählt der Autor auch von ihr.
Emma durchläuft von Anfang bis Ende eine rasante Entwicklung, wächst über sich hinaus und stellt somit die Weichen für eine neue Zukunft. Ihre Beweggründe und Aktionen sind nachvollziehbar und passen sehr gut in den Roman.
Der gediegene Start harmoniert mit dem actionreichen zweiten Teil. Hier merkt man, dass der Autor über hinreichende Filmerfahrung verfügt. Er zaubert mit seinen Worten Bilder in den Kopf. Man hört das wilde Meer an der bretonischen Küste rauschen, läuft mit Emma über den Souk, sitzt im Cafe oder schlendert durch das elegante Hotel. Ihrem Auftrag, Mitarbeiter des luxuriösen Resorts im Oman hinsichtlich ihrer Massagetechniken und ihres Könnens zu schulen, kommt sie pflichtbewußt nach. Tariq, den Chef der Wellnessoase, hat Emma durch ihre wundersamen Hände und mit ihrer tollen Ausstrahlung beeindruckt. Ihre Berufung und ihre Massagekünste sind legendär. Hierbei hat mich eine gewisse Spiritualität nicht gestört. Letztendlich wird ihre Begabung nicht aufgeklärt, doch fand ich diesen Aspekt sehr spannend. Energiebahnen durchziehen und umgeben uns. Warum sollten sensible Menschen nicht entsprechend darauf reagieren?
Seit der ersten Begegnung von Emma und Tariq fühlen sich beide unheimlich stark zueinander hingezogen. Doch Tariqs Status im Oman sieht ein Zusammensein mit der Französin nicht vor. Somit entwickelt sich eine heikle Konstellation, die Emma immer mehr in die Enge treibt. Verschiedene Interessen, Machtspiele und unerfüllbar scheinende Erwartungen gedeihen zu einer brisanten Spionageaffäre.
Fazit: Ein grandioses Debüt! Mir hat die Mischung aus tiefgründigen Gedanken, rasantem Actiontrthriller und einer intensiven Liebesgeschichte unheimlich gut gefallen. Ich hoffe aus tiefsten Herzen, dass ich weitere Abenteuer der starken Protagonistin in einem Nachfolgeroman lesen darf. Ich schätze Jean Reno als Schauspieler und somit seine Arbeit sehr. Mit Emma hat er bewiesen, dass er auch Romane schreiben kann. Sein Schreibstil ist besonders, intensiv, einzigartig und sehr gut lesbar, eine klare Leseempfehlung von mir!

Bewertung vom 09.03.2025
Die Brücke von London
Arth, Julius

Die Brücke von London


ausgezeichnet

Die Brücke von London von Julius Arth (dtv)
„Hervorragende Voraussetzungen, wie gesagt“, bemerkte Mr Crull erneut.
„Voraussetzungen wofür?“, ruft Juliana heiser aus. Sie bekommt das Durcheinander in ihrem Kopf nicht geordnet. „Wovon um Himmels willen sprechen Sie?“
Der Kapitän richtet sich im Sessel auf, drückt die Schultern durch und legt die Hände im Schoß zusammen. „Verzeihen Sie, Mrs Hamley. Ich dachte, das sei bereits deutlich geworden. Mit Ihrer Hilfe möchte ich der ehemaligen Brückenkirche zu neuem Glanz verhelfen.“ Er zwinkerte verschwörerisch, breitet die Arme aus. „Gemeinsam, Ma`am, werden wir das unverzollte Warengeschäft auf die London Bridge bringen.“ S.166
1749 laufen die Geschäfte der verwitweten Tuchhändlerin Juliana schlecht. Sie versucht sich mehr schlecht als recht über Wasser zu halten. Seit hunderten von Jahren bieten die Händler auf der London Bridge ihre Waren an. Auch Julianas Geschäft befindet sich in der ehemaligen Brückenkapelle auf der London Bridge, direkt darunter fließt die Themse. Juliana muss sich etwas einfallen lassen, um mit der Konkurrenz in Westminster mithalten zu können. Die Umstände zwingen sie nicht ganz legelen Wegen zu folgen.
Der zweite Erzählstrang setzt im Jahr 1202 ein. Ein Geistlicher wird beauftragt die Holzbrücke durch eine stabile Steinbrücke zu ersetzen. Beim Bau läuft nicht alles glatt und Schuldige müssen für dieses Hexenwerk gefunden werden! Die beiden Schwestern Estrid und Sybilla geraten ins Visier der Mächtigen.
Die lebhaften Charaktere bereichern diesen unterhaltsamen Roman. Anschaulich und mitfühlend werden die Zwickmühlen und Nöte der Protagonisten geschildert. Ergänzt wird die Geschichte mit einer sich anbahnenden Liebesgeschichte.
Julius Arth fängt mit seinem bildhaften und flüssigen Schreibstil den Zeitgeist hervorragend ein. Leicht verständlich taucht man in diese fesselnde Geschichte ein. Historische Begebenheiten und Handlungsorte werden leicht verständlich in den Text eingebaut. Der damalige Alltag ist greifbar und gut vorstellbar. Auch die Spannung ist durchweg spürbar und hält sich bis zum Ende, wenn beide Erzählstränge zusammen laufen.
Fazit: Dieser Roman hat alles, was man von guter Unterhaltung erwartet, er ist bereichernd, lehrreich und liest sich fabelhaft! Gern wieder Herr Arth, ich bin bei weiteren historischen Abenteuern dabei!

Bewertung vom 26.01.2025
Für Polina
Würger, Takis

Für Polina


ausgezeichnet

Für Polina ein Roman von Takis Würger (Diogenes Verlag)
„Es ist kompliziert.“
Der Vater legte ihm eine Hand auf die Schulter, und Hannes dachte, ganau so nah und unangenehm hatte er sich Gespräche zwischen Vater und Sohn vorgestellt.
„Ich dachte, kompliziert wird es erst später“, sagte der Vater.
Er kannte Polina nicht, sonst hätte er genau gewusst, was Hannes meinte. S.72
Takis Würger verleiht seinem Text eine unterschwellige Schwermut, die jedoch nie erdrückend wirkt. Er schreibt so taktvoll und ehrlich, beklemmend und schön.
Die Zeilen leben von Hannes, dem speziellen, ruhigen Jungen und seinen Fragen sowie Hadern an und mit sich selbst. Im Gegensatz dazu steht die wache und intelligente Polina. Polina, der Name aus dem liebsten Dostojewski ihrer Mutter. Gerade gut genug für ihr Glück mit diesem aufgeweckten Kind. Zwischen Klavierkonzerten vom Plattenspieler und beim Vorlesen von Dostojewskis „Der Spieler“ stellt Polina Fragen und Hannes lauscht scheinbar verträumt den Klängen der Melodien und Stimmen.
Heinrich Hildebrand und Co., alle Nebendarsteller ergänzen diese wunderbaren Bilder, die uns Takis Würger ins Gedächtnis und ins Herz flüstert. Kein Verblassen, sondern eine harmonische Komposition, überraschend einfühlsam und lebendig erzählt! Diese Liebesgeschichte ergießt sich über den Leser mit all seinem Zauber und der gleichzeitigen Schwere der Realität. Es ist so viel mehr als nur eine Liebe zwischen Mann und Frau, eine Liebe zur Musik, eine Liebe an das Leben und an die Freundschaft, ein Auf und Ab der Gefühle, ein Roman fürs Herz!
Auch das Cover ist perfekt gewählt. Mit dem Portrait of a Girl von Jan Sluijters würdigt der Diogenes Verlag diese einzigartige Geschichte.
So stelle ich mir ein gut geschriebenes Buch vor und „Für Polina“ zählt schon jetzt zu einem Jahreshighlight für mich.

Bewertung vom 17.11.2024
Das Parfüm des Todes
Hsiao, Katniss

Das Parfüm des Todes


ausgezeichnet

Das Parfüm des Todes ein Thriller von Katniss Hsiao aus dem Suhrkamp Verlag
Die Bilder, die uns das Sehvermögen vermittelt, bleiben an der Oberfläche, sind nur Erinnerungen, aber der Geruch dringt ein, in jede Pore. Yang Ning wusste um die Macht der Gerüche. Niemand entkam dieser Macht. S.49
Auf den ersten Blick ist die Hauptprotagonistin Yang Ning eher unsympatisch. Doch je weiter man in ihre Gedanken-und Gefühlswelt eintaucht, findet man, neben der ganzen Rauheit eine intelligente, entschlossene empfindsame und verwundete Frau. Mit einer superfeinen Nase ausgestattet ist ihr gerade dieser Sinneseindruck, Segen und Fluch zugleich, abhandengekommen. Der Beruf als Tatortreinigerin kommt ihr daher sehr gelegen, kann sie doch zeitweise durch den Geruch des Todes ihre Nase aktivieren. Die Beschreibungen dazu sind intensiv und bizarr zugleich. Eines Abends tappt sie in die Falle und folgt dem Duft eines Mörders um ihre Unschuld zu beweisen.
Auf der Suche nach dem Mörder werden verschiedene Fährten gelegt und Umwege müssen genommen werden. Katniss Hsiao bedient sich einer Palette an spannungserzeugenden Stilmitteln. Zwischenhandlungen, Zeitsprünge sowie Gedanken des Mörders spielen dabei eine Rolle, die den Leser bei der Stange halten. Daher ist der Roman äußerst fesseld und ich konnte mich schlecht von ihm lossagen. Die Beschreibungen der Tatorte und die damit verbundenen Gefühle sind derb und vielschichtig, teils eklig. Dem gegenüber stehen die Empfindungen und Schicksale der Protagonisten. Die Autorin verfasst hier nicht einfach einen Unterhaltungsthriller. Sie rechnet mit dem immensen Erfolgsdruck der asiatischen Gesellschaft ab. Viele Selbstmorde pflastern die beschriebenen Seiten und zeigen einen traurigen Bestandteil dieser Kultur, die keine Schwäche und kein Scheitern duldet.
Das Ende des Parfüm des Todes hat mich anfangs etwas unzufrieden zurück gelassen. Doch genauso musste es wohl enden, das noch Raum für Spekulationen bleibt und die eigene Fantasie anregt.
Die Danksagung der Autorin fand ich hilfreich und mich beeindruckt ihre Ehrlichkeit.
Fazit: Mich hat der Thriller überrrascht und geflasht! Ich spreche hier gern eine Leseempfehlung aus für nicht all zu zart beseitete Leser.

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