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rockchickdeluxe

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Insgesamt 34 Bewertungen
Bewertung vom 02.12.2025
Nacht der Ruinen
Rademacher, Cay

Nacht der Ruinen


ausgezeichnet

Dichter Nebel wabert über den Ruinen von Köln, klirrend scharf schneidet das Sonnenlicht durch den Dunst. Der Romantiker, der Beobachter, der Amerikaner sieht, riecht und fühlt das zerbombte Köln, die Ruinen, die Stahltrosse und Trümmerhaufen. Er bahnt sich seinen Weg durch die Zerstörung, taucht ein mit allen Sinnen. Und trotz der Ruinen funkelt immer wieder die unbändige Schönheit des Lichts und der Hoffnung über dieser Stadt. Denn es ist seine Stadt.

1938 immigrierte der Jude Joseph Salomon mit seinen Eltern nach Amerika, um jetzt, im März 1945, als amerikanischer Soldat mit dem Spezialauftrag, einen Mord aufzuklären, nach Köln zurückzukehren.

Wenn Dialoge im Sprachduktus der 1950er-Jahre durch das Zwielicht der Ruinen hallen, dann trägt dies
maßgeblich zur dichten Atmosphäre des Thrillers bei. Es ist eine Freude, dem Verbrechen gemeinsam mit George Orwell, Irmgard Keun und Hermann Claasen an der Seite von Joe Salmon auf die Spur zu kommen. Hier verschmilzt Fiktion und Historie besonders eindrucksvoll.

Doch nicht nur die Lösung des Falls ist tief in den Trümmern vergraben, auch die Vergangenheit des Zurückgekehrten. Auf dem Weg zur Lösung muss er auch in der eigenen Geschichte graben und sich den Geistern der Vergangenheit stellen. Dem Freund, der in Köln zurückgeblieben ist und der Frau, die er liebte.

Was für ein sympathischer Protagonist! Verletzlich, niemals überlegen, emotional und loyal bis zum Äußersten. Ein Antiheld, der so menschlich agiert, dass all seine Aktionen und Gedanken nachvollziehbar sind. Es ist seine Zerrissenheit, die Handlung seine Wege offenhält und eine Entscheidung nicht unbedingt vorhersehbar macht.

In sprachlich wunderbaren Bildern zeichnet Cay Rademacher die Wege seiner Figuren, die alle nahbar, humorvoll und sehr lebendig angelegt sind. Dem außergewöhlichen Erzähler gelingt ein poetischer Thriller, der brillant die historische Zeit kurz vor Kriegsende mit einem spannenden Kriminalfall verknüpft. Das gibt historische Einblicke in ein finsteres Zeitalter und erzählt ungewöhnlich frei von menschlichen Beweggründen in furchtbaren Zeiten.

Was für ein großartiger Roman!

Bewertung vom 01.12.2025
Am Semmering
Paar, Tanja

Am Semmering


ausgezeichnet

Kommen Sie an den Semmering! Gönnen Sie sich im Sporthotel am Semmering eine luxuriöse Auszeit von der Hektik Wiens und tauchen Sie ein in die Freuden exquisiter Kulinarik, herrlicher Landschaft, Wellness und fantastischer Sportmöglichkeiten in einem der beliebtesten Luftkurorte Österreichs.

Bis heute ist der Semmering bei Wien ein Luftkurort für die Wohlhabenden. Tanja Paar aber nimmt uns mit in die Parallelwelt der einfachen Leute. Klara und Bertl leben nicht in der mondänen Welt der Luxushotels, auch wenn Klara immer mal wieder einen Blick in Richtung Bürgertum wirft. Sie leben in der Gartenwohnung des Bahnwärterhäuschens, denn Karl hat sich vom einfachen Bahnarbeiter zum Fahrdienstleiter hochgearbeitet.

Gemeinsam mit Klaras bester Freundin Rahel, einer jüdisch-orthodoxe Witwe mit drei Kindern, Fritz, einem Ex-Baron, der sich auf die Seite der Roten schlägt und Szabo, Lebemann, Pianist und Hotelverwalter bilden Klara und Bertl ein fünfblättriges Freundschaftskleeblatt, das das Beste aus dem Leben herausholt.

Der Semmering wirkt wie ein Kokon, in den erst nach und nach die Zeitgeschichte Einzug hält, die Tanja Paar gekonnt mit der Familiengeschichte verwebt.

Die Erzählung beginnt 1928 und reicht bis 1945. Die Bürgerkriegskämpfe 1934 sind Thema, die illegalen Nazis während der Ständediktatur, der Anschluss Österreichs ebenso wie die Kämpfe zwischen Wehrmacht und Roter Armee 1945. So entsteht ein multidimensionales Bild aus Familiengeschichte, Existenzsorgen und Historie Österreichs.

Wunderbar wird der Roman vom authentischen Klang der Sprache getragen, stilsicher nachempfunden und zum Leben erweckt. Die Sprachmelodie trägt wunderbar durch den Alltag, die kleinen Sorgen und die großen Umbrüche.

Tanja Paar zeichnet ein persönliches, wortgewandtes und eindringliches Portrait von Menschen, die keine Held*innen waren und dennoch unweigerlich politisiert wurden. Die Großeltern der Autorin lieferten mit ihrer eigenen Geschichte die Inspiration zu diesem außergewöhnlichen Erzählprojekt, denn der Großvater war Eisenbahner und lebte mit seiner Frau ebenfalls am Semmering. Wieder einmal zeigt sich anschaulich, wie die politische Geschichte ins Private eindringt. Ein absolut lesenswerter Roman, der mit leisen, humorvollen und klangvollen Tönen die Schrecken und Freuden der Zeit einfängt.

Bewertung vom 26.11.2025
Liaisons
Robert, Céline

Liaisons


ausgezeichnet

Vorhang auf und wir sind mitten drin in der ersten Szene einer säuerlichen und Liebeskomödie. Der Roman wird erzählt von fünf Stimmen, teils unwissentlich verwoben durch ein Geflecht aus Begierde, Machtverhältnissen, Befreiungsversuchen, Abhängigkeiten.

Lauren ist 41, verheiratet, hat einen angesehenen Beruf, lebt ohne Dramen. Sie legt sich einen Liebhaber zu, ihren Kollegen Maxime. Er ist schön, leicht beschränkt und völlig verunsichert von der Tatsache, dass Lauren nicht seinem Klischee der bedürftigen Maitresse entspricht. Sie bestimmt die Regeln und nimmt sich, was sie will. Das geht doch so nicht? Maxime ist verheiratet mit Nadia.

Nach einem Burnout versucht sie, der Schublade zu entkommen, in der sie das bourgeoisen Rollenverständnis gefangen hält. Entfremdet von ihrem Ehemann und sichtlich erschöpft kämpft sie um Selbstbehauptung und sucht das Loslassen in der Ekstase der Nacht. Gemeinsam mit ihrem Kindermädchen Emma.

Emma ist Studentin, klug, engagiert und sich ihrer verführerischen Jugend in eine, begehrenswerten Körpers sehr bewusst. Sie lebt das dionysische Prinzip und umgarnt ihren Professor Jean. Jean ist verheiratet mit Lauren und leidet unter der Entfremdung zu Lauren.

Zwischen den alltäglichen Dingen des Lebens entfaltet sich ein Spiel um menschliche Verletzlichkeit, das Wechselspiel zwischen dem Drang nach Freiheit und den Preis, den es dafür zu zahlen gilt und die Ambivalenz der Liebe.

Was bedeutet es, die Kontrolle zu verlieren? Für das eigene Leben, die Glaubenssätze, die Beziehung?

Sprachlich hinreißend pointiert und scharfzüngig führt der Debütroman von Céline Robert in einen erotischen Kosmos aus Wünschen, mühsam aufrecht erhaltenen Fassaden und Begehren. Die Grenzen zwischen Erotik und Sehnsucht nach Nähe verschwimmen ebenso wie die traditionellen Parameter für Anstand und Moral.

Ein wahres Lesevergnügen in einer hervorragenden Übersetzung, die den sprachlichen Witz gekonnt einfängt.

Herrlich kurzweilig, ideal zum Verschenken und absolut erfrischend. Eine uneingeschränkte Empfehlung!

Diese Autorin wird sich sicherlich innerhalb kürzester Zeit einen Namen machen.

Bewertung vom 24.11.2025
Hier draußen
Behm, Martina

Hier draußen


ausgezeichnet

Der Traum vom Leben auf dem Land. Kein Lärm, die Kinder können sich frei bewegen, Bio-Lebensmittel und viel Zeit für die Familie. Zurück zur Natur. Die Ablenkungen bleiben in Hamburg. Das Grundstück liegt nicht weit vom See entfernt, es ist so schön in Schleswig-Holstein, im Land zwischen den Meeren. Der Blick geht weit und die Luft ist klar.

Martina Behm schafft in Hier draußen eine wunderbare Persiflage auf das Ideal vom Resthof und dem Glück auf dem Dorf. Sie bevölkert Fehrdorf mit eigenwilligen, liebenswerten, engstirnigen hoffnungsvollen, warmherzigen und kantigen Charakteren. Sie alle haben ihre Sorgen, ihre Träume, ihre Resignation, ihre sehr eigenen Lebens- und zarten Liebesgeschichten.

In diese Dorfgemeinschaft hinein geraten Lara und Ingo, die mit ihrer festgefahrenen Ehe, zwei Kindern und einem Knall in ihrer Mitte landen.

Der Roman beginnt mit einem Autounfall. Ingo ist auf dem Heimweg aus Hamburg und überfährt eine weiße Hirschkuh. Ingo ruft den Jäger Uwe aus dem Dorf, doch der ist abergläubisch und weigert sich, die HIrschkuh alleine zu erschießen. Denn wer einen weißen Hirsch tötet, der wird selbst innerhalb des kommenden Jahres tot sein. Ist das wahr? Beide schliddern in das neue Leben, das sie sich so ganz anders vorgestellt haben.

Warmherzig, ironisch und voller Liebe zum Detail entspinnt Martina Behm eine Dorfgemeinschaft voller Individuen. Lara und Ingo finden und bringen Veränderung, so wie jedes Gefüge sich verschiebt, wenn etwas in Bewegung gerät. Die eingefahrenen Rollen und die alten Traditionen werden dann doch noch ganz leise hinterfragt, und wer weiß, was sich alles entwickelt, wenn sich mit dem Wohnort auch die Haltung ändert. Alles ist möglich.

Die Stimmen der Zugereisten wechseln mit den alteingesessenen Dorfbewohner*innen, den Landwirten, den Viehzüchtern. Grandios trifft Martina Behm den norddeutschen Ton. Ich war sofort zu Hause in Fehrdorf. Vermutlich ist es nur ein Dorf weiter.

Die verschiedenen Perspektiven machen diesen Roman so lesenswert. Ich bin so tief eingetaucht ins Dorfleben, dass es mir, als ich wieder auftauchte, seltsam vorkam, dass Fehrdorf fiktiv sein soll. Ich ziehe meinen Hut!

Eine absolute Leseempfehlung für alle, die Lust auf Geschichten, Humor und lebendige Charaktere haben, die schnell ans Herz wachsen.

Bewertung vom 16.11.2025
Frauen am Bauhaus Dessau
Hörner, Unda

Frauen am Bauhaus Dessau


ausgezeichnet

Vor 100 Jahren, 1925, zog das Bauhaus von Weimar nach Dessau. Die Frauen der Bauhausmeister sollten den neuen Standort maßgeblich prägen, sie fanden ein neues Selbstverständnis im Schnellzug der Avantgarde, der verstaubte Frauenbilder einfach zurückließ.

Wie viele Avantgarde-Bewegungen war das Bauhaus patriarchalisch organisiert. Wie groß die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit sich angefühlt haben muss!

Wo Männer im Rampenlicht standen, waren Frauen oft dazu verdammt, im Verborgenen zu wirken.
Die Architektur des Bauhauses lässt sich in diesem Fall also auch metaphorisch lesen. Die Frau bleibt hinter den Wänden in einem gut funktionierenden Haushalt verborgen, die Männer strahlen in der Öffentlichkeit und ziehen, genau wie die neue Architektur, die Blicke auf sich.

Die Ideen von Revolution und Reform blieben also häufig hinter der Regierenden Realität zurück. Das Bauhaus revolutionierte das Denken über Kunst, sowie die Ästhetik selbst. Unter dem Dach der Architektur fanden alle Künste zu einer Symbiose, die die Wahrnehmung von Kunst grundlegend veränderte.

Nach aussen zeigte die Architektur die klaren Strukturen im markanten Design, innen sollte die Kunst das alltägliche Leben erheben und erleichtern. Dieses Verhältnis von innen und aussen spricht Bände. Um die Männer herrschte ein Meisterkult, die Frauen hatten keinen offiziellen Status, sahen sich mit Ablehnung und überholten Rollenbildern konfrontiert. Sie wurden kollektiv in die Textilklassen verbannt.

Wunderbar eindrücklich webt Unda Hörner die Lebensfäden der Bauhausfrauen ineinander. Ihre Mitarbeit, ihre Texte und ihre Fotos wurden oft weder gekennzeichnet noch respektiert, und doch leisteten sie Großes. Ise Gropius übernahm Führungen und Veranstaltungen an der Schule, organisierte Konzerte und sorgte für einen regen Austausch. Lucia Moholy-Nagy und Gertrud Arndt wurden anerkannte Fotografinnen, Anni Albers und Gunta Stölzl wurden Bauhaus-Meisterinnen und weltbekannte Textilkünstlerinnen.

Mit Zielstrebigkeit und Disziplin behauptete Lilly Reich ihren Platz in der von überholten Stereotypen geprägten Bauhaus-Welt. Sie kämpft mit dem Gegenwind der konservativen Gesellschaft, in der starke Frauen anecken.

Herrlich anschaulich im Wechsel von Zeitgeschichte und Biografie beschreibt Unda Hörner den Anteil der Meister-Frauen am Bauhaus als dem leuchtenden Stern am Avantgarde-Himmel. Gleichzeitig erzählt sie von selbstbewussten Individuen, die ihren Platz in der Kunst und in der Gesellschaft behaupteten und das Erbe ihrer berühmten Gatten verwalteten oder vor den Vernichtung retteten.

Frauen am Bauhaus Dessau ist ein weitreichender Einblick in einen bedeutenden Abschnitt der Kunstgeschichte und erzählt mit großer Kraft von mutigen Frauen, die sich ihr Recht auf Freiheit erkämpften, eine neue Art des Sehens schufen und und bis heute unvergessene Vorbilder sind.

Bewertung vom 10.11.2025
Merry Crisis - ein fast besinnliches Weihnachtsfest
Mell, Eli

Merry Crisis - ein fast besinnliches Weihnachtsfest


ausgezeichnet

Chaosmanagement in 24 Kapiteln

Am 23. Dezember macht sich Olivia auf, um Weihnachten mit ihrer Familie zu feiern. Wie jedes Jahr. Und wie jedes Jahr zieht die gesamte Familie für 5 Tage in das Elternhaus. Anstrengend ist gar kein Ausdruck.
Schon die Anreise entpuppt sich als mittlere Katastrophe. Erst dem Uber-Fahrer und dann einer Bowling-Truppe im Zug ausgeliefert, kommt sie mit angegriffenem Nervenkostüm zu Hause an.

Sofort hat die Familiendynamik sie wieder, und Olivia aktiviert ihr Weihnachtsgesicht, mit dessen Hilfe sich so manche Situation überstehen lässt. Der Bruder bringt die neue Freundin mit, ein neuer Onkel bereichert das Gefüge, die altbekannte Dynamik nimmt ihren Lauf.

Eli Mell nimmt in ihrem Debütroman Weihnachten mit der Familie aufs Korn und erschafft eine Protagonistin, die entschieden hat, dass Weihnachten am besten zu ertragen ist, wenn man sich selbst in den kritischen Situationen von außen betrachtet.

Zwischen den jährlichen Ritualen und vielen unplanbaren Situationen, die sich durch eine interessant komponierte Familienzusammensetzung ergeben, erlebt sie die Feiertage, die zwar in ihrer Absurdität überspitzt sind, aber dennoch Reminiszenzen an viele Weihnachtsfeste im Familienkreis hervorrufen dürften.

Es gibt Aqua Aerobic mit der Ömi, Ausdruckstanz und Plätzchenschlachten, Weihnachtsbaumkämpfe, Triggersituationen, Tränen und über allem die Liebe der Menschen, denen Olivia viel bedeutet, die es aber nicht immer gut zeigen können.

Der Stil des Romans ist interessant. Eloquent und bildreich, derbe-schnoddrig und in der harschen, ironischen Distanziertheit fast schon masochistisch. Doch immer dann, wenn der ironische Ton einmal beiseite geschoben wird, kommt dahinter eine verletzliche Protagonistin zum Vorschein, die ihren Platz im Leben und der Familie sucht.

Eli Mells Debüt ist ganz sicher kein cosy X-mas-Escape, vielmehr ein rasantes Rauschen durch das Fest der Liebe. Ich hatte das Vergnügen, zu hören, wie Eli Mell Ausschnitte ihres Romans selbst vorliest. Die professionelle und facettenreiche Sprecherin, deren Stimme ich die ganze Zeit im Kopf hatte, machte den Weihnachtsurlaub zu einem reinen Fest. Das Hörbuch wird ganz sicher brillant.

Merry Crisis ist vielschichtig, fröhlich, tiefsinnig, witzig und vor allem brillant geschrieben. Der Roman wird ein großes Publikum finden. Denn alle, die sich fragen, ob es Weihnachten eigentlich nur ihnen so geht, dass sie nicht wissen, wie sie die Festtage überstehen sollen, haben hier eine die Antwort: Du bist nicht allein. Frohe Weihnachten!

Bewertung vom 04.11.2025
Wenn die Sonne untergeht
Illies, Florian

Wenn die Sonne untergeht


ausgezeichnet

Sanary-sur-Mer ist 1933 ein beschaulicher Fischerort und wird mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten der Zufluchtsort für deutsche Literaten und andere Größen der Kultur. Der französische Fischerort ist so schön wie das Paradies.

Als Thomas Mann im Frühjahr zu einer dreiwöchigen Vortrags- und Lesereise aufbricht, wird er nicht nach München zurückkommen, sondern nach einigen Zwischenstationen ebenfalls in Sanary landen. Einen heissen Sommer lang residiert er hier inmitten der Exil-Literaten.

Florian Illies gelingt auf seine ihm unnachahmliche poetische und dokumentarischen Art ein komplexes Portrait der Manns. Aus allen Blickwinkeln betrachtet er die delikaten Beziehungsgeflechte der Großfamilie um Thomas und Katia Mann, ihre sechs Kinder, sowie Heinrich und seine Freundin Nelly, um die sich in diesem Sommer noch zahlreiche weitere Bezugspersonen gruppieren.

Wenn die Sonne untergeht, dann suchen die Vertriebenen Zuflucht, einige in der malerischen Schönheit und Wärme Frankreichs, andere in Drogenexzessen, die nächsten im Schreiben. Der Text gründet auf den Tagebüchern und Memoiren aller Anwesenden und erzählt lebendig und feinfühlig von den Dramen, Sorgen, Ängsten und Nöten, den kleinen Freuden und den inneren und äußeren Fluchten.

Wir erleben gemeinsam mit dem “Zauberer” noch einmal den Sommer, in dem er ins Paradies vertrieben wurde, heimatlos, gequält, zerrissen und doch immer auf seinen Ruf und seinen Ruhm bedacht.

Wenn die Sonne untergeht ist die Geschichte von einer großen Schriftstellerfamilie, in der eine zerstörerische Dynamik an den Nerven zerrt, direkt aus München mit ins Exil gebracht und nirgendwo so plastisch greifbar wie zu den gemeinsamen Mahlzeiten.

Florian Illies nimmt die Tagebucheinträge und führt ihre Sprache fort, sodass sich die Figuren aus den Seiten erheben. Er erzählt, wie die Kinder alles dafür taten, das Vermögen und die Tagebücher des (Über-)Vaters zu retten und um seine Anerkennung ringen.

Im Wechsel zwischen Ironie, Nachdenklichkeit und der Ahnung eines drohenden Abgrunds, liegt der Reiz dieses Buches. Detailreich und ganz nah an den Figuren wählt Illies gekonnt ein kleines Zeitfenster für den Blick hinter Kulissen der Familie Mann. Neben den existenziellen Sorgen, die das Exil mit sich bringt, erhalten wir einen tiefen Einblick in die widersprüchlichen Gefühle aller, die diesen Sommer lebendig werden lassen. Thomas Mann ist der Bezugspunkt und die Reflektionsfläche, der Planet um den sie alle kreisen. Die Unsicherheit des Vaters lässt Erika und Klaus stark werden, seine mangelnde Fähigkeit, sich zum Exil zu bekennen, hält die gesamte Familie in einem Schwebezustand.

Es passiert so wenig und doch so viel. Wir tauchen ein in einen kleinen Kosmos, um knappe 300 Seiten später berührt und zahlreichen neuen Anekdoten um den großen Literaten wieder aufzutauchen. Ein großer Wurf.

Bewertung vom 03.11.2025
Die Gipfelstürmerin
Günther, Andrea

Die Gipfelstürmerin


ausgezeichnet

Lucy ist 20 und will auf Berge steigen. Denn nur in den Bergen fühlt sie sich frei. Aber alles sprach gegen sie.

Heute ist Bergwandern und Bergsteigen für unzählige Menschen zugänglich. 1858 war das anders. Da begann gerade das Zeitalter des glorreichen Alpinismus. Die Ausrüstung war rudimentär, ohne Bergführer war der Sport unmöglich.

Als Tochter einer reichen englischen Kaufmannsfamilie ist sie zwar mit Wohlstand, Bildung und Erziehung gesegnet, doch nirgendwo fühlt sie sich gefangener und geknebelter als an dem ihr zugedachten Platz in der englischen Gesellschaft. Das Herrenhaus, die geordneten Bahnen, die Erwartungen und die vorgezeichneten Wege lasten schwer auf der freien Seele und dem unabhängigen Geist.

Sie braucht die Bewegung, die Bergluft und das Unbekannte, das in ihr ein Feuer entfacht, für das sie sich gegen alle Widerstände stemmt.

Für Frauen im 19. Jahrhundert war der Bergsport nahezu unmöglich. Doch entgegen aller Widerstände hat Lucy Gletscher überquert, Gipfel erklommen, ist ihren Träumen gefolgt. Diese Freiheit war trotz der materiellen Sicherheit und der Unterstützung der Familie hart erkämpft. Es war eine Zeit, die bergsteigende Frauen als anmassend bis verdorben empfand. Und so handelte sie gegen alle Erwartungen, gegen alle Engstirnigkeit und machte das Unvorstellbare vorstellbar.

In 21 Jahren besteigt Lucy Walker zahlreiche Gipfel. Zuhause ist sie eine zauberhafte Gastgeberin und charmante Gesellschafterin, doch gleichzeitig einem Extremsport nachzugehen, das widersprach allen Konventionen. Denn Frauen tun so etwas nicht.

Andrea Günther nimmt uns mit in die gegensätzlichen Welten der englischen Gesellschaft und der Schweizer Berge und findet dafür einen so lebendigen und unwiderstehlichen Ton, dass ich das Gefühl hatte, mit dabei zu sein. Authentische Bergerlebnisse wechseln mit empathischen Einblicken in die Gedanken der Protagonistin. Alle Nebenfiguren sind fein ausgearbeitet und bevölkern ein Buch, das lange nachhallt. Was für eine Frau! Eine Pionierin! So stark, so liebenswert und so klug inmitten der abgrundtiefen Ungerechtigkeit ihres Zeitalters.

Bemerkenswert ist neben den Geschlechterrollen natürlich auch die Tatsache, dass Lucy Kleider trug, Haut durfte sie niemals zeigen. In den schweren Stiefeln steckten mehrere Paar Socken, Blasen hatte sie ständig. Zu allem Überfluss plagt sie Rheuma im linken Gelenk, doch nichts hielt sie auf.

Lucy Walker gelang am 21. Juli 1864 die Erstbesteigung des Balmhorns. Im Jahr 1866 bestieg sie als erste Frau das Wetterhorn und 1869 den Piz Bernina. 1871 stand sie als erste Frau auf dem Gipfel des Matterhorns.

Die Gipfelstürmerin ist mehr als ein historischer Roman. Es ist ein Zeugnis von Mut und dem unbedingten Willen, für sich selbst einzustehen. Es ist eine Ode an die Freiheit und eine Absage an von Männern erstellte Regeln, die Frauen in Rollen zwingen, bis sie dahinter nahezu vollständig verschwinden.

Ein uneingeschränkt lesenswertes Buch, das ich mit voller Begeisterung empfehle und kaum aus der Hand legen konnte!

Bewertung vom 28.10.2025
Weiche Butter, raue Hände
Gubert, Francesco

Weiche Butter, raue Hände


sehr gut

Abenteuer Alm

Aussteigen, ausbrechen, neu orientieren. Nach dem eintönigen Job in Meetings raus in die Natur. Mit den Händen arbeiten.

All das verspricht der Sommer auf der Alm. Und auch ich versprach mir das im Sommer 2013, als ich eine Saison auf einem Biobauernhof in Norddeutschland mitarbeite und Käse machte. Die Sonne nur durchs Fenster sehen, die Hände voller Ausschlag von der Lage, aufgeweicht Fingernägel und Arme wie Blei. Der Lohn: Käse voller Aroma und Charakter.

Kein Wunder also, dass mich Weiche Butter, raue Hände sofort anzog. Es ist das Tagebuch einer Almsaison, schonungslos, ehrlich, emotional und zutiefst menschlich.

Der junge Autor sieht sich mit sich selbst und dem eigenen Anspruch an Perfektionismus konfrontiert. Er hat ein Versprechen gegeben und will es halten. Das glorifizierte Glück vom Leben auf der Alm ist aus der Perspektive desjenigen erzählt, der die Welt der Senner von aussen betrachten kann.

Das Tagebuch ist ein kritischer Blick auf sich selbst, die eigene Fähigkeit, Entscheidung zu treffen und dringt sowohl zu den eigenen Dämonen vor als auch zur Schilderung absonderlicher Arbeitsumstände.

Der Perfektionist, der sich selbst diese Aufgabe gestellt hat, droht daran zu zerbrechen, sie zu erfüllen. Emotionen sind in der harten Welt der Almwirtschaft unerwünscht. Er reflektiert über die vielfältigen Empfindungen, die guten und die unangenehmen, alles ist dabei. Im Laufe der Wochen nimmt die Dünnhäutigkeit zu, auch die schwelende Uneinigkeit im Team lässt sich nicht länger ignorieren.

Am Ende muss Francesco eine Entscheidung treffen. Selbstständig. Und das gelingt ihm ganz hervorragend.

Dieses kleine Büchlein vereint Erlebnisbericht, Einblicke in Machtstrukturen, das wortkarge Leben in den arbeitsreichen Bergregionen, eine identitätsstiftende Erfahrung und gibt einen tiefen Einblick in das Wesen der Menschen, die ihren Ort nie verlassen. Was tun wir, die wir gewohnt sind, Probleme mit Worten zu lösen, wenn wir damit an unsere Grenzen stossen?

Weiche Butter, raue Hände ist hart, authentisch und lesenswert, warmherzig und ehrlich. Es erzählt ein wichtiges Stück Südtirol und strahlt trotzdem weit über die Grenzen hinaus.

Wer die Bergsommer liebt, gerne in den Bergen wandert und begeistert für eine Brotzeit die Alm ansteuert, hat hier einen passenden Wegbegleiter. Kehrt ein auf der Alm, lehnt euch zurück und lest dieses Buch.

Bewertung vom 27.10.2025
Staying Alive
Klug, Gereon

Staying Alive


ausgezeichnet

Staying Alive ist eine Hommage an die großen Held*innen unserer Zeit. Das Entsetzen über die Lücke, die ihr Tod hinterlässt, ist so groß, wie ihr Dasein für uns selbstverständlich war.
Sie sind Freund*innen, Konstanten und Bezugspunkte für uns Kinder der Popkultur.

Weil es sie gab, hatten wir Idole, sagenhafte Ideen, Visionen von dem, was wir erreichen können oder wer wir sein wollen und vor allem generationenübergreifend Bezugspunkte, die unser kulturelles Gedächtnis maßgeblich geformt haben.

Mehr noch, die Ikonen, die in diesem Buch versammelt sind, sind Teil unseres kulturellen Gedächtnisses.

In anbetungswürdigen Schwarz-weiß-Illustrationen huldigt Alex Solman diesen einflussreichen Menschen aus Kunst, Musik, Politik, Film, Literatur, Fernsehen und Kultur. Mal in feinen Linien, mal in bildfüllenden grafischen Explosionen, erweckt er durch die Akzentuierung weniger charakteristischer Merkmale diese großen und kleinen Ikonen zum Leben. Oft begleitet von amüsanten und klugen kurzen Texten von Gereon Klug.

Das Vorwort stammt von der schillernden Sara Lorenz @buchischnubbel - überschäumend, persönlich und spinnwebfein. Wie passend und schön.

Aus jedem einzelnen Portrait spricht eine fast irrationale Menge Gefühl, changierend zwischen Trauer über den Verlust und Freude über die Bereicherung ihres Schaffens.

So heißt es zurecht, dieses Buch feiert nicht den Tod, sondern das Leben. Wir hatten das große Glück, zeitgleich mit diesen inspirierenden Menschen über die Erde zu wandeln. Sie alle werden auf diesen Seiten wieder lebendig. Jan Fedder, Tina Turner, Birol Ünel, Klaus Wagenbach, Donald Sutherland, Wiglaf Droste und viele, viele mehr.

Dieses Buch lädt ein, alte Freund*innen zu treffen, neue große Köpfe kennenzulernen, von deren Existenz bisher nichts wussten, es immer wieder in die Hand zu nehmen und sich zu freuen und inspirieren zu lassen. Über Helden, die Kultur, die Subkultur und das Leben.

Ideal für alle Lebenslagen, für den Urlaub, für die Mittagspause und als grandioses (Weihnachts-)geschenk, das Stoff für jede Menge Gespräche und Anekdoten liefert.