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nessabo

Bewertungen

Insgesamt 166 Bewertungen
Bewertung vom 22.07.2025
Blaue Tage
Beek, Tatjana von der

Blaue Tage


sehr gut

Ein fein beobachteter, stiller Roman über Selbstfindung - mit all ihrem Schmerzhaften und Schönen

Als ich gelesen habe, dass es bei „Blaue Tage“ eine queere Storyline gibt, war ich sehr vorfreudig auf den Roman. Und er hat mich mit seiner stillen Beobachtungsgabe auch überzeugt, obwohl vielleicht besser vor der Lektüre klar sein sollte, dass es sich hier nicht um ein dramagetriebenes Werk handelt.

In diesem Kammerspiel befinden sich die beiden Schwestern Leo und Emma zusammen mit ihren Partnern und ihrem Vater 10 Tage lang auf einem Katamaran (ja, ich musste googeln, wie so etwas aussieht). Während der Vater in den vergangenen zwei Jahren eher mit Abwesenheit glänzte und die Beziehung zu seinen Töchtern entsprechend auf wackeligen Beinen steht, haben Leo und Emma ganz andere private Hürden, die sich zudem gegenseitig verstärken. Emma möchte nämlich unbedingt ein Kind mit Onur, doch scheint es nicht zu klappen. Karl wiederum möchte ein Kind mit Leo, deren innere Entwicklung wir als Lesende direkt miterleben dürfen.

Es kracht nicht in diesem Roman, die Konflikte sind unterschwellig, werden jedoch zeitnah adressiert. Gerade auch das Innenleben des Vaters hat mich überzeugt. Wer großes Familiendrama sucht, wird hier nicht fündig. Stattdessen beobachtet der Roman sehr fein die Dynamiken innerhalb von Familien und Beziehungen. Das macht ihn eher leise und das Lesen vielleicht etwas langsamer, doch eben auch sehr lebensnah.

Leo empfand ich als eine so unglaublich authentische Figur in ihren Reflexionen zur Kinderfrage und der eigenen Sexualität. Dank so mancher popkulturellen Referenz könnten wir nämlich denken, dass ein inneres Coming-Out mit einem großen Knall passiert, dabei ist es oft so viel subtiler und auch durchaus von ambivalenten Gefühlen begleitet. Auch die eigene Entscheidung zu Kindern, insbesondere eine gegen sie, wird wohl in den seltensten Fällen leichtfertig gefällt. Ich habe Leos Emotionen regelrecht greifen können und denke, dass der Roman gerade auch für Late Bloomers richtig heilsam sein kann.

Was mich beim Lesen etwas angestrengt hat, waren die Fachbegriffe zu Booten und zum Segeln. Ein kleines Glossar am Ende hätte mir hier gut gefallen, da es schon recht viel Raum einnimmt. Außerdem lebt die Geschichte durchaus relevant von ihren Leerstellen, die wir entweder selbst füllen oder akzeptieren müssen. Und nicht zuletzt hätte ich die Skipperin Alex gern noch etwas vielschichtiger kennengelernt - aber sie gehört natürlich auch nicht zur zentralen Familie, wenngleich sie auch eine enorm wichtige Rolle spielt.

Abgesehen davon ist „Blaue Tage“ ein sensibler, kurzer Roman über das Finden des eigenen Weges fern von gesellschaftlichen Normen und Erwartungen.

Bewertung vom 22.07.2025
Single Mom Supper Club (MP3-Download)
Nandi, Jacinta

Single Mom Supper Club (MP3-Download)


ausgezeichnet

Eines der besten und unterhaltsamsten Hörbücher!

Jacinta Nandi kannte ich zuvor nur von ihren kurzen Texten im Missy Magazine, die ich bereits sehr mochte. Und das Hörbuch zu „Single Mom Supper Club“ ist wirklich eines der besten, die ich je gehört habe! Britta Steffenhagen ist eine fantastische Sprecherin, die es wie kaum eine andere geschafft hat, den vielen Single Moms einen Charakter zu verleihen. Ihr Einsatz von Akzenten und Stimmvarianz ist schlicht bemerkenswert. Ich kann immer schwer einschätzen, ob mir das Buch beim Lesen genauso viel Freude bereitet hätte, aber das Hörbuch war ein absoluter Genuss!

Nandi hat hier eine episodenhafte Satire geschrieben, die einige Wahrheiten enthält - ohne diese aber je klar auszuformulieren. Die Perspektiven der kurzen Kapitel wechseln zwischen den verschiedenen Müttern, der grundlegende Ton bleibt aber vergleichbar. Die Autorin ist einfach witzig und das schlägt sich in ihren Figuren nieder. Die Frauen geraten über diverse Themen auf eine trockene, nüchterne und zugleich ernsthafte Art aneinander, die ich äußerst unterhaltsam finde.

Themen wie Rassismus, inklusive Sprache, AfD im Osten sowie Ostfeindlichkeit, Ungleichheit bei Care-Arbeit, das deutsche Steuersystem, Klassismus und natürlich Feminismus spielen eine Rolle. Manche Aussagen sind klar, aber meistens bleibt das endgültige Urteil den Lesenden vorbehalten. Einige Szenen darf mensch auch wirklich nicht so ernst nehmen (Ist ein bisschen Koks okay, wenn die Mutter gerade auf ihre Kinder aufpasst?), denn Nandi arbeitet oft mit einer extremen Überspitzung. Für mich war immer klar, wie ich die Szenen zu verstehen habe, sodass mich die skurrile Ernsthaftigkeit ihrer Figuren in diesen Situationen oft hat schallend lachen lassen.

Ich finde nicht, dass der Roman den Anspruch hat, besonders gesellschaftskritisch zu sein. Auf einige Dinge weist die Autorin mit ihrer ironischen Art auf jeden Fall hin, doch ich verstehe die Geschichte vor allem als äußerst unterhaltsame, kurzweilige Impulsgeberin. Und über so einige Dinge können wir schließlich nur noch lachen, weil wir sonst über sie weinen müssten. Große Empfehlung für diesen Roman und seine Autorin!

Bewertung vom 22.07.2025
Schattengrünes Tal
Hauff, Kristina

Schattengrünes Tal


ausgezeichnet

Psychologisch fesselnd und sehr unterhaltsam

Ich mag Filme wie „Nur ein kleiner Gefallen“ und „Gone Girl“ recht gern, weil ich in meinen Vermutungen gern überrascht werde. Literarisch fällt „Schattengrünes Tal“ für mich in die gleiche Kategorie, an der es sicher auch Grundlegendes zu kritisieren gibt, die mich aber einfach gut unterhält. Das Buch hat mich gepackt und ich hatte endlich mal wieder einen richtigen Lese-Flow.

Die Autorin wird auf dem Klappentext als „Meisterin des psychologischen Kammerspiels“ betitelt und ich würde mich dem anschließen. Die Geschichte hat mich mit ihren wechselnden Perspektiven, teils rasant im Tempo, absolut getrieben und ich wollte das Buch nicht aus der Hand legen. Dass wir hier, wie auch in den vergleichbaren Filmen, eine unheimliche und irgendwie verquere Frauenfigur haben, kann grundsätzlich kritisiert werden. Ich bin da hin- und hergerissen. Auf der einen Seite finde ich die Figur spannend geschrieben, mag auf der anderen Seite aber nicht, dass der Stereotyp der „verrückten Frau“ dadurch immer weiter verfestigt wird.

Wenn ich die grundlegende Kritik aber mal außen vor lasse (und danach ist mir gerade), dann finde ich die Handlung überwiegend genial geschrieben. Es bleibt über weite Strecken hinweg spannend und ich habe mehrfach mitgeraten. Manchmal lag ich richtig mit meiner Vermutung und manchmal falsch. Da ich Krimis und auch Thriller ingesamt nicht gern lese, sind diese thrillerhaften Elemente genau mein richtiges Maß.

Das Ende finde ich persönlich im Vergleich zur vorherigen Handlung recht schwach. Es fällt schon deutlich ab und ist für mich schlicht zu versöhnlich und rund geschrieben. Ein paar mehr Ecken hätte es ruhig haben dürfen. Daniela hat mich in ihrer Zeichnung manchmal etwas wütend gemacht - auch explizit für sie, denn ich lese hier gewisse psychologische Störungsbilder heraus, für die sie in mehrerlei Hinsicht Unterstützung verdient hätte.

Wer einen stimmungsvollen, düsteren und psychologisch verstrickten Roman sucht, ist hier wirklich gut beraten. Wer sich über „verrückte“ Frauenfiguren, die scheinbar alle mühelos um den Finger wickeln können, eher aufregt (was ich sehr verständlich finde), wird hier eher weniger Freude haben. Für mich hat es gerade total gepasst und ich möchte diese explizite Kritik bereitwillig ausblenden, weil mich der Roman aus einer kleinen Leseflaute geholt hat. Für das etwas schwache Ende ziehe ich ein wenig von der Wertung ab.

4,5 ⭐️

Bewertung vom 22.07.2025
Hero
Buckley, Katie

Hero


gut

Brutal, schonungslos, fragmentarisch - in der Umsetzung aber nicht mein Fall

Ganz an den Anfang möchte ich den dringenden Rat stellen, sich hier gar nicht vom Klappentext leiten zu lassen. Mir hat der nämlich eine Beziehungsgeschichte suggeriert, die irgendwie linear fortschreitet. Das ist „Hero“ aber überhaupt nicht! Stattdessen ist es ein Werk, das fragmentarisch Erfahrungen sowie Überlegungen der Protagonistin aneinanderreiht - rasche Themensprünge und stilistische Wechsel inklusive.

Ich präferiere ganz klar figurengetriebene Geschichten. Und obwohl Hero hier als Erzählerin ganz klar im Zentrum steht, habe ich am Ende kein wirkliches Gefühl zu ihr. Sie erzählt aus ihrer Vergangenheit, listet teilweise schonungslos und brutal ehrlich ihre Erfahrungen mit Männern auf. Kernaussage: Vor patriarchaler Prägung sind selbst Green Flags nicht gefeit und diese sind sowieso schonmal selten.

Eine wichtige Aussage und ich mochte die brutale Nüchternheit, mit der durchaus gewaltvolle Themen hier transportiert werden. Genau aus diesem Grund sollten das Buch eigentlich vor allem cis Männer lesen, denn ich fand es am Ende primär bedrückend. Eine Empowerment-Story ist es für mich vielleicht phasenweise, aber keinesfalls im Gesamten.

Stilistisch ist der Roman eher experimentell: Wechsel zwischen dritter und zweiter Person Singular (wobei ich dieses Element tatsächlich sinnvoll fand, da die thematisierten Männer ansonsten weitgehend anonym und damit ununterscheidbar bleiben), viele Metaphern, direkte Rede ohne Interpunktionszeichen. Meins ist das definitiv nicht, weil für mich durch zu viele stilistische Elemente die Nähe zu den Figuren verloren geht.

Vorrangig bin ich wahrscheinlich enttäuscht, weil der Klappentext so gut klang. Aber es gibt keine Liebesgeschichte und keine ernsthaft greifbare Figureninteraktion, stattdessen teilweise schwer verständliche Ausschweifungen. Andere Passagen fand ich wiederum enorm eindrücklich und mochte die schonungslose Ehrlichkeit mancher Nebenfiguren in ihrem Blick auf patriarchale Strukturen. FLINTA wird das Buch sicher berühren und bedrücken, deshalb weiß ich nicht so recht, ob ich es so richtig empfehlen kann, weil erfahrungsgemäß eher wenige cis Männer zu solcher Literatur greifen - obwohl besonders ihnen die Augen geöffnet werden müssten. Und ich persönlich kann schlicht nicht wirklich viel für mich aus der Geschichte mitnehmen, außer Wut und Frustration über die Verhältnisse. Trotz einiger guter Gedanken, manche davon auch augenöffnend, bleibe ich also eher unzufrieden zurück.

Bewertung vom 14.07.2025
Ungebetene Gäste
Gundar-Goshen, Ayelet

Ungebetene Gäste


sehr gut

Gut lesbar, reizvolle Ausgangslage und interessante Figuren - aber zu wenig auserzählt

Während mir „Löwen wecken“, das ich erst kurz vor diesem Roman gelesen habe, noch zu lang war, schien mir „Ungebetene Gäste“ fast zu kurz zu sein. Obwohl ich die Länge grundsätzlich ausreichend fand, hat die Autorin für mich zu viele Handlungsstränge nicht zu Ende geführt und thematisch vielleicht ein wenig zu viel gewollt.

Wie bei all ihren Büchern, spielt Ayelet Gundar-Goshen auch hier wieder mit der vermeintlichen Klarheit, was unser menschliches Urteilsvermögen angeht. Die Figurenzeichnung gefiel mir deutlich besser als in ihrem früheren Roman. Sie sind mir zwar wieder überwiegend unsympathisch und wiederholt fand ich ihre Handlungen einfach nur erschütternd, aber zumindest waren sie nicht so platt ekelhaft geschrieben. Besonders im Mittelteil, der mich zu Beginn allerdings auch erstmal verwirrte, bekommen wir ein deutlich vielschichtigeres Bild der Haupt- sowie einiger Nebenfiguren.

Gleichzeitig verschwinden andere Nebenfiguren aus dem ersten Teil völlig von der Bildfläche und werden im kurzen dritten Teil noch einmal aufgewärmt. Neue Figuren tauchen zwischendrin auf, während sich mir am Ende nicht immer ganz erschloss, warum sie wichtig waren. Auch das ein oder andere Klischee wird bedient, die Kommunikation zwischen den Figuren ist meist katastrophal.

Trotzdem hat mir gefallen, wie fein die Autorin mit unserer Sympathie und Empathie spielt - dafür hat sie schon wirklich ein ausgesprochenes Talent. Die Figuren sind zwischendrin so unangenehm, dass ich kaum weiterlesen wollte, und doch bringe ich einige Kapitel weiter Mitgefühl für sie auf. Auch das Thema Schuld/Schuldgefühle sowie der Rassismus weißer Israelis werden wieder behandelt. So einige Sätze waren für mich richtige Banger - etwa dazu, wie gut Persönlichkeitsrechte verschiedener Gruppen beim Veröffentlichen von Fotos geachtet werden.

Doch auch, wenn mir dieser Roman in Bezug auf Lesefluss und Figurenzeichnung gut gefallen hat, gehe ich ernüchtert aus dem Buch. Das Ende ist super offen, so viel bleibt auch einfach ungesagt oder wird kurz vor Schluss noch einmal angeschnitten. Ich habe außerdem meine Schwierigkeiten damit, wenn so gar keine Figur nahbar und mir sympathisch ist, auch wenn ich moralisch graue Figuren durchaus schätze.

Definitiv eine spannende Autorin mit einem guten Repertoire an Überraschungsmomenten im Kleinen. Doch ich muss auch hier wieder sagen, dass mir einiges zu konstruiert war, die moralische Ebene an einigen Stellen zu forciert. Ich habe mir vom Klappentext wieder so viel erhofft und bin nun nicht vollends zufrieden. Es ist dennoch alles andere als ein schlechtes Buch und Fans der Autorin kommen hier ganz sicher auf ihre Kosten. Bei 1-2 weiteren Werken bin auch ich neugierig, werde mir aber erstmal ein bisschen Abstand gönnen, da zwischen den Büchern schon eine gewisse Ähnlichkeit besteht.

Bewertung vom 14.07.2025
Das Haus der Türen (MP3-Download)
Eng, Tan Twan

Das Haus der Türen (MP3-Download)


gut

Ein ausschweifend erzählter historischer Roman mit interessanten Elementen

Zum Hörbuch:
Elena Puszta hat eine sehr angenehme Stimme und auch ihr Bestes gegeben, den Figuren eine eigene Seele einzuhauchen. Das ist ihr zwischen den Geschlechtern auch gut gelungen, aufgrund der Fülle an Figuren hatte ich aber trotzdem kein sonderlich gutes Hörerlebnis. Ich hatte immer wieder Probleme, mich zwischen den Figuren und innerhalb der Zeitebenen zu verorten. Das ist sicher vor allem der Komplexität des Werkes selbst geschuldet und nicht der Sprecherin. Auch die vielen Fremdwörter finde ich beim Hören deutlich störender als beim Lesen. Daher würde ich das Hörbuch nicht empfehlen und bei Interesse eher zum geschriebenen Werk raten.

Zum Buch selbst:
Ich bin nicht unbedingt ein riesiger Fan historischer Romane, aber gerade über die Geschichte anderer Länder lerne ich ganz gern etwas in Büchern. Deshalb habe ich auch zu diesem Roman gegriffen, konnte aber ehrlicherweise nicht so viel daraus mitnehmen.

Die verschiedenen Perspektiven und Zeitebenen geben dem Werk wirklich Einiges an Komplexität, die den geschichtlichen Rahmen für mein Empfinden ein wenig zu sehr in den Hintergrund drängt. Ich habe verhältnismäßig lange gebraucht, um die Figuren und ihre Verbindung zueinander zu verstehen. Die Geheimnisse, die nach und nach enthüllt werden, haben mich bei der Stange gehalten, aber insgesamt war mir der Schreibstil zu ausufernd und langatmig.

Die koloniale, rassistische Sprache hat mich echt ganz schön angestrengt. Das ist keine Kritik am Werk und es ist so wichtig, diese Realität abzubilden, damit gerade weiße Menschen sich ihrer eigenen Geschichte bewusst werden können. Ich komme einfach nicht ganz so gut mit dieser Abwertung zurecht, weshalb ich eben auch nicht so oft historische Romane lese.

Das Ende fand ich handwerklich besonders, weil sich das Buch damit quasi selbst mit in die Handlung aufnimmt. Und Menschen, die sich gerne mit realen Schriftsteller*innen sowie deren Schaffungsprozess beschäftigen, können sich von dieser Geschichte bestimmt eher begeistern lassen als ich. Mich haben die kleinen und größeren Dramen der gehobenen weißen Bevölkerung Malaysias interessiert - allerdings nicht genug, als dass mir der Roman irgendwie im Gedächtnis bleibt. Dafür war er mir schlicht zu verworren und steif.

Bewertung vom 10.07.2025
Im Leben nebenan
Sauer, Anne

Im Leben nebenan


ausgezeichnet

Ein spannendes Gedankenspiel auf fantastische und emotionale Weise umgesetzt

Anne Sauer bleibt nach diesem Romandebüt auf jeden Fall eine Autorin, die ich im Auge behalte. Nicht nur schafft sie es, eine innovative Idee in Buchform zu bringen, sondern sie setzt diese dann auch noch mit so viel Fein- und Taktgefühl um, dass es mich emotional kaum losgelassen hat. An den richtigen Stellen ist der Text stilistisch besonders, ohne zu extravagant zu sein und damit von der Emotionalität der Handlung abzulenken.

Die Geschichte dreht sich um Antonia und Toni - erstere im Heimatdorf mit frisch geborenem Kind und verheiratet mit ihrer Jugendliebe, letztere in der Stadt ohne Kinder und in einer festen, unkomplizierten Beziehung mit einem anderen Mann. Nur… es handelt sich um die gleiche Person und Antonia wacht eines Tages als Mutter auf, obwohl sie gestern noch als Toni ein kinderloses (oder -freies?) Leben führte. Die beiden Perspektiven laufen immer wieder ineinander, scheinen sich manchmal sogar fast zu kreuzen. Zwei Perspektiven, die irgendwie eine sind und doch auch wieder nicht - Knotenpotenzial für den Kopf, aber ich fand es genial und intelligent umgesetzt.

Es ist sehr klar, dass es sich hier um Fiktion handelt und trotzdem habe ich bangend auf eine logische Auflösung gewartet - so gut kann die Autorin schreiben. Beide Versionen der Protagonistin sind vielschichtig. Antonia struggelt in verschiedener Hinsicht mit ihrer Mutterrolle, obwohl sie sich diese als Toni gewünscht hatte - hat sie doch jahrelang vergeblich versucht, schwanger zu werden. Anne Sauer webt wiederholt gesellschaftliche Elemente in die Geschichte ein und schafft es, Eltern und Nicht-Eltern nebeneinanderzustellen ohne in ein Werten oder gar Vergleichen zu verfallen. Deshalb können meiner Meinung nach alle Lesenden ungeachtet der eigenen Situation etwas aus dem Roman ziehen.

Mich haben beide Seiten der Geschichte restlos überzeugt. Am Ende geht es weniger um die Frage „Kinder - ja oder nein?“, sondern vielmehr um Lebensentscheidungen und dem Umgang mit ihnen im Allgemeinen. Mal schwermütig und verzweifelt, mal hoffnungsvoll und proaktiv gehen beide Versionen der Protagonistin durch eine bestimmte Phase ihres Lebens. Die beiden Partner haben mir als Nebenfiguren gut gefallen, da auch sie sich jeglicher Eindeutigkeit entziehen und eben einfach menschlich sind - mit nervigen und liebenswerten Seiten.

Das Ende ist kryptisch, aber mir ist fast die Kinnlade herabgefallen, so gut fand ich es! Ich habe auch wirklich ein paar Tränchen verdrückt, die gar nichts mit einem besonders konkreten Drama zu tun haben, sondern sich einfach mit der sanften Echtheit der Geschichte begründen lassen. Ein großartiges Debüt, mit dem die Autorin zeigt, wie viel Mitgefühl und Verständnis sie für verschiedene Lebensentwürfe aufbringen kann!

Bewertung vom 10.07.2025
Mekka hier, Mekka da
Borcak, Melina

Mekka hier, Mekka da


sehr gut

Gut lesbarer und lehrreicher Einstieg in ein wichtiges Thema

Melina Borčak schreibt wie sie spricht und das finde ich toll! Mit einem feinen Humor und sehr direktem Ton thematisiert sie hier ein Thema, zu dem wir sicher alle noch lernen können. Es geht dabei vor allem um sprachliche Phänomene, wenn es zu antimuslimischem Rassismus kommt. Wo werden willkürliche Kategorien geschaffen, wo mit verschiedenen Ansprüchen gearbeitet? Warum werden immer wieder bestimmte Bilder reproduziert, wenn über den Islam oder Muslim*innen geschrieben wird? Wie soll so eine große Gruppe von Menschen auch nur im Ansatz homogen sein? Auf diese und viel mehr Fragen geht Borčak gut zugänglich ein.

Dass der Fokus vor allem auf (Bild-)Sprache liegt, war mir vorher nicht bewusst. Das ist auch nicht schlimm, aber zur eigenen Einordnung vorher sicher hilfreich. Und ich habe beim Lesen so Einiges lernen dürfen, eigene Bilder im Kopf hinterfragt, aber auch oft genickt. Manchmal war es mir sprachlich ein wenig zu repetitiv und zäh, an anderen Stellen hätte ich mir mehr Tiefgang gewünscht.

Besonders hervorzuheben ist natürlich das Kapitel zu Genozid, welches noch einmal besonders deutlich ist im Ton der Autorin - und das völlig berechtigt. Ich hatte in dem Feld ehrlicherweise durch den öffentlichen Diskurs noch einige Unsicherheiten und manche bleiben auch vorhanden. Und doch halte ich es für extrem wichtig, Expert*innen jeglicher Art zuzuhören und ihnen zu glauben. Die Lektüre hat dahingehend meine eigene Ambiguitätstoleranz noch einmal geschärft. Außerdem habe ich ein bisschen mehr über den Islam gelernt, was ich auch als Atheistin interessant fand. Klare Empfehlung und extra Sympathiepunkte für den Veganismus der Autorin. 🫶🏻

Bewertung vom 10.07.2025
Bis mein Herz wieder schlägt
Hunter, Becky

Bis mein Herz wieder schlägt


gut

Gute Grundlage, aber auf Figurenebene leider ziemlich schwach

Ich habe große Erwartungen in dieses Buch gesetzt, weil es mich im Setting an „Wolke Sieben ganz nah“ erinnert hat, das ich letztes Jahr von vorn bis hinten geliebt habe. Diese Konkurrenz ist also schon hart, aber auch ungeachtet dessen konnte mich „Bis mein Herz wieder schlägt“ leider nicht überzeugen.

Besonders durch die erste Hälfte habe ich mich eher geschleppt. Die Zeitsprünge in hohem Tempo laufen immer nur auf Emerys Herzanfälle hinaus. Was danach passiert oder wie es den beteiligten Nebenfiguren währenddessen ergangen ist? Nebensächlich. Kann so entschieden werden, führt in der Konsequenz bei mir aber dazu, dass ich keine Nähe zur Geschichte aufbauen kann, weil sie bruchstückhaft und wenig plausibel wirkt.

Die zweite Hälfte hat mir besser gefallen, was zu großen Teilen daran lag, dass es ein paar spannungstreibende Elemente gab, deren Auflösung ich gerne erfahren wollte. Und ganz am Ende hab ich auch geweint, die Emotionalität kam mir insgesamt aber einfach viel zu spät.

Das ist einer meiner großen Kritikpunkte: Alles dreht sich nur um Emery, aber die bleibt mir bis zum Ende wenig greifbar. Sie scheint mir sehr lange sehr unreif zu sein, mit wenig Selbstreflexion und Empathie für ihre Herzensmenschen. Auch die Nebenfiguren bleiben mehr oder weniger ohne Profil. Sie bekommen allesamt 1-2 Charakterzüge, über ihre echten Emotionen erfahren wir wenig. Ich habe nichts gegen eine Protagonistin im Fokus, aber auch Nebenfiguren brauchen Tiefe, sonst leidet die gesamte Handlung.

Kritikpunkt 2: Die angekündigte Liebesgeschichte bzw. das Liebesdreieck kommt mir deutlich zu kurz für einen Liebesroman. Colin wird von Emery so schrecklich behandelt und tut mir einfach nur leid. Die Chemie zwischen Nick und Emery stellte sich für mich auch nicht so recht ein und die Romance war mir zu konstruiert - schließlich sehen die beiden sich ja auch immer nur eine kurze Zeit lang.

Der Roman lässt sich sprachlich gut lesen und ich würde auch nicht grundsätzlich von der Lektüre abraten. Mir persönlich drehte sich die Geschichte aber zu sehr um eine selbstbezogene Protagonistin mit wenig Wachstum und dafür mit viel emotionaler Distanz. Nebenbei werden auch immer mal wichtige Themen angesprochen, etwa die Diskriminierung queerer Menschen, doch auch die kommen mir schlicht zu kurz. Das Ende fand ich zu großen Teilen gut und emotional, wenngleich ich es mir auch ein wenig anders gewünscht hätte.

Und abschließend noch ein Wunsch an den Verlag: Inhaltswarnungen wären hier meiner Meinung nach angebracht gewesen.

2,5 ⭐️
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TW: Krebserkrankung, Tod, Blut, M0rd

Bewertung vom 02.07.2025
Löwen wecken
Gundar-Goshen, Ayelet

Löwen wecken


gut

Spannende Ausgangssituation, mir jedoch zu zäh und emotional oberflächlich weitergeführt

Es war mein erster Roman der Autorin und auch, wenn ich einige Kritikpunkte an ihm habe, bleibe ich weiter an Ayelet Gundar-Goshen dran, weil mich dieses moralisch Ambivalente literarisch grundsätzlich total reizt.

„Löwen wecken“ wirft ein Scheinwerferlicht auf den Umgang mit bzw. die Haltung zu BIPoC-Geflüchteten in Israel. An der Stelle möchte ich auf jeden Fall auch anmerken, dass wir uns in Deutschland wohl kaum eines besseren Umgangs rühmen dürfen und so Einiges aus dem Roman für uns selbst reflektieren können.

Die Ausgangssituation ist so erzürnend wie spannend - ein weißer Neurochirurg überfährt nachts, scheinbar unbeobachtet, einen geflüchteten Eritreer und fährt einfach weg. Im weiteren Verlauf sieht er sich mit dessen Frau konfrontiert, die ihr Wissen um den Unfall zu nutzen weiß. Etan gerät daraufhin in ein komplexes moralisches Konstrukt aus Lügen gegenüber seiner Frau, altruistisch(?)-egoistischen Taten und Begierde.

Ich sehe, dass Gundar-Goshen ein Gespür hat für Ambivalenzen und das moralisch Graue. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, um den selbstgerechten Rassismus unter privilegierten weißen Israelis darzustellen. Und doch war mir das Werk zu ausschweifend und emotional auf Figurenebene zu flach, als dass es meinen Erwartungen hätte entsprechen können.

Wir sitzen nicht nur in Etans Kopf (was, gelinde gesagt, oft fast unerträglich ekelhaft ist), sondern bekommen auch Einblicke in Sirkit, die Frau des Getöteten, sowie Etans Frau Liat. Weitere Nebenfiguren kommen ebenfalls kurz dazu, deren Rolle hat sich mir aber nicht immer erschlossen. Am Ende führt die Autorin beeindruckenderweise ziemlich viele Fäden zusammen, aber das wäre insgesamt dennoch kompakter gegangen. Obwohl die Sprache klar ist, wird meiner Meinung nach zu viel mit detaillierten Bildern, Wiederholungen und ausschweifenden Gedankengängen gearbeitet, die das Lesen anstrengend gemacht haben.

Ganz schlimm und mehr als unangenehm fand ich die dargestellte Anziehung zwischen Etan und Sirkit. Keine Ahnung, ob die Autorin hier genau diese Gefühle bei den Lesenden erzielen wollte, aber ich hätte es nicht gebraucht. Die Emotionen der Figuren fand ich abgesehen von Wut und Ekel generell nicht oft greifbar, sodass mir da die Nähe fehlte. Sirkit und Liat waren die für mich weitaus spannenderen Figuren, besonders erstere bekommt am Ende nochmal einen netten Twist.

Ein tolles Grundgerüst, das mir deutlich kürzer wesentlich besser gefallen hätte. Es vermag schon, die Grenzen zwischen Gut und Böse, zwischen Opfer und Täter verschwimmen zu lassen, die Gedanken und Handlungen der Figuren selbst blieben mir dahingehend aber zu sehr an der Oberfläche. Wütend macht das Ende in jedem Fall und ich bleibe wie gesagt auch weiter interessiert an der Autorin.

3,5 ⭐️
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TW: Rassismus, Dr0genkriminalität, Kindstod, Blut/Wunden, M0rd