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anushka

Bewertungen

Insgesamt 158 Bewertungen
Bewertung vom 18.05.2025
Frau im Mond
Jarawan, Pierre

Frau im Mond


sehr gut

Schwieriger Einstieg, dann aber eigentlich eine sehr lesenswerte Geschichte über den Libanon

Lilit el-Shami, Nachkommin libanesischer Einwanderer in dritter Generation in Kanada, ist Dokumentarfilmerin. Nachdem ihr Großvater Maroun jahrelang sie und ihre Zwillingsschwester großgezogen hat, kümmern sich nun die Schwestern um den 100Jährigen. Jetzt baut Maroun deutlich ab, sodass Lilit nur wenig Zeit bleibt, die Familiengeschichte zu ergründen und herauszufinden, warum Maroun am Tag ihrer Geburt in seiner Seniorenresidenz eine Rakete gezündet hat und was die Lebanese Rocket Society damit zu tun hat. Aber insbesondere die Großmutter Anoush, die die Schwestern nie kennengelernt haben, hat mit ihrer armenischen Herkunft und ihrer Zeit in einem Waisenheim die Familie geprägt. Nachdem Lilit einen Hinweis einer Vereinigung Überlebender des Waisenhauses erhält, reist sie kurz entschlossen in den Libanon.

Allein die Zusammenfassung der zentralen Handlung des Buches fällt nicht leicht, denn die Geschichte ist ziemlich komplex und ausschweifend. Gleichzeitig gelingt dem Autor dadurch ein sehr eindrucksvolles Bild eines Landes, das eins im Wettlauf um die Mondlandung mitspielte und durch die Seidenproduktion eine blühende Wirtschaft hatte, doch heute nur noch durch Krisen und kriegerische Auseinandersetzungen in den Medien ist. Am Ende war es eine fesselnde Geschichte, doch der Weg dahin beim Lesen war steinig. Die Geschichte beginnt sehr zerfranst. Ich tat mich schwer, in die Geschichte hineinzukommen und eine Bezugsfigur zu finden. Die Erzählung schweift immer wieder ab, die Protagonistin selbst trägt einen durch Nebenbemerkungen und einen analytischen Außenblick mit Bezug zu filmischen Stilmitteln immer wieder aus der Geschichte. Auch eignet sich das Buch nicht dazu, in kurzen Lesemomenten mal nur ein paar Seiten zu lesen, man muss immer erst wieder hineinfinden und das brauchte Zeit. Ab der Hälfte, so ziemlich ab dem Moment, in dem Lilit im Libanon ankommt, wird die Geschichte packend, nicht zuletzt durch Bezüge zum Völkermord. Ab diesem Punkt wirkt die Geschichte stringenter, weniger willkürlich und weniger unstrukturiert. Ganz im Stile der arabischen Erzähltradition bekommen wir weiterhin Geschichten in Geschichten, aber die Verbindungen miteinander werden deutlicher und bedeutender. Hinzu kommen viele Bildnisse und Symboliken: die Unterteilung des Buches in die drei Startstufen einer Rakete, die Rückwärtszählung der Kapitel als Countdown, viele Bezüge zum Stummfilm "Frau im Mond". An sich ist das Buch ein Meisterwerk, das sorgfältig und kunstvoll durchdacht und komplex ist und auch das Cover passt perfekt zur Geschichte. Neben einer interessanten Familiengeschichte lernt man viel über viele verschiedene Themen, aber vielleicht war es dadurch auch etwas überladen. Letztlich lohnt es sich, durchzuhalten und über den schwierigen Einstieg hinweg weiterzulesen, dann wird man mit einer reichhaltigen, interessanten und auch fesselnden Familiengeschichte, aber auch der Geschichte eines wenig bekannten Landes belohnt.

Bewertung vom 18.05.2025
Was ich von ihr weiß
Andrea, Jean-Baptiste

Was ich von ihr weiß


ausgezeichnet

Dieses Buch ist so viel mehr als es zunächst scheint

Italien, 1916: Im Alter von 12 Jahren wird Mimo, Michelangelo Vitaliani, allein zu seinem Onkel nach Italien geschickt um zum Bildhauer ausgebildet zu werden. Aufgrund von Achondroplasie ist Mimo kleinwüchsig und oft ein Außenseiter, was ihn geradezu prädestiniert für eine Freundschaft mit Viola Orsini, die Bücher und Wissen aufsaugt und von einem selbständigen Leben träumt, das ihr als Tochter einer angesehenen Adelsfamilie jedoch auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwehrt ist. Auch Viola wird als sonderbar empfunden und von vielen gemieden. Können die beiden diese ungleiche Freundschaft über die großen Umbrüche in Europa, zwei Weltkriege und den Faschismus hinweg bewahren?

Szenenwechsel in eine Abtei im Jahr 1986. Hier liegt ein ehrwürdiger Bruder nach einem langen Leben auf dem Sterbebett und bald erfährt man, dass es sich dabei um Mimo handelt, der sich lange Jahre in dieser Abtei vor der Welt versteckt hat. Zusammen mit seiner letzten Statue, die einen Skandal ausgelöst hat und schlußendlich im Kellergewölbe der Abtei vor der Welt gerettet wurde oder die Welt vor ihr? Während Mimo aus seinem bewegten Leben erzählt, nähert man sich über den Prior der Abtei der Statue und der Auflösung des Geheimnisses an. Lange konnte ich mir nicht vorstellen, was derartig skandalös sein könnte, dass es Mimos letzte Statue werden sollte. Die Auflösung bringt tatsächlich erst die letzte Seite und war für mich derartig grandios, dass ich am Ende die gesamte Geschichte in einem anderen Licht betrachtet habe.

Die unterschiedlichen Rezensionen zeigen mir, dass man wie in Mimos Kunstwerken in diesem Roman so vieles verschiedenes sehen kann. Einerseits ist er ein Schelmenroman, allerdings mit einem Schelm, der kein wirklicher Sympathieträger und wenig zugänglich ist. Mimo lebt zunächst in Armut, doch erwirbt irgendwann die Gunst der Orsinis und ist darüber hinaus als Bildhauer außergewöhnlich talentiert. Seine Liebe zum Stein konnte man förmlich nachfühlen, spürte fast selbst den Marmor unter der Hand. Und so ist dieses Buch auch ein Künstlerroman. Weniger nachfühlbar sind Mimos Alkoholexzesse und seine politische Gleichgültigkeit. Obwohl er immer wieder gedemütigt wird, bleibt er mit den Orsinis verbunden. Er steigt auf, wird erfolgreich, immer mit der Hilfe der Orsinis, von denen einer zum Kardinal aufsteigen und der andere in der Mussolini-Regierung einflussreiche Freunde haben wird, während Violas Träume immer wieder zerschellen und sie sich den gesellschaftlichen Vorstellungen der Rolle einer Frau fügen muss. Hätte Mimo nicht die Verbindung zu den Orsinis, wäre sicherlich auch er unter Mussolini in ein Lager geschickt worden. Stattdessen sind die Faschisten mit seine größten Fans. Welch Ironie. Dieses Buch zeichnet über Mimo und Violas Geschichte hinaus eindrücklich nach, wie sich der Faschismus in die italienische Gesellschaft einschleicht. Und so ist es in gewisser Form auch historischer Roman. Und am Ende war ich sogar überzeugt, dass es in diesem Roman gar nicht hauptsächlich um Mimo ging, sondern vielmehr um die tragische Figur der Viola. Wie sehr sich die restriktiven Vorstellungen der Rolle einer Frau auswirken, wird hier nach und nach erkannt, aus Sicht eines Mannes, einem, der Viola ein ums andere Mal verraten hat, ihrem besten Freund Mimo. Mich konnte die Geschichte um Mimo und Viola fesseln, aber auch der wunderbar poetische Schreibstil, der selbst wie aus dem Papier heraus gemeißelt und bis zum absoluten Glanz poliert wirkt. Mich hat dieses Buch absolut begeistert.

Bewertung vom 06.04.2025
Unter Grund
Liepold, Annegret

Unter Grund


ausgezeichnet

Eine Jugend zwischen bayrischen Fischweihern und rechtem Gedankengut

Franka ist Referandarin in München. Gemeinsam mit ihrer Klasse besucht sie den NSU Prozess vor dem Oberlandesgericht in München. Nach einer unüberlegten Äußerung eines Schülers flieht Franka überstürzt erst aus dem Gerichtsgebäude, dann aus München, zurück in ihr Heimatdorf. Die Freude über ihre Rückkehr ist verhalten, Zurück in ihrem einstigen Jugendzimmer rollt sie die Erinnerungen und weit zurück liegende Familiengeheimnisse auf.

"Unter Grund" ist ein eingängiger Roman über eine Jugend auf dem Land in unserer heutigen Zeit, in dem längst überwundenes Gedankengut weiterhin alltäglich ist. Frankas Großmutter, von allen nur die Fuchsin genannt, spielt hier keine unerhebliche Rolle. Als Kind genießt Franka den Respekt, den die Menschen vor ihrer Großmutter zu haben scheinen, doch mit deren voranschreitender Demenz wird Franka klar, dass die Nachbarn ihre Großmutter eher verachten und meiden. Nun blickt Franka zurück, nicht allzuweit von ihren Mittzwanzigern in ihre Jugend, als ihr Vater starb und sie den Halt verlor. Als ihr bester Freund seine erste Freundin hatte und Franka statt mit ihm immer häufiger Zeit mit Patrick und Janna verbrachte. Wie sie Janna dafür bewunderte, dass sie ihren ganzen Frust über Aggression ausließ. Und wie Franka dabei immer tiefer in die rechte Szene abrutschte, nur um sich irgendwo zugehörig zu fühlen. Franka beschäftigt sich mit ihrer Schuld ohne dabei wirklich Verantwortung übernehmen zu wollen. Die zentrale Frage dabei ist, ab wann Jugendliche ihre Taten verstehen können und dafür Verantwortung übernehmen müssen. Bis wohin gehen jugendliche "Streiche" und ab wann sind sie politische Straftaten? Und wie kann gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit überhaupt als Spaß angesehen werden?
Zeitgemäßer könnte ein Roman kaum sein und erfrischend finde ich, dass er nicht in Ostdeutschland spielt, sondern zeigt, dass solche Geschichten überall stattfinden können und rechtes Gedankengut überall im Land gärt. Franka ist eine nahbare Protagonistin, auch wenn man ihre Handlungen und ihren Umgang mit ihrer Schuld wenig nachvollziehen kann. Gleichzeitig ist der Roman schonungslos, zitiert auch mal hier und da einschlägige Texte, Lieder und Filme, die man vielleicht gar nicht lesen wollte. Man spürt Beklemmung und ein Bedrohungsgefühl, wenn Franka sich mit den Dorfnaz*s trifft, so gut hat die Autorin diese Situationen beschrieben. Der Roman widmet sich weniger möglichen Lösungen, sodass man hier etwas unbefriedigt zurückbleibt. Auch Frankas Ausstieg wird nur kurz thematisiert. Dennoch ist dieser Debütroman beeindruckend und hallt lange nach.

Bewertung vom 06.04.2025
Der ewige Tanz
Schroeder, Steffen

Der ewige Tanz


sehr gut

Das Verglühen eines Sterns

Deutschland, 1920er: Die Goldenen Zwanziger sind angebrochen. Die westliche Welt schwelgt in Lebensfreude, die Kunst erlebt eine Hochphase. Anita Berber ist mittendrin als eine der schillernden Personen. Ihre Tänze sind skandalös und ziehen ein großes Publikum an. Sie ist dabei, als der Film massentauglich wird und ist als Stummfilmschauspielerin sehr erfolgreich. Doch jetzt liegt sie auf der Tuberkulosestation eines Berliner Krankenhauses und ihre Gedanken drehen sich um ihr exzessives Leben und ihren Absturz.

"Der ewige Tanz" erzählt die Geschichte einer exzentrischen Künstlerin der 1920er Jahre, die es wirklich gegeben hat. Wer in einer Suchmaschine nach Anita Berber sucht, wird schnell fündig und kann sich zahlreiche Bilder anschauen, die auch im Buch thematisiert werden. Leider verrät der Klappentext schon recht viel, denn Anita Berber wurde nur 29 Jahre alt. Dennoch verfolgt man fasziniert den Weg dieser eigensinnigen Frau, die sich ein Monokel anfertigen ließ und als erste Frau in einem Frack auftrat, etwas, das Marlene Dietrich sich von ihr abschaute. Der Autor erweckt eine wundervolle Atmosphäre, die den Überschwang dieser Zeit und das künstlerische Milieu wie einen Fiebertraum wirken lässt. Man wähnt sich mittendrin in den Partys und Zwistigkeiten unter den Kunstschaffenden. Nicht lange und man beobachtet Anita bei ihrem Alkohol- und Drogenkonsum, hört die gehässigen Stimmen ihrer Kritiker:innen und folgt ihrem Kampf um Bedeutungserhalt und Einkommen. All das ist faszinierend und auf gewisse Weise fesselnd. Fast schon amüsant sind die Beschreibungen des aufkommenden Kinofilms und dem Beruf der Filmschauspielerei. Und dennoch fehlt etwas. Man kommt Anita Berber niemals emotional nahe. Man verfolgt das Verglühen dieses Sterns von außen, aber der Roman blickt nicht nach innen, was das emotional mit der Protagonistin gemacht haben könnte. Der Roman bleibt durchweg auf einer beschreibenden Ebene und geht nicht tiefer in die zwischenmenschlichen und innermenschlichen Dynamiken. So lässt der Roman insgesamt eine spannende und faszinierende Zeit und Gesellschaft auferstehen, aber wirklich nah kommt man seinen Figuren leider nicht.

Bewertung vom 01.04.2025
Barfuß in Tetas Garten
Abboud, Aline;Heymann, Nana

Barfuß in Tetas Garten


gut

Persönliche Einblicke in den Libanon jenseits der Schlagzeilen

Aline Abboud, wem sie nicht bekannt ist, ist Sprecherin und Journalistin bei der Tagesschau. Außerdem hat sie einen multikulturellen Hintergrund, mit einem libanesischen Vater und einer ostdeutschen Mutter. In diesem Buch erzählt sie aus ihrem Leben mit und ihrer Identitätssuche zwischen zwei Kulturen. Dadurch gibt sie einen Einblick in ein Land, über das abseits von Nachrichtenmeldungen nur wenige Menschen etwas wissen. Wie eine Touristenführerin beschreibt sie anschaulich verschiedene sehenswerte Gegenden des Libanon. Aber auch von einschneidenden Erlebnissen erzählt sie, wie zum Beispiel als 2006 in unmittelbarer Nähe des Hauses ihrer Großeltern Bomben einschlagen und Abboud mit ihrer Familie über Land nach Deutschland zurück flüchtet.

Zunächst fand ich das Buch sehr flüssig zu lesen, doch zunehmend fehlte mir etwas der rote Faden. Auch auf eine historische oder politische Einordnung wartet man vergebens. Hier hätte ich gedacht, dass der journalistische Hintergrund der Autorin stärker zum Tragen kommt. Auch werden Erlebnisse punktuell erzählt und bestehen eher aus einzelnen Anekdoten als aus einem größeren Ganzen mit Konzept. Einzelne Kapitel enden teilweise sehr abrupt und manchmal mit wenig Bezug zueinander. Und nicht zuletzt möchte die Autorin einem zwar das Land näherbringen, thematisiert aber nur vereinzelt, dass auch sie selbst das Land insgesamt wenig kennt, da sie im Jahr nur wenige Wochen am Stück dort verbringt und im Gegensatz zur Familie ihres Vaters das Privileg besitzt, jederzeit in ein westliches Land zurückkehren zu können. Auch der berufliche Alltag in einer Nachrichtenredaktion wird nur am Rande thematisiert.

Dieses Buch gibt insgesamt interessante Einblicke in ein Land, das wenig als Urlaubsland bekannt ist und über das oftmals negativ konnotiert berichtet wird. Es veranschaulicht die Identitätssuche von Menschen mit multikulturellem Hintergrund und ist eine liebevolle Familiengeschichte bestehend aus kurzweiligen Kapiteln. Eine vertiefende Analyse der Situation im Libanon sollte man allerdings davon nicht erwarten.

Bewertung vom 02.03.2025
Der große Riss
Henríquez, Cristina

Der große Riss


ausgezeichnet

Kleine Leben unter dem großem Schatten des Panamakanals

Empire, Panama, 1907: Ada steigt als illegale Passagierin vom Schiff aus Barbados. Sie hofft, in Panama genug Geld verdienen zu können, um ihrer Schwester eine lebensrettende Operation zu bezahlen. Omar, Sohn eines Fischers, arbeitet gegen den Wunsch seines Vaters als Bauarbeiter mit am Panamakanal, der als großer Riss durch das Land gehen soll. Die Oswalds reisen aus den USA an um die Malaria zu erforschen und ein Heilmittel zu finden. Doch sie müssen feststellen, dass auch Reichtum nicht vor Krankheit schützt. Und Valentina versucht, durch Protest ihr Kindheitsdorf Gatún vor der Zwangsumsiedlung zu retten. Dies sind nur einige der Figuren, die in einem mal engeren, mal gröberen Netz aus Schicksalen verbunden sind. Die Autorin zeigt eingängig die Hintergrundgeschichten, Träume und Hoffnungen vieler verschiedener Menschen auf, die alle in irgendeiner Form vom Bau des Panamakanals betroffen sind, sei es, dass sie sich durch das verdiente Geld eine bessere Zukunft erhoffen oder dass dadurch ihre ganze Existenz bedroht ist.

Passender kann ein Roman kaum erscheinen als dieser, der rund um den Bau des Panamakanals vor über 100 Jahre angesiedelt ist, während hochaktuell Forderungen des derzeitigen amerikanischen Präsidenten laut werden, die Kontrolle über den Kanal zurückzuerhalten. Geradezu zynisch muten diese Forderungen an, nachdem man das Buch gelesen und einen Eindruck bekommen hat von der Ausbeutung und der Diskriminierung der Menschen Panamas beim Bau (und danach) und dem imperialistischen Gehabe der USA, die gleich einen ganzen Landstrich Panamas zur Sonderzone machten, in denen die einheimische Bevölkerung keine Rechte mehr hat. Allerdings erfährt man aus diesem Roman wenig historische Fakten, der Hauptfokus liegt auf den emotionalen Geschichten der "kleinen Leben", die mit dem Panamakanal zu tun haben oder davon beeinflusst werden. Wie der große Risse auch Risse durch Familien zieht. Man kann sich einfühlen in die jüngeren Figuren, die dem Fortschritt nicht abgeneigt sind und die aus ganz Mittelamerika anreisen, weil die Arbeit vergleichsweise gut bezahlt wird. Aber auch die Umwälzungen, die die älteren Figuren durch den Fortschritt erleben, der ihre traditionelle Lebensweise überrollt, sind gut nachspürbar. Die angekündigte Liebesgeschichte ist zart und dezent und überlagert nicht die restliche Handlung. Man fühlt beim Lesen vor allem, wie sich ein großer Schatten des "Risses" auf alle geschilderten Leben legt. Und gleichzeitig schildert die Autorin so bildhaft die Szenerie, dass man sich ein Staunen kaum verkneifen kann, wie der Mensch einen ganzen Kontinent durchschneidet, Bergketten durchtrennt und am Ende zwei Ozeane miteinander verbindet um der Natur ein Schnippchen zu schlagen und nicht länger einen ganzen Kontinent umsschiffen zu müssen, um auf die andere Seite zu kommen. Die Autorin schärft mit großer Empathie das Bewusstsein für ein Wunderwerk der Ingenieurskunst und seiner gleichzeitigen Auswirkungen auf die individuellen Menschen.

Bewertung vom 02.03.2025
Middletide - Was die Gezeiten verbergen
Crouch, Sarah

Middletide - Was die Gezeiten verbergen


gut

Trotz atmosphärischer Naturbeschreibungen zündet die Geschichte nicht so richtig

Im Jahr 1973 lässt der gerade einmal volljährige Elijah Leith seine Jugendliebe in Point Orchards, einer Kleinstadt an der Meeresbucht Puget Sound im Staat Washington, zurück, um zu studieren und Schriftsteller zu werden. Viele Jahre später kehrt er zurück. Der Traum vom Bestseller ist geplatzt, der Vater tot und Elijah übernimmt die Familienhütte im Wald und baut sich ein Selbstversorgerleben auf. Doch dann wird die Ärztin des Ortes tot auf Elijahs Grundstück gefunden. Was zunächst wie ein Selbstmord aussieht, ähnelt jedoch schnell in verblüffender Weise der Handlung von Elijahs Buch und so gerät er ins Visier des Sheriffs und des Geredes in Point Orchards.

Die Geschichte beginnt mit atmosphärischen Naturbeschreibungen. Zwei Männer angeln auf einem See, der nur bei einem bestimmten Tidenstand zugänglich ist, es gibt viel Wald und Wasser. Vom Flair her erinnert es an "Der Gesang der Flusskrebse" und ähnliche Romane, das Setting ist dieses Mal jedoch kein Marschland im Süden, sondern ein kontinentaleres Klima an der Grenze zu Kanada. Auch durch Bezüge zu einem Reservat und dem (fiktiven) First Nations Volk der Squalomah entsteht diese eingängige Atmosphäre. Dennoch muss ich sagen, dass dies für mich letzten Endes nicht genug war, um die Geschichte zu tragen. Zunächst war ich noch gefesselt von Elijahs zurückgezogenem Lebensstil in der Natur. Doch dann kam die Liebesgeschichte hinzu, in der mir Elijah immer unsympathischer wurde. Sein Verhalten wirkte oftmals nicht romantisch, sondern grenzüberschreitend auf mich. Und auch der Krimiteil wirkte mir zu konstruiert und wenig überzeugend. Der Sheriff und sein Assistent gehen unbeholfen und dilettantisch vor und die Gerichtsverhandlung ist absolut übereilt. In diesem Buch liegen gerade einmal 5 Wochen zwischen Auffinden der Toten und der Mordanklage, im realen Leben sind es üblicherweise zwischen mehreren Monaten und mehreren Jahren. So konnte mich weder die Liebesgeschichte emotional erreichen, noch der Mordverdacht gegen Elijah. Immerhin gelang es der Autorin, durch verschiedene Zeitsprünge Zweifel zu säen und eine nicht völlig vorhersehbare Entwicklung anzubieten. Die atmosphärischen Naturbeschreibungen konnten am Ende aber für mich die Schwächen in der Romanhandlung nicht ausreichend ausgleichen.

Bewertung vom 31.01.2025
Wenn nachts die Kampfhunde spazieren gehen
Brüggemann, Anna

Wenn nachts die Kampfhunde spazieren gehen


ausgezeichnet

Schmerzvolle Mutter-Töchter-Geschichte

Regina ist in der Nachkriegszeit aufgewachsen. Was hätte nicht aus ihr werden können, wäre sie doch nur von ihren Eltern gefördert worden. Doch damals brauchte eine Tochter keine Bildung, sondern einen Ehemann. Dennoch hat Regina es geschafft. Sie hat Psychologie studiert und ist Psychotherapeutin. Und trotzdem bedauert sie. Sie bedauert, dass sie der Töchter wegen auf eine Promotion verzichtet hat. Sie wäre sicherlich eine der besten geworden. Umso weniger Verständnis hat sie für ihre ältere Tochter Antonia, die so gar nichts aus sich macht und eine einzige Enttäuschung ist. Sie achtet nicht auf ihren Körper, bricht schließlich das Studium ab und wird alleinerziehende Mutter. Deutlich besser gelungen ist die jüngere Tochter Wanda. Ehrgeizig, hübsch, superschlank, erfolgreich. Auf Wanda kann sich Regina verlassen, Wanda ist zuverlässig und der Mutter zugewandt. Währenddessen pendeln die Schwestern in ihrer Beziehung zwischen Rivalität und Liebesbedürfnis. Und beide sehnen sich danach, es der Mutter endlich recht machen zu können und auch einmal bedingungslos von ihr geliebt zu werden.

Der Roman beginnt im Jahr 1998, da ist Antonia gerade 18 und macht ihr Abitur. Wanda ist 17 Jahre alt. Irgendwann gibt es einen großen Zeitsprung in das Jahr 2010 und dann noch einen in das Jahr 2019. So verfolgt man beim Lesen, wie die Mädchen zu erwachsenen Frauen werden und auch noch im Alter von fast 40 Jahren von ihrer Mutter dominiert werden. Erzählt wird aus wechselnden Perspektiven, sodass man alle drei Sichtweisen erlebt. Reginas Handeln wird vielleicht nachvollziehbarer, aber nicht sympathischer. Der Roman zeigt eine schmerzvolle Mutter-Töchter-Dynamik auf, in der die Töchter jede auf ihre Weise um die nahezu unerreichbare Liebe der Mutter buhlen. Nachspürbar und fast schon zu nah zeigt die Geschichte auf, was die unrealistischen Erwartungen von insbesondere Müttern mit ihren Töchtern machen. Dabei zeigt die Autorin eine unglaublich gute Beobachtungsgabe und Realitätsnähe. Das Buch lebt vor allem von den vermittelten Emotionen, die mitunter sehr beklemmend sind. Es geht weniger um die großen Handlungselemente, denn Regina seziert vor allem die Lebensentscheidungen ihrer Töchter, wobei sie sich selbst von jeder Verantwortung freizumachen versucht. Die Geschichte ist weder plakativ noch vordergründig feministisch, am Ende stellt sich aber trotzdem u.a. die große Frage, warum Frauen es einander so schwer machen müssen. Die Geschichte der Töchter berührt, lässt die eine oder andere Leserin möglicherweise auch selbst erlebte Muster wiedererkennen und sich fragen, wie man selbst als Mutter agiert. Mich hat das Buch sehr gefesselt, nicht aufgrund einer extrem spannenden Handlung, sondern mit der Frage, ob und wie es den Töchtern gelingt, ihr eigenes Leben zu führen. Emotional hat es mich voll abgeholt und bis zum Ende in einen wahren Gefühlsstrudel geworfen.

Bewertung vom 27.12.2024
Das Comeback
Berman, Ella

Das Comeback


ausgezeichnet

Das Leben eines Teeniestars in Hollywoods Haifischbecken

Mit 13 Jahren wird Grace Turner zum Teeniestar. Am Vorabend der Golden Globes floh sie aus Hollywood. Es hätte ihr großer Abend werden und ihr Topangebote sichern können. Nun ist sie nach einem Jahr zurück und die Klatschzeitungen überschlagen sich. Grace versucht, wieder Fuß zu fassen, doch jeder kleinste Fehltritt, jedes ungepflegte Auftreten findet sich sofort auf den Titelblättern. Doch für Grace gibt es eigentlich nur ein Thema: Able Yorke. Der Mann, dem sie nun einen Preis übergeben und die Laudatio halten soll. Der Mann, der sie von ihrer Familie isoliert und ihr Leben kontrolliert hat, ohne den sie in Hollywood nie einen Fuß auf den Boden bekommen hat. Und der sie völlig zerstört hat.

Schnörkel- und schonungslos erzählt Ella Berman von den Machtstrukturen in Hollywood und den Auswirkungen auf junge Frauen. Zeitweise fand ich die Atmosphäre mehr als bedrückend und Graces unüberlegte Handlungen wenig nachvollziehbar. Hier war es hilfreich, einen Schritt zurück zu machen und nicht zu theoretisieren, dass man selbst in einer solchen Situation ganz anders handeln würde, denn Grace ist Opfer von (psychischem) Missbrauch schon von Jugend an. Mit 13 Jahren ist sie allein in der Weltmetropole L.A. einem 40jährigen Mann ausgeliefert, der ihre Karriere befeuern oder beenden kann, während ihre Familie in England weit weg ist. Vieles wird nicht explizit dargestellt, sondern erfordert eine längere Auseinandersetzung mit dem Buch. So wird Graces Verhalten bei längerem Nachdenken deutlich nachvollziehbarer, wenn man das Verhalten ihres Umfelds kennenlernt: eine Mutter, die selbst Model war, aber ihre Tochter nicht vor dem Business warnt; ein Ehemann, der lieber nicht hinhört und eine Freundin, die sie vor allem mit Drogen und Alkohol versorgt. Grace wird gegaslighted und ihre Probleme als "Hysterie" wahrgenommen. Freunde hat sie in diesem Umfeld kaum.
Im Nachwort erklärt die Autorin, dass während ihrer Arbeit am Buch die Enthüllungen zu #metoo öffentlich wurden. Sie hat sich dennoch entschieden, Graces Geschichte vor diesen Zeitpunkt zu legen. So wird eindringlich deutlich, wie allein Grace mit der Situation und ihren Zweifeln ist. Niemand hilft ihr, ihre Erfahrungen einzuordnen. So ergibt ihr Verhalten auch für sie selbst erst spät Sinn. Parallelen zu Brittney Spears sind kaum zu übersehen. Und nicht zuletzt zeigen die aktuellsten Medienberichte zur Schmierkampagne über Blake Lively, was passiert, wenn Frauen männliches Fehlverhalten ansprangern.

Ein fiktiver Roman lebt natürlich von einer Handlung, die - oft linear - voranschreitet. Bei "Das Comeback" hat man manchmal das Gefühl, sich eher im Kreis zu drehen. Und dennoch hat mich der Roman am Ende zutiefst berührt. Es wird deutlich, dass Grace kaum anders handeln kann. Dass sie zutiefst zerstört ist. Dass sie traumatisiert ist. Und wie sehr sich ihr Umfeld dadurch belastet fühlt, ohne nach den Gründen suchen zu wollen.

Bewertung vom 24.11.2024
La Louisiane
Malye, Julia

La Louisiane


sehr gut

Frauenschicksale im Sumpf von Louisiana

Paris, 1720: Die Salpetrière ist Endstation für viele der Frauen dort. Wer nicht in die Gesellschaft passt, findet sich in dieser kleinen Stadt innerhalb der Stadt wieder, bestehend aus psychiatrischer Anstalt, Gefängnis, Waisenhaus. Für Charlotte, Étiennette, Pétronille, und Geneviève ist die einzige Möglichkeit, irgendwie in die Gesellschaft zurückzukehren, sich “freiwillig” als Braut für einen der Siedler in der neuen Kolonie La Louisiane am anderen Ende der Welt zu melden. Nach einer beschwerlichen und gefährlichen Überfahrt müssen die Frauen jedoch zu ihrem Erschrecken feststellen, dass La Lousiane wenig mehr als ein Sumpf ist. Die Gegend ist feucht, heiß und wird oft von Stürmen heimgesucht. Die vier Frauen, deren Leben wir in einzelnen Handlungssträngen verfolgen, haben mal mehr, mal weniger Glück mit den Männern. Thematisch findet sich hier alles von zarter Liebe, über fremdgehende Ehemänner bis hin zu häuslicher Gewalt und Missbrauch. Im Zentrum steht aber vor allem die Freundschaft und teilweise zärtliche Liebe der Frauen untereinander, die sich das Leben gegenseitig deutlich erleichtern könnten, es sich aber oft schwerer machen. Hinzu kommen zunehmende Konflikte mit den Indigenen sowie der beginnende Sklavenhandel.

Die Autorin hat hier ein wahres Sittengemälde der damaligen Zeit geschaffen. Die Geschichte ist sehr komplex, umfasst eine Fülle an Figuren und Eindrücken und gibt verschiedenen Perspektiven Raum. So bekommt man beispielsweise Einblick in das Leben, die Kultur und die zunehmende Verdrängung der Indigenen. Ebenso wird das Schicksal der ersten Sklav:innen beleuchtet. Und auch das Schicksal der Frauen ist stark von den männlichen Siedlern abhängig. Das alles war sehr eindrücklich und berührend und hat für mich ab der Hälfte des Buches einen ziemlichen Sog entwickelt. Am Anfang bin ich jedoch nicht gut ins Buch gekommen. Die Autorin erzählt geradezu in Bildern. Dementsprechend sind einzelne Szenen sehr detailliert, die Übergänge aber teilweise so skizzenhaft, dass ich den Wechseln nicht immer folgen konnte. Der Erzählstil bekam dadurch für mich etwas sehr Sprunghaftes. Auch sprachlich wirkte er immer wieder sperrig. Dennoch hat mich das Buch mit seiner Handlung und seinen Perspektiven am Ende berührt und mir die Tragik dieser historischen Entwicklungen für die verschiedenen Menschengruppen vor Augen geführt. Auch die Schicksale der verschiedenen Frauen, die aus völlig unterschiedlichen Kulturen kommen, aber am Ende doch immer die Leidtragenden sind, haben sehr nachdenklich gestimmt.