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Christina19

Bewertungen

Insgesamt 77 Bewertungen
Bewertung vom 01.04.2025
Von Stufe zu Stufe
Kucher, Felix

Von Stufe zu Stufe


sehr gut

(Österreichische) Filmgeschichte mit Stärken und Schwächen

Nachdem vor einigen Jahren die Kinematographen auf den Markt gekommen sind, träumt Luise davon, den ersten Langspielfilm Österreichs zu drehen. Kein einfaches Unterfangen angesichts der Vorbehalte ihres Mannes gegenüber dem neuen Medium und der Tatsache, dass man ihr als Frau den Erfolg Anfang des 20. Jahrhunderts nicht zutraut.
Über 100 Jahre später hat Marc ganz andere Sorgen. Nach seinem Studium der Filmwissenschaft hatte er eine Anstellung im Filmarchiv in Wien gefunden. Wenn in wenigen Tagen seine Stelle gestrichen wird, wird er arbeitslos sein. Als Marc jedoch von der Existenz längst verloren geglaubter Filme von Louise Kolm erfährt, sieht er seine Chance gekommen, als ernstzunehmender Wissenschaftler einen Job an der Universität zu bekommen. Ob sich die alten Filmrollen nicht längst in ihren Dosen zersetzt haben, kann ihm niemand mit Gewissheit sagen. Marc kann es nur herausfinden, indem er die waghalsige Reise in die Ukraine antritt, wo die frühen Werke österreichischer Filmgeschichte in einem Keller aufgetaucht sein sollen…

„Von Stufe zu Stufe“ ist ein Roman, der in Teilen auf wahren Begebenheiten beruht. In zwei Erzählsträngen, die sich regelmäßig abwechseln, erzählt Felix Kucher ein Stück (österreichischer) Filmgeschichte. Ein Teil des Buches spielt in den Jahren 1906 bis 1909, in denen Louise Kolm, ihr Mann sowie ihr Bediensteter die ersten Versuche mit einem Kinematographen unternehmen. Sie drehen kürzere und längere Filme, müssen Rückschläge hinnehmen, können aber auch Erfolge verbuchen. Der zweite Erzählstrang spielt am Ende des Jahres 2021. Darin berichtet der Ich-Erzähler Marc von seinem drohenden Jobverlust und all dem, was er unternimmt, nachdem er ein Foto sieht, das alte Filmdosen in einem Keller in der Ukraine zeigt.
Beim Lesen – und auch jetzt, da ich die Geschichte beendet habe – hatte ich ambivalente Gefühle zu diesem Buch. So musste ich mich anfangs erst an die Sprache gewöhnen. Diese ist durch einige österreichische Ausdrucksweisen geprägt, die für mich etwas fremd klangen. In dem Teil, der von Louise erzählt, fließt außerdem die Wortwahl des letzten Jahrhunderts ein, sodass z. B. die Mehrzahl von Film als „Films“ gebildet wird.
Streckenweise habe ich zudem sehr mit dem Ich-Erzähler gehadert. Ich habe ihn immer wieder als übergriffig, wenn nicht gar frauenfeindlich empfunden. Obwohl er sich seiner unpassenden Gedanken und Taten teilweise bewusst ist, sich selbst auch als Se*isten betitelt, macht ihn das nicht unbedingt sympathischer.
Gleichzeitig muss ich festhalten, dass der Roman stellenweise einen solchen Sog entwickelt hat, dass ich ihn nicht mehr aus der Hand legen wollte. Vor allem am Ende der Kapitel baut der Autor immer wieder eine solche Spannung auf, dass man förmlich den Atem anhält.
Gut gefallen hat mir auch die Rolle von Louise. Sie ist es, die die Idee entwickelt, einen längeren und vor allem niveauvollen Film zu drehen. Während sie anfangs nur zusehen darf, wie ihr Mann und ihr Angestellter den Kinematographen bedienen, nimmt sie zusehends das Zepter in die Hand und emanzipiert sich. Interessant an dieser Stelle ist, dass ihre Figur auf Luise Fleck zurückgeht, die als zweite Filmregisseurin der Welt in die Geschichte eingegangen ist. Der Film, nach dem das Buch betitelt ist, wurde tatsächlich von ihr und den Personen im Roman gedreht und gilt bis heute als verschollen.
Auch wenn der Film im Buch schließlich gefunden wird und der Ausgang der Geschichte somit ein anderer ist, bildet „Von Stufe zu Stufe“ dennoch ein interessantes Stück den (österreichischen) Filmhistorie ab.

Bewertung vom 31.03.2025
Geht so
Serrano, Beatriz

Geht so


sehr gut

Ernste Themen überspitzt und mit Sarkasmus verpackt

Marisa arbeitet in einer Werbeagentur in Madrid. Obwohl sie sich einst glücklich schätzen konnte, nach ihrem Studium eine Anstellung gefunden zu haben, hasst sie ihren Job. Die täglichen Aufgaben, die Kollegen und Kolleginnen, all das erträgt sie nur dank stundenlanger YouTube-Sitzungen und zu vieler Beruhigungsmittel. Die Aussicht auf ein Teambuilding-Wochenende sorgt bei Marisa daher absolut nicht für Freude, dennoch versucht sie die so mühsam aufgebaute Fassade aufrechtzuerhalten.

Mit „Geht so“ bringt uns Beatriz Serrano mitten in die Arbeitswelt einer Werbeagentur. Dort findet man jeden erdenklichen Charakter, den man wohl auch aus dem Alltag kennt: die strebsame Mitarbeiterin, die alle ihr gestellten Aufgaben immer ein bisschen zu genau nimmt, die garstige Kollegin, die nicht gut mit ihren Mitmenschen umgeht, und den Vorgesetzten, der seine Schäfchen fast ein wenig väterlich behandelt. Außerdem ist da Marisa, die nach mehreren Jahren in der Werbebranche so gar keine Lust mehr auf ihren Job hat. Die Ablehnung, die sie für all ihre Aufgaben verspürt, sorgt für absolute Demotivation und wirkt sich zunehmend auf ihre psychische Gesundheit aus. Marisa zieht sich zurück, entwickelt Angstzustände und Panikattacken und flüchtet sich in Tabletten, Alkohol und Drogen.
Beatriz Serrano stellt ihre Figuren überspitzt dar, ohne dass diese dabei eindimensional wirken. Stattdessen schafft es die Autorin, die unterschiedlichen Charaktere, die in der Arbeitswelt anzutreffen sind, genau auf den Punkt zu bringen. In ihrem Debütroman verpackt sie ernste gesellschaftliche Probleme mit einer Menge Ironie und Sarkasmus so geschickt, dass sie den Anschein einer leichten, unterhaltsamen Geschichte bekommen. Doch die Kritik, die mitschwingt, ist unübersehbar. So kritisiert sie den Kapitalismus, der uns ständig glauben lassen will, dass uns der nächste Lippenstift attraktiver und ein neues Parfum unwiderstehlicher macht. Sie zeigt, mit welchen Erwartungen und Problemen Mütter nach ihrer Elternzeit im Job konfrontiert werden. Und sie verdeutlicht, dass ein „Bullshit-Job“ ernsthafte gesundheitliche Folgen nach sich ziehen kann, von Boreout oder Burnout bis hin zu Depressionen.
Mit ihren tollen Figuren und ihrem besonderen Schreibstil konnte mich die Autorin vor allem in der ersten Hälfte des Romans einnehmen. Die zweite Hälfte habe ich als etwas schwächer empfunden. Den Verlauf der Geschichte an dem gemeinsamen Teambuilding-Wochenende und vor allem den Ausgang des Buches hätte ich mir anders gewünscht. Andererseits hat es Serrano genau dadurch geschafft, dass das Erzählte noch lange in mir nachhallte und mich mit einem Kopfschütteln zurückließ.
„Geht so“ ist ein Roman, der den Finger in mancherlei Hinsicht in die Wunde legt und dabei bis zum Schluss kurzweilig und unterhaltsam ist.

Bewertung vom 27.03.2025
OTTO fährt los - Ein Sommer in den Bergen
Ottenschläger, Madlen

OTTO fährt los - Ein Sommer in den Bergen


ausgezeichnet

Kindgerechte Reiseabenteuer in den Alpen

Es ist wieder so weit! Otto, der Camper, fährt mit einer neuen Familie auf zu neuen Abenteuern. An Bord sind diesmal Yurika, Christian und ihre Zwillingsmädchen Luzie und Klara. Gemeinsam bereisen sie die Berge im Süden Deutschlands, in Österreich und der Schweiz.

Ganz im Stil der beiden schon erschienenen Bücher haben Madlen Ottenschläger und Stefanie Reich mit „Ein Sommer in den Bergen“ den dritten Band ihrer Reihe rund um den Camper Otto herausgebracht. Nachdem zuerst Schweden und anschließend Italien bereist wurden, behandelt der neue Band mit den Alpen nun ein Gebiet, das über Ländergrenzen hinausgeht: Das Gebirge erstreckt sich über Deutschland, Österreich und die Schweiz, die allesamt Eingang in das Buch finden. Gut gefallen mir die Sehenswürdigkeiten, die entlang der Route herausgegriffen wurden, darunter Schloss Neuschwanstein und der Rheinfall. Außerdem finden auch landestypische Köstlichkeiten wie Kaiserschmarrn und Käse sowie besondere Pflanzen, Tiere und traditionelle Feste Erwähnung – eine bunte Auswahl an Highlights also.
Die Geschichte selbst wartet mit einer kindgerechten Sprache auf. Mehrfach werden junge Leser und Leserinnen direkt angesprochen und zum Suchen von Motiven in den Bildern aufgefordert oder zum Erzählen zu bestimmten Themen angeregt.
Die Illustrationen ergänzen den Text perfekt. Sie zeigen idyllische Landschaften, die zum Träumen einladen, und die Familie, wie sie ihre gemeinsame Zeit genießt. So bekommt man beim Betrachten der Bilder richtig Lust auf den nächsten Sommerurlaub!
„Otto fährt los – Ein Sommer in den Bergen“ ist ein empfehlenswertes Kinderbuch für kleine Campingfreunde, Naturliebhaber und alle Abenteurer.

Bewertung vom 24.03.2025
Die Allee
Anders, Florentine

Die Allee


ausgezeichnet

Familie Henselmann: Deutsche Architekturgeschichte, Familienleben und Emanzipation, Politikgeschichte

Als 1959 ein internationaler Ideenwettbewerb für die Umgestaltung des Alexanderplatzes ausgerufen wurde, wurde Hermann Henselmann ausgeschlossen. Dennoch reichte er einen Entwurf für einen Turm ein, der nach Weiterentwicklungen verschiedener Architekten und Ingenieure als Fernsehturm seither das Bild Berlins maßgeblich prägt. Doch Henselmanns Karriere startete bereits in den späten 1920er Jahren. Nach seinem Vorbild Le Corbusier verwirklichte er Bauten ganz im Sinne des Bauhauses. Als zuerst die Nationalsozialisten und später die Führungsriege der DDR diese Stilrichtung ablehnte, musste sich Henselmann den neuen Idealen oft unterordnen – ohne jedoch immer wieder modernistische Ideen anzubringen und damit den Fortschritt anzutreiben.
Derweil versuchten seine Frau Isi und seine Tochter Isa ihre eigenen Lebensträume zu verwirklichen, was unter dem herrischen Architekten nicht immer einfach war… .

Hermann Henselmann zählt zu den einflussreichsten deutschen Architekten des vergangenen Jahrhunderts. In diesem Buch, das seine Enkelin Florentine Anders verfasst hat, lernt man ihn in vielen Facetten kennen. Daneben begleitet man mit Isi und Isa zwei Frauen aus seinem engsten familiären Umfeld bei ihrer Emanzipation.
Geprägt durch das Bauhaus zeichnen sich Henselmanns Ideen durch eine radikal modernistische Formgebung aus. In der DDR soll er sich jedoch den sozialistischen Vorstellungen der Politführung beugen. Man erfährt, dass er, der zum Chefarchitekten Ostberlins aufgestiegen war und sich in elitären Kreisen bewegte, dennoch immer wieder zukunftsweisende Entwürfe vorlegte. Als Architekt war Henselmann mutig, teils provokativ, angesichts der drohenden Gefahren für Kritiker der DDR-Führung aber auch leichtsinnig. Mehr als nur einmal ist er mit der Staatsführung aneinandergeraten und mehr als nur einmal musste er anschließend um Entschuldigung bitten. Dennoch hat er sich nie vollends unterworfen, sondern weiter in kleinen Schritten daran gearbeitet, seine Vorstellungen anzubringen. So ist es Henselmann selbst wichtig, als Architekt nicht als Produkt der DDR wahrgenommen zu werden, sondern als Gestalter des Landes nach seinen Idealen (S. 292). Von den Gebäuden, die nach seinen Plänen errichtet wurden, sind mir viele gut bekannt, was den Roman sehr anschaulich macht.
Neben seiner beruflichen Laufbahn kann man in „Die Allee“ auch einiges über den Menschen Hermann Henselmann lesen. Dieser war oft voller Jähzorn, konnte von einem Moment auf den anderen völlig ungehalten werden. Als Ehemann und Vater war er damit kein einfacher Charakter. Seine häufigen Affären und die Gewalt, die er gegenüber seinen Kindern anwendete, haben mich beim Lesen sehr betroffen gemacht. Bei all den Vorkommnissen habe ich großen Respekt vor seiner Frau, die immer zu ihm gehalten hat. Gleichzeitig kann ich gut nachvollziehen, dass sie daran arbeitete, ihre eigenen Träume in die Tat umzusetzen und damit aus dem Schatten ihres berühmten Mannes zu treten – nicht immer einfach mit acht Kindern. Unter diesen wiederum ist es vor allem das Schicksal der Tochter Isa, das ergreifend geschildert wird. Gleichzeitig ist es gerade ihr Lebensweg, der nach vielen Tiefpunkten zum Ende des Romans hin Hoffnung schenkt.
Obwohl der Roman der Familie Henselmann gewidmet ist, bietet er auch einen Einblick in die Erlebnisse einer jungen Familie im zweiten Weltkrieg, den Wiederaufbau in der Nachkriegszeit sowie die Gründung und den Zusammenbruch der DDR. Die kurzen Abschnitte, in die das Buch unterteilt ist, folgen dem chronologischen Ablauf der Ereignisse, sodass hier ein Kapitel der deutscher Politikgeschichte greifbar wird.
„Die Allee“ ist ein unglaublich vielschichtiger Roman und hat mich durchweg gefesselt. Große Empfehlung!

Bewertung vom 16.03.2025
Bis die Sonne scheint
Schünemann, Christian

Bis die Sonne scheint


ausgezeichnet

Eine authentische Reise zu einer mittelständischen Familie in den 1980er Jahren

Daniel steht kurz vor seiner Konfirmation, als seine Eltern in finanzielle Schieflage geraten. Die Familie mit vier Kindern, von denen er das jüngste ist, bekommt schon bald Besuch von einem Gerichtsvollzieher. Obwohl mit dem Klavier und dem Fernseher die ersten Besitztümer gepfändet werden, hofft Daniel für seine Konfirmation weiterhin auf das Sakko aus blauem Samt und eine große Feier. Doch er hat die Rechnung ohne seine Eltern gemacht, die nicht mit Geld umgehen können…

Das Wichtigste gleich vorab: Dieses Buch hat mich positiv überrascht!
Die Geschichte ist wie eine Zeitreise in die 1980er Jahre in der Bundesrepublik. Aus der Perspektive von Daniel lernen wir dessen Mutter Marlene, seinen Vater Siegfried sowie die drei älteren Geschwister kennen. Die sechsköpfige Familie lebt in einem Eigenheim nahe Bremen, das der Vater geplant und mit viel Eigenleistung verwirklicht hat. Obwohl das Haus noch nicht sehr alt ist, besteht bereits Renovierungsbedarf: Nach starkem Regen tropft es durch das Dach des Bungalows. Damit steht der Bau, wie ich finde, fast schon sinnbildlich für die finanzielle Lage der Familie, die, wie man bald erfährt, problematisch ist – anders ausgedrückt: Familie Hormann ist pleite.
Wie es dazu kommen konnte, zeigen zahlreiche Rückblenden auf. Man lernt hierbei die Großeltern beiderseits kennen, die im zweiten Weltkrieg verschiedene Positionen einnahmen. In der Nachkriegszeit wuchsen Marlene und Siegfried mit ihren jeweiligen Familien unter unterschiedlichen Umständen auf, ehe sie ein Paar wurden und ihre eigene Familie gründeten. Ich mochte es sehr gerne, wie die Rückblenden in die Geschichte eingeflochten wurden, denn Stück für Stück setzt sich dadurch beim Lesen das Gesamtbild der Hormanns zusammen. Somit kann man deren Verhaltensweisen und Entscheidungen, die sie als Erwachsene tätigten, besser einordnen und bewerten.
Wie die beiden mit ihren Finanzen umgehen, kann ich dennoch nicht gutheißen. Marlene und Siegfried lebten stets über ihren Verhältnissen und leisten sich auch nach ihrer Pleite Dinge, auf die sie nach meiner Meinung verzichten sollten. Ob sie den Ernst der Lage nicht wahrhaben wollen oder es ihnen schlichtweg egal ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Was sich aber festhalten lässt: Die Art, wie der Autor seine Figuren agieren lässt, empfinde ich als absolut authentisch. Auch der Handlungsverlauf an sich wirkte auf mich sehr lebensnah. Umso überraschter (und berührter) war ich, als ich im Nachwort erfahren habe, dass dem Roman tatsächlich die Familiengeschichte von Christian Schünemann zugrundliegt, wenn auch aus seiner subjektiven Erinnerung und mit geänderten Namen.
Eine unbedingte Leseempfehlung für „Bis die Sonne scheint“!

Bewertung vom 28.02.2025
Papas Tattoos
Schuff, Nicolas

Papas Tattoos


sehr gut

Ein fantasievolles Mädchen und ihr tätowierter Vater

Emilia wächst bei ihrem Vater auf. Der ist groß und trägt viele bunte Tätowierungen. Wenn er abends vor ihr einschläft, schaut sie sich gerne die Bilder auf seiner Haut an. In Emilias Fantasie erwachen die Motive zum Leben und bestreiten mit ihr einige Abenteuer.

„Papas Tattoos“ erzählt auf etwa 30 Seiten von Emilia und ihrem Vater. Mir gefällt, dass der Autor für seine Geschichte einen alleinerziehenden Vater gewählt hat und dadurch mit den klassischen Geschlechterrollen gebrochen wird. Gleichzeitig wird die Familiensituation nicht weiter ausgeführt, sondern ist eher im Hintergrund wahrnehmbar, sodass sie als etwas ganz Selbstverständliches behandelt wird.
Emilias Vater ist sehr auffällig dargestellt: Er trägt einen Vollbart, Irokesenschnitt und hat gepiercte Ohren. Sein Körper ist mit zahlreichen Tätowierungen verziert. Diese Tattoos regen Emilia abends zum Träumen an. In wenigen Sätzen erfährt man beispielsweise, wie sie sich ein Treffen mit dem Matrosen vorstellt und worüber sie in ihren Gedanken mit dem Totenkopf spricht. Mit der Pantherin wird dabei ein Tattoo, das für den Vater eine wichtige Bedeutung hat, besonders in den Fokus gerückt.
Die Beschreibungen bleiben insgesamt eher knapp, weshalb ich mir für die Geschichte mehr Tiefgang wünschen würde: Die Bedeutung der Motive wird beispielsweise nur für zwei genannt. Wofür stehen aber die übrigen Bilder, die im Buch aufgegriffen werden? Welche Abenteuer erlebt Emilia noch in ihren Träumen? Auch wenn ich persönlich mehr Text und weniger Leerstellen bevorzugen würde, bietet der Raum, den die Geschichte an der einen oder anderen Stelle lässt, viele Gesprächsanlässe. So kann man die Fantasie des eigenen Kindes anregen, Erklärungen zu den Tätowierungen zu finden und sich selbst Abenteuer mit ihnen auszudenken.
Die Illustrationen sind durchweg farbenfroh gestaltet. Sie passen gut zur Geschichte und sind in ihrem Stil sehr ansprechend.
Ein schönes Bilderbuch über ein fantasievolles Mädchen und ihren besonderen Vater.

Bewertung vom 13.02.2025
Flusslinien
Hagena, Katharina

Flusslinien


sehr gut

Eine lebensnahe Geschichte mit ruhiger Erzählstimme

Margrit lebt in einer Seniorenresidenz an der Elbe. Mit ihren über 100 Jahren hat sie ein bewegtes Leben hinter sich, wobei vor allem ihre Mutter und deren Bekanntschaften sie auch im hohen Alter noch beschäftigen. Täglich lässt sich Margrit von ihrem Fahrer Arthur in den Römischen Garten bringen. Dort findet sie die Ruhe, um sich auf all ihre Erinnerungen zurückzubesinnen.
Regelmäßig erhält Margrit Besuch von ihrer Enkeltochter Luzie. Die hat vor Kurzem die Schule abgebrochen und ist von einer für ihre Großmutter unergründlichen Wut erfüllt.
Dann gibt es da noch Arthur, der seit Kurzem als Fahrer in der Seniorenresidenz tätig ist. Arthur ist oft in Gedanken, denn nach einem tragischen Vorfall kämpft er noch immer mit Schuldgefühlen.

„Flusslinien“ nimmt uns mit nach Hamburg. Dank einer durchweg ruhigen Erzählstimme lernt man mit Margrit, Luzie und Arthur die Protagonisten des Romans kennen. Durch häufige Rückblenden taucht man tief in deren Leben ein. So erfährt man von ihren Ängsten, Sorgen und Nöten. Während Margrit ihre erste Lebenshälfte reflektiert und Erinnerungslücken zu schließen versucht, sind es im Fall von Luzie und Arthur kürzliche Geschehnisse, die ihr Leben bis in die Gegenwart prägen. Die beiden Jüngeren lernen allmählich, ihre Schicksalsschläge zu verarbeiten und loszulassen, haben aber in meinen Augen noch einen weiten Weg vor sich.
Alle Figuren sind nach meiner Meinung authentisch gezeichnet. Stellvertretend stehen sie jeweils für eine Generation, die eine eigene Sicht auf die Welt mit sich bringt und mit ihren eigenen Problemen fertig werden muss. Dabei klingen die Themen Altern, Schuld und Reue, die Verarbeitung von Traumata sowie die seelische Heilung genauso an wie Naturschutz und der Kampf gegen patriarchale Strukturen. Entsprechend durchlebt man mit Margrit, Luzie und Arthur eine Vielzahl von Emotionen, darunter Sanftheit und Güte, Trauer und Schuld sowie Zorn und Mut.
Obwohl ich die Erzählweise sehr mochte, hat mich die Geschichte zwischenzeitlich immer wieder verloren, da ich einzelne Passagen als zu langatmig empfand. Das Ende des Romans war in Teilen erwartbar. Da manches offenblieb, hat mich das Buch ein wenig unzufrieden zurückgelassen.

Bewertung vom 08.02.2025
Der Wolfspelz
Sharp, Sid

Der Wolfspelz


ausgezeichnet

Inhaltlich und künstlerisch wertvoll

Bellwidder Rückwelzer liebt den Wald. Gerne hört er den Vögeln zu, riecht an Blumen und sammelt Brombeeren. Eines Tages vernimmt er das Heulen von Wölfen. Bellwidder, seines Zeichens ein Schaf, bekommt große Angst, gefressen zu werden und traut sich fortan kaum mehr vor die Tür – bis er beim Nähen einen Einfall hat: Er fertigt sich einen Wolfspelz an und begibt sich damit unter die Wölfe des Waldes. Doch schon bald stellt Bellwidder fest, dass nicht alles ist, wie es scheint….

Die Illustratorin Sid Sharp stammt aus Kanada und hat mit „Der Wolfspelz“ ihr erstes Bilderbuch veröffentlicht. Dieses sticht durch seine Gestaltung unter anderen Kinderbüchern hervor, denn die Geschichte darin ist im Stil einer Graphic Novel verpackt. Kurze Sätze und viel wörtliche Rede in Sprechblasen machen den Text lebendig und regen Kinder zum eigenen Erlesen der Geschichte an. Sid Sharps Bilder zeichnen sich durch kräftige, oft dunkle Farben aus und wirken dadurch mitunter recht düster. Mit vielen Details gelingt es ihr jedoch, die schaurige Atmosphäre aufzulockern, sodass es ein Vergnügen ist, das Buch zu lesen und alle Darstellungen zu entdecken.
Auch inhaltlich hat die Geschichte einen großen Mehrwert zu bieten: Sie führt uns kindgerecht vor Augen, dass es unvernünftig ist, die eigene Persönlichkeit zu verbergen und sich seinen Mitmenschen gegenüber zu verstellen. Oft steckt, wie in Bellwidders Fall, Angst dahinter. Während das Schaf in Sorge davor ist, gefressen zu werden, ist es bei uns Menschen häufig die Angst vor Ablehnung, die zur Anpassung führt. Die Lösung scheint zunächst einfach: Man schneidert sich einen Anzug, der augenscheinlich Sicherheit bietet, am Ende aber doch nicht richtig passt. Das bedeutet in der Folge, sich ein Stück weit selbst aufzugeben und macht somit nicht dauerhaft glücklich. Bellwidder beispielsweise kann in seinem Wolfspelz weder die Vögel, die er so gerne mag, hören noch die duftenden Blumen riechen. Sein Lügenkonstrukt aufrechtzuerhalten, ist für das Tier in der Geschichte wie auch für uns Menschen zudem eine große Last – zumal keine noch so gute Maskerade ewig währt. „Der Wolfspelz“ zeigt uns, dass wahre Freundschaften nur dann entstehen können, wenn man sich seinen Mitmenschen gegenüber öffnet und ihnen vertraut.
Eine wichtige Botschaft, die in einer für mich neuen Art der Gestaltung vermittelt wird: Kein Wunder also, dass „Der Wolfspelz“ im letzten Jahr für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert war!

Bewertung vom 26.01.2025
Wackelkontakt
Haas, Wolf

Wackelkontakt


ausgezeichnet

Eine ebenso skurrile wie meisterhaft konstruierte Geschichte

Franz Escher hat einen Wackelkontakt. Die Steckdose in seiner Küche soll daher endlich repariert werden. Während er auf den Elektriker wartet, setzt er nicht nur ein Puzzle zusammen, sondern liest auch noch in einem Buch. Die Hauptfigur darin: Elio, der als Mafia-Kronzeuge in einem italienischen Gefängnis einsitzt.
Währenddessen liest der echte Elio in seiner Zelle ein Buch. Hierin wiederum geht es um einen gewissen Escher, der wegen einer defekten Steckdose auf das Klingeln des Elektrikers wartet…

Was in der Inhaltszusammenfassung nach einem skurrilen Zufall klingt, entpuppt sich bald als geschickt konstruiertes Meisterwerk: Mit „Wackelkontakt“ hat Wolf Haas einen Roman verfasst, der von Beginn an einen solchen Sog entwickelt, dass ich das Buch kaum mehr aus der Hand legen wollte. Darin lernen wir unter anderem Franz Escher kennen, dessen Name sicherlich an den niederländischen Illusionskünstler M. C. Escher angelehnt ist. Der Protagonist ist ein Sonderling durch und durch, er arbeitet als Trauerredner, liebt Puzzle, ist im Bereich der Kunst sehr bewandert und verhält sich bei sozialen Interaktionen oft befremdlich. Eine weitere wichtige Rolle in der Geschichte kommt außerdem Elio zu, der als Kronzeuge im Zeugenschutzprogramm ein rasantes Leben mit unvorhersehbaren Wendungen führt.
Beide Figuren sind Teil von zwei scheinbar getrennten Erzählsträngen. Lediglich das Buch, das sie über den jeweils anderen lesen, verbindet sie anfangs miteinander. Wolf Haas nutzt diesen Twist, um auf gelungene Art und Weise immer wieder Szenenwechsel herbeizuführen. Während des Lesens setzen sich die einzelnen Fragmente schließlich wie Puzzleteile Stück für Stück zu einem Gesamtbild zusammen: Escher, der die Geschichte seines Buches zunächst für fiktiv hält, erkennt nicht nur, dass diese real ist, sondern begreift sich irgendwann auch als Teil des Ganzen. Dies gibt Wolf Haas‘ Roman eine ganze neue Ebene. Der Autor spielt mit den Grenzen zwischen Realität und Fiktion und erzeugt damit wiederkehrend Illusionen.
Sehr gemocht habe ich neben dem raffinierten Aufbau der Geschichte auch den Schreibstil. Haas‘ Sprachwitz hat mich gut unterhalten und dazu beigetragen, dass ich das Buch als sehr kurzweilig empfunden habe.
Kennt man M. C. Eschers Figuren, die auf optischen Täuschungen basieren und daher unmöglich sind, so wirkt „Wackelkontakt“ wie das literarische Pendant dazu – gleichermaßen bizarr und gerade deshalb absolut faszinierend!

Bewertung vom 25.01.2025
9 kleine Menschen
Feldmann, Regina

9 kleine Menschen


sehr gut

Die Vielfalt der Menschen in Kinderreimen

Regina Feldmann stellt uns in „9 kleine Menschen“ zusammen mit Martina Stuhlberger neun Kinder vor, die wir von der Geburt an in ihren ersten Lebensjahren begleiten. Dabei können wir in Bild und Text die Entwicklung der Mädchen und Jungen verfolgen und sehen, wie sie zu guten Freunden zusammenwachsen.

„9 kleine Menschen“ wurde, wie wir im Nachwort erfahren, durch das bekannte Kinderlied „10 kleine …“ inspiriert. Regina Feldmann schreibt dazu, dass dieser Fingerabzählreim heute vor allem negative Erinnerungen in ihr weckt, da er einerseits schwarze und indigene Menschen diskriminiert, andererseits auch Kinder mit besonderen Merkmalen nicht mitdenkt. Es war ihr daher ein wichtiges Anliegen, eine neue Version zu schaffen, die alle Kinder inkludiert. In Kombination mit den Zeichnungen von Martina Stuhlberger ist ihr das in meinen Augen mit diesem Buch gelungen.
Auf insgesamt 40 Seiten kann man Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft entdecken: Wir sehen verschiedene Hautfarben, Haarfarben, Haarstrukturen usw. Bei näherer Betrachtung verbirgt sich in den Bildern aber noch viel mehr: Die Kinder leben nämlich in unterschiedlichen Familienmodellen, darunter Familien mit Mutter und Vater ebenso wie alleinerziehende Mütter, Familien mit nur einem sowie solche mit mehreren Kindern. Darüber hinaus finden auch Mädchen und Jungen mit körperlichen Beeinträchtigungen wie einem amputierten Körperteil oder einer Sehschwäche/Blindheit Eingang in die Geschichte. Kurzum: Diversität wird in diesem Bilderbuch großgeschrieben, was mir ausgesprochen gut gefällt.
Der von Regina Feldmann verfasste Text ist in kurzen Sätzen formuliert und wartet mit Reimen auf, sodass er zum Nachsprechen anregt. Die Illustrationen zeichnen sich durch eine besondere Farbgebung in Orange-, Grün- und Fliedertönen aus, was sie sehr modern wirken lässt. Obwohl von Verlagsseite ein Alter von vier Jahren angegeben ist, halte ich das Buch auch schon für zwei- bis dreijährige Kinder für geeignet.
„9 kleine Menschen“ ist eine zeitgemäße Version eines längst überholten Abzählreimes, die die Vielfalt der Menschen hochleben lässt. Indem sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede anklingen, vermittelt das Buch Toleranz und lehrt uns, dass Freundschaften über alle Grenzen hinweg möglich sind.