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Benutzername: 
galaxaura
Wohnort: 
Köln

Bewertungen

Insgesamt 79 Bewertungen
Bewertung vom 09.02.2025
Frau Hempels Tochter (eBook, ePUB)
Berend, Alice

Frau Hempels Tochter (eBook, ePUB)


sehr gut

Leichtfüßiges Zeitportrait

„Frau Hempels Tochter“ von Alice Berend wurde vom Reclam Verlag für die tolle Reihe DAMALS – HEUTE – MORGEN: Reclams Klassikerinnen aus der Versenkung geholt – vollkommen zu Recht. Aber zuerst ein paar kurze Worte zu dieser Reihe, mit der Reclam versucht, den vielen weiblichen Autorinnen der Literaturgeschichte mehr Sichtbarkeit zu verleihen – eine wirklich großartige Idee mit einer Vielzahl lesenswerter und liebevoll designter Bücher, denen ich nur ganz viele Käufer:innen wünschen kann. Da macht Reclam einfach ganz viel richtig!

Nun aber zu „Frau Hempels Tochter“. Das Buch hat einen festen, direkt bedruckten Einband mit einer extrem angenehmen Haptik und kommt zur Freude mit einem farblich passenden Lesebändchen. Berend erzählt die Geschichte von der Schustertochter Laura, die gemeinsam mit ihren Eltern in einem Berliner Mietshaus wohnt, in dem sich ganz unterschiedliche Menschen begegnen. Gegenüber wohnt ein Graf – der diesen Titel nur noch als Titel trägt und nicht mehr wirklich mit Geld hinterlegen kann, der aber dennoch vollkommen ausreichend als Projektionsfläche für Lauras Sehnsüchte ist. Warum es für ihr Glück ein ganzes Schwimmbad braucht und was ein Schutzmann damit zu tun hat – das müssen Lesende selbst herausfinden, aber versprochen werden kann eine äußerst vergnügliche Lesereise.

Alice Berend schreibt in einem heiteren Plauderton und greift die Atmosphäre im Berlin der Jahrhundertwende gekonnt, dicht und detailreich auf. Herrlich schildert sie das Milieu der Arbeiterklasse und Kleinbürger mit viel Komik und sehr genauer Beobachtungsgabe, ohne dass sie die Figuren vorführt. Das Besondere an ihrem Schreiben sind die tätigen Frauen. Die Männer rücken in den Hintergrund, hier bewegen und bewältigen starke Frauen den Alltag, das Leben, die Träume und die Realität. Das macht Alice Berend aus heutiger Sicht zu einer feministischen Autorin, die der Frau in ihrem sozialen Umfeld viel Handlungsspielraum einräumt und sich gegen gesellschaftliche Konvention auflehnt.

Ihr Bücher wurden im Nationalsozialismus verboten, da sie, zwar evangelisch getauft, dennoch nach den Rassegesetzen der Nationalsozialisten eine Jüdin war. Sie musste ins Exil gehen und starb dort 1938 krank und verarmt. Sich mit diesen Schicksalen auseinanderzusetzen und ihnen eine Stimme zu geben, war immer schon wichtig – aktuell wird es wieder wichtiger. Und da „Frau Hempels Tochter“ beim Lesen einfach wundervoll viel Spaß macht: Ist dieses Stück Zeitgeschichte gerne jedem ans Herz gelegt. Vielen Dank also an den Reclam-Verlag für diese tolle Lesereihe!

Bewertung vom 09.02.2025
Dunkle Asche (eBook, ePUB)
Thomsen, Jona

Dunkle Asche (eBook, ePUB)


gut

Tiefer Schlick an der Ostsee

„Dunkle Asche“, vermutlich der Auftakt zu einer neuen Ostsee-Krimi-Serie aus der Feder von Jona Thomsen (Pseudonym), ist ein solider Ostsee-Krimi, der zwei sehr sympathische neue Ermittlerinnenfiguren auf einen Cold Case loslässt und am Ende mit einer überraschenden Wendung aufwartet.

Die beiden neu zusammengewürfelten Kriminalistinnen Gudrun Möller und Judith Engster, letztere frisch aus Rostock hinübergewechselt zur Landespolizei Schleswig-Holstein, erstere ein Gewächs der Kieler Förde, die deshalb den alten Fall selbst als Jugendliche miterlebt hat, sind Teil einer neue aufgesetzten Cold Case Unit und befassen sich mit dem Mord an Sanna Hansen, der in den 90ern geschah und zu dem es nun neue Erkenntnisse gibt. Platziert am Strandbereich Kalifornien, fängt Thomsen das Ostseekolorit und die bestehende Spaltung der Bevölkerung in die Rich Kids und die Working People, in die Unterschiede zwischen den Städten Hamburg und Kiel und den dazwischen liegenden ländlichen Regionen souverän ein. Nachdem zunächst Schwung in die Ermittlungen kommt und Gudrun und Judith über den Fall hinweg zunehmend ihr gegenseitiges Misstrauen einander gegenüber ablegen können, treten die Nachforschungen nach einiger Zeit doch zunehmend auf der Stelle. Gibt es vielleicht gar keinen Fall? Waren die Erkenntnisse der damaligen Zeit vollkommen korrekt und die ganzen Mühen sind umsonst? Doch wer einmal eine Wattwanderung gemacht hat, der weiß, wie tief der Schlick der See ist. Und so gerät gerade Gudrun, die aufgrund ihrer Vernetzung an der Förde mehr weiß und erahnt, als für sie gut ist, zunehmend in den Fokus des damaligen Täters.

Thomsen schreibt flüssig und hält über weite Strecken einen guten Spannungsbogen. Er charakterisiert das Figurenpersonal mit wenigen Strichen und vielleicht insgesamt deshalb etwas klischeehaft. Dagegen hat mir sehr gut gefallen, wie selbstverständlich er Queerness ohne weitere Bedeutung in seine Erzählung als Teil der Gesellschaft integriert. Der Fokus wechselt klug zwischen verschiedenen Verdächtigen und auch wenn ich relativ früh erahnt habe, wer der eigentliche Täter ist, war die Motivation dennoch überraschend. Allerdings liegt in der Überraschung auch ein bisschen ein Wermutstropfen begraben, denn Thomsen muss schon tief in die Zufalls- und Konstruktionskiste greifen, um aus dem geschriebenen Showdown wieder herauszukommen, für mich ein Manko dieses Krimis, der über weite Strecken sehr unaufgeregt erzählt wird, was für mich auch am Ende durchaus hätte der Stil bleiben dürfen. Sehr gelungen sind die Beziehungen im Ermittler:innenteam, die zum Glück noch nicht auserzählt sind, so dass hier noch ausreichend Potenzial für weitere Fälle besteht. Insgesamt ein solider Serienauftakt, dem ich vor allem wegen Gudrun und Judith gern gefolgt bin. Für die weiteren Fälle würde ich mir noch etwas mehr Komplexität und Feinheit in der Ausarbeitung wünschen, werde aber sich auch in Band 2 gerne hineinschauen.

Bewertung vom 06.02.2025
Die Eigensinnige
Müller, Lucca

Die Eigensinnige


gut

Leider falscher Fokus
„Die Eigensinnige“ von Lucca Müller, erschienen 2025 bei Bastei Lübbe, ist eine fiktionale Romanbiografie, bei der das Wort „fiktional“ nicht groß genug gedacht werden kann. Über knapp 450 Seiten verfolgt Lucca Müller das Leben und leider sehr wenig das Werk von Marie von Ebner-Eschenbach von der Jugend bis ins Alter und zeigt, streckenweise durchaus feministisch, die Schwierigkeiten einer unkonventionellen Frau in Kunst und allgemeinem Leben im 19. Jahrhundert auf.
Das Buch startet schwungvoll und mittendrin. In einem kurzen, im Theater spielenden Prolog, der weit vorgreift in der Geschichte, wird Marie auf wenigen Seiten sofort ganz klar charakterisiert und ihr ungewöhnlicher Charakter wird direkt deutlich. Wie gefesselt muss diese spannende Frau in ihrer Zeit gewesen sein! Dieser Eindruck hat sich für mich durch das ganze Buch gezogen. Was für ein unterdrücktes Frauendasein strahlt einem da aus jeder Zeile entgegen, und wie dankbar können wir allen Frauen sein, die für Emanzipation und Freiheit gekämpft haben. Unvorstellbar, so reduziert leben zu müssen.
Nach dem kurzen Prolog im Theater macht das Buch einen gut nachvollziehbaren Zeitsprung in Maries Jugend – hier helfen auch die durchweg im Buch vorhandenen zeitlichen Einordnungen am Kapitelbeginn. Lucca Müller schreibt sehr gut, es gelingt ihr, immer eine sehr klare Atmosphäre und Emotion zu schaffen, ohne dass sie dafür viele Beschreibungen der Umwelt braucht. Das Drehbuchschreiben, von dem Müller kommt, merkt man dem Roman an – im positiven Sinne, insbesondere auch in der Dialoggestaltung! Freiheit gegen Form – dieses Thema dominiert immer wieder den Roman, in dem Marie sich, immer wieder auch von Rückschlägen geprüft, zunehmend ihren Raum erobert – und den für sie richtigen Mann erobert. Dieser wirkt im Buch auf jeden Fall erstaunlich modern für seine Zeit, und er teilt mit Marie die Erfahrung, für etwas zu brennen und Pionier zu sein. Schnell kommt es aber auch zu den ersten historischen Irritationen, beispielsweise die Darstellung der verhindernden Rolle der Stiefmutter für Ebner-Eschenbachs Schaffen, historisch dagegen hat Xaverine Kolowrat-Krakowsky Marie von Ebner-Eschenbach gefördert und unterstützt.
Nicht zufällig spielt Lucca Müller mit Referenzen an Drei Haselnüsse für Aschenbrödel und Sissi-Romantik, einerseits toll, weil hier indirekt deutlich wird, wie sehr starke Frauen am Ende eben immer auch Prinzessin sein sollen, andererseits legt sie hier aber auch den Grundstein, der sich durch den Roman zieht, dass der Fokus streckenweise doch sehr auf Eheleben, Schmonzette und gesellschaftlicher Präsenz liegt, wodurch das literarische Schaffen zunehmend in den Hintergrund rückt.
Müller zeigt auf, dass die Frau in der Kunst in der Öffentlichkeit immer unter anderen Bewertungskriterien beurteilt wird als der Mann (bis heute leider). Aber selbst unterläuft ihr derselbe Fehler, indem sie nicht darauf vertraut, hier wirklich die Künstlerin in ihrem Schaffenskampf zu zeigen, sondern eher auf die populären Anteile einer Biographie mit Groschenromanvibe setzt, Begegnungen mit Kaiserin Sissi inklusive.

Mich hat das Buch auf jeden Fall neugierig gemacht, mal wieder etwas von Marie von Ebner-Eschenbach zu lesen, durch den Filter dieses einerseits sehr egozentrischen, aber andererseits doch auch feministisch starken Lebens gelesen, wird das bestimmt sehr interessant. Insgesamt empfinde ich „Die Eigensinnige“ aber als zu wenig ausbalanciert und hätte mir gewünscht, den Eigensinn mehr aus der Kunst heraus zu lesen als aus der Romanze.

Bewertung vom 04.02.2025
Tomke gräbt
Hach, Lena

Tomke gräbt


ausgezeichnet

Großartig Selbstvergessen

„Tomke gräbt“, geschrieben von Lena Hach und illustriert von Julia Dürr, ist ein wundervolles Kinderbilderbuch, dass sich mit dem besonderen Fokus von Kindern und ihrer Fähigkeit, ganz im Moment zu versinken, beschäftigt.
Tomke ist im Garten zu finden, bei einer wichtigen Tätigkeit: Es wird ein Loch gegraben. Und dieses Loch wächst und wächst und wächst und nur die Erwachsenen um Tomke herum haben viele Fragen an den Prozess: Was ist das Ziel dieses unendlichen Grabens? Doch Tomke gibt keine Antwort, völlig gefangen im Jetzt des Buddelns, selbstgenügsam nur in dieser Handlung aufgehend, geht das Loch vielleicht sogar bis zum Erdkern.
Lena Hach kommt für dieses Buch mit wenigen Sätzen aus, die dennoch die Situation und die Menschen in ihr ganz genau greifen. Julia Dürr illustriert liebevoll und in einem großartigen Mix aus Tusche, Filzstift, Collagenartigem, so dass wir uns auch hier durchweg in Kinderbildern bewegen. Die Buchseiten sind fest und geschmeidig zugleich, ein richtig schönes Buch, um gemeinsam zu blättern und viele kleine Details zu entdecken.
Dieses Buch ist von vorn bis hinten gelungen und findet hoffentlich viele kleine Leser:innen und große Vorleser:innen – die dann ganz schnell raus müssen, um auch ein Loch zu graben. Einfach, weil man’s kann!

Bewertung vom 03.02.2025
Die Schanze
Menz, Lars

Die Schanze


sehr gut

Eiskalter Thriller am Abgrund

„Die Schanze“, das Thrillerdebut von Lars Menz, ist ein packender Pageturner, in dem die Eiseskälte nicht nur im Schnee an der Sprungschanze herrscht. Ein Highlight die Buchgestaltung, ein wirklich geniales Cover, ein neongrüner Farbschnitt, glänzend schwarze Buchstaben, eine irre Perspektive, eine wirklich großartige Gestaltung auch im inneren des Buches, einfach 10 von 5 Sternen dafür.
Zur Story kann natürlich nicht zu viel verraten werden: Die Ärztin Ellen kehrt nach Studium und Arbeit im Krankenhaus in Hamburg nach einer Trennung zurück in ihre Heimat, ein 10.000-Seelen-Kaff in Süddeutschland, und übernimmt dort die örtliche Hausarztpraxis von dem Arzt, der sie selbst noch in ihrer Kindheit und Jugendzeit behandelte. Genau am Tag ihrer Rückkehr geschieht dort ein Mord – und schnell wird klar, dass Ellens Vergangenheit und der Grund für ihren Wegzug mit diesem Mord und der weiteren Handlung eng verknüpft sind. Dabei ist es schwer, Freund und Feind auseinanderzuhalten, während Ellen versucht, Fuß als Ärztin zu fassen und ihr Trauma zu bewältigen.
Menz schreibt knackig und dynamisch, die Atmosphäre eines eiskalten Winters voller Schnee in den Bergen ist so spürbar, dass ich mir beim Lesen eine Decke geholt habe. Die Charaktere werden lebendig beschrieben und das Personal ist angenehm überschaubar, so dass man lesend jederzeit mit der Handlung mithalten kann. Irgendwann sind einfach alle verdächtig und auch wenn ich die Lösung sehr früh erahnt habe, lag das eher am Verständnis für Dramaturgie als an Offenkundigkeit. Das Tempo ist hoch, die Handlung drängt sich in wenige Tage – und ich habe tatsächlich diesen 300-Seiten-Thriller in gerade mal einem verschlungen.
Ein gelungenes Debut also, bei dem ich mir nur vielleicht doch noch ein paar Irrpfade mehr und eine Triggerwarnung zum Thema Selbstverletzung gewünscht hätte, die für einige Lesende viel wert sein dürfte. Auf jeden Fall aber weist Menz deutlich Talent für dieses Genre auf und lässt hoffentlich weitere Thriller folgen.

Bewertung vom 05.01.2025
Women Living Deliciously
Given, Florence

Women Living Deliciously


sehr gut

Frauenpower meets Flowerpower

„Women living deliciously“, die Nachfolgerin zu „Frauen schulden dir gar nichts“, von Florence Given, erschienen 2024 bei KiWi, ist ein wundervoll empowerndes Buch, dessen großer bunter Blumenstrauß an Gedanken und Ratschlägen durchaus auch für Männer lesenswert ist, und wir wissen es ja eh: Vom Feminismus profitieren nicht nur weiblich gelesene Menschen!
Aufgemacht in besten Flowerpower-Look in knalligen Farben mit viel Pink und jeder Menge großartig ehrlicher Illustrationen von natürlich Florence Given selbst, macht dieses Buch einfach auf jeder Seite mega gute Laune und Hoffnung. Given unterteilt ihren Lebensretter in drei Abschnitte: Jäten, Pflanzen und Blühen. Es geht also ums Aufräumen, es geht ums Neue Wege Beschreiten und ums Wachsen und Ernten. Die Kapitel innerhalb der einzelnen Abschnitte sind kurz genug gehalten, um als Snack genossen zu werden, wann auch immer frau dafür Zeit findet.
Florence Given schafft es in ihrem Buch, die Wut, die viele Frauen so sehr zu Recht empfinden umzuwandeln in eine liebende und sich selbst gebende und gönnende Haltung, die das Leben umarmt. Es gibt zu viele kluge Sätze und Gedanken in diesem Werk, um sie alle aufzuzählen – aber das würde ja auch das Selbstlesen verhindern und selbst lesen: Sollte frau hier schon unbedingt! Vor allem das Kapitel „Kein Opfer“, in dem Given nachdrücklich klar macht, warum wir uns, gerne auch mit Angst, selbst durchweg an das Steuerrad unseres Lebensgefährts setzen sollten.
Einziges Manko ist die teilweise doch sehr pathetische Sprache und die Redundanz, wir folgen ein bisschen Givens Bewusstseinsstrom, was mich auf Dauer etwas ermüdet hat. Darum empfehle ich, das Buch snackend zu genießen in kleinen Happen, dann trägt die Redundanz wahrscheinlich nicht so auf. Given würde wahrscheinlich sagen „Ich bin halt viel und darf das sein!“ Recht hat sie! Ich habe viel mitgenommen auf der bunten Lesereise und fühle mich sehr gestärkt in meinen Gedanken. Das Buch bekommt auf jeden Fall seinen festen Platz in meinem feministischen Regalabschnitt.

Bewertung vom 04.01.2025
Die Komponistin von Köln
Meves, Hanka

Die Komponistin von Köln


sehr gut

Eine bewegendes Frauenleben aus der Vergessenheit geholt

Mit „Die Komponistin von Köln“, erschienen 2024 im Emons Verlag, legt Hanka Meves ihren ersten historischen Roman vor und lässt die Lesenden auf etwas unter 300 Seiten teilhaben am erstaunlichen Leben der Komponistin Maria Herz, die vollkommen zu Recht von Meves hier wieder ins Gedächtnis gerückt wird.

Hanka Meves beschreibt lebendig die Biographie und die großen Schwierigkeiten einer Frau in der Kunst im ausgehenden 19. Jahrhundert und hinein ins 20. und fängt dabei sehr gut die Stimmung und die Ereignisse dieser großen Umbruchszeit ein, eine Umbruchszeit für die Frauenbewegung, aber auch für die ganze Welt, denn natürlich kommen wir hier an den Weltkriegen und ihren Auswirkungen nicht vorbei, auch wenn Meves diesen Ereignissen keinen Schwerpunkt gibt. Sie fokussiert sich ganz auf das Leben und Erleben von Maria Herz und ihrer guten Freundin Franziska, zwei Frauen, wie sie von Kindheit an unterschiedlicher nicht sein könnten und doch verbunden im Kampf um Selbstsuche und Autonomie. Dicht arbeitet die Autorin die besondere Position der Frau in der Kunst heraus, das immer wieder verzweifelte Erarbeiten von einem Platz und Geltung, die bis heute unfaire Bewertung und Betrachtung von Kritik und Öffentlichkeit, die vielen Umwege, die Frauen gehen mussten und müssen, nicht zu vergessen der Faktor Care-Arbeit und Mental Load, der hier überdeutlich im Raum steht. Klug gewählt der Sidekick der Freundin Franziska, die ein ähnliches Leid auch in ihrem Leben erfährt, das deutlich angepasster und bürgerlicher ausfällt mit einer angestrebten Lehrerinnenkarriere, die dann doch lange ausmanövriert wird, da bis 1919 das Lehrerinnenzölibat gilt (kaum Auszudenken) und Franziska so erst ganz spät zu ihrer gefühlten Bestimmung finden kann – selbst da noch immer verunsichert durch die Männer, die gegenhalten gegen diesen neumodischen Kram, obwohl durch den Krieg ein Lehrermangel allerorten herrscht.

Dass Meves in Köln lebt, merkt man dem Buch an, souverän fängt sie das Lokalkolorit ein und kann die gewählten Orte detailliert beschreiben. Die Reise durch die zwei Jahrhunderte macht auch Station in England, Paris und Berlin, denn Maria Herz musste sich auch räumlich gekoppelt an ihren Ehemann viel bewegen. Wie sie bei all dem Reisen, Verändern und Unterstützen und unterbrochen von vielen Rückschlägen doch geschafft hat, ihren Lebenstraum Komponistin und Musikerin zumindest in Teilen zu verwirklichen, nötigt einem viel Respekt ab. Glaubwürdig schildert Meves die Anstrengung und die Zweifel, aber auch den notwendigen Egoismus und einen Blick, der nicht so weit über den doch auch privilegierten Tellerrand geht, was die Figur nicht immer sympathisch macht, aber ohne diese Egozentrik wäre sie auch kaum so weit gekommen. Im Kontrast dazu Franziska, die fast schon zu gutmütig, zu sehr bereit ist, sich um andere zu kümmern und ihre Interessen hintenanzustellen, so dass frau ihr aus dem 21. Jahrhundert laut zurufen möchte: Wach auf, kümmere dich um dich, du musst das nicht tun! Gut eingewoben die Babysteps, die Frauen Richtung Gleichberechtigung in dieser Zeit gehen, Berufsrechte, Wahlrecht, Entscheidungsfreiheit über kleine Dinge. Wir vergessen zu schnell, wie neu unsere selbstverständlichen Rechte noch immer sind, wie hart sie errungen wurden. Gut gezeichnet auch die dräuende Ankündigung des NS-Regimes und die zögerliche Anerkennung der Wahrheit, die Schwierigkeit zu handeln.

Die letzten Lebensjahre werden nur noch gestreift, hier hätte ich mir noch etwas Ausführlichkeit gewünscht, so kommt das Ende des Romans doch etwas abrupt. Und auch die Ehemänner erhalten nicht viel Tiefe, einerseits verständlich in einem Roman, der auf die Frauen fokussiert, andererseits wird so ihr Verhalten, das die Frauen zwar irgendwie machen lässt, sie aber auch nicht wirklich ernst nimmt und unterstützt, wenig nachvollziehbar. Wahrscheinlich gab die Datenlage nicht mehr her, aber hier hätte dann vielleicht etwas schriftstellerische Freiheit dem Roman noch etwas mehr Zug und Ambivalenz verleihen können.

Insgesamt liegt hier aber ein starker, gut recherchierter historischer Roman vor uns, der Maria Herz, ihr Leben, ihre Kompositionen und die vielen Frauen dieser Zeit wieder ins Leben und in die Erinnerung holt. Absolut lesenswert.

Bewertung vom 27.12.2024
Die blaue Stunde
Hawkins, Paula

Die blaue Stunde


ausgezeichnet

Brillanter Psychothriller-Pageturner mit Tiefgrund

„Die blaue Stunde“, nach dem unglaublich erfolgreichen Bestseller „Girl on the Train“ der neue Roman von Paula Hawkins, erschienen Anfang 2025 bei dtv, ist ein packender psychologischer Thriller, der die Spannung untergründig durchführt und sich neben den Abgründen, die in Menschen wohnen, auch mit der Rolle der Künstlerin in der heutigen Zeit beschäftigt, was der Story eine größere Dimension verleiht.

Auf der Oberfläche der Handlung geht es um einen Erbschaftsstreit: Die Künstlerin Vanessa Chapman, an Krebs verstorben, hinterlässt ihr gesamtes Werk überraschend der Fairburn Stiftung, überraschend deshalb, weil sie mit dieser zuletzt zerstritten war und alle Verbindungen gekappt hatte. Ihre Freundin und Nachlassverwalterin Grace gibt sich zögerlich beim Zusenden aller Werke sowie Notizen und Tagebüchern. Als nun in einem der skulpturalen Werke von Chapman ein menschlicher Knochen auftaucht, kommt eine Lawine ins Rollen, die weit flächendeckender ist als am Anfang erahnt.

Hawkins nutzt viele formale Mittel, um die Chronologie der Ereignisse aufzubrechen, Rückblenden, Zeitungsartikel, Briefe, Tagebucheinträge, E-Mails, Ausstellungskataloge bringen den Handlungsstrang immer wieder gelungen in Diskontinuität, so dass sich erst nach und nach ein Puzzle aus Vergangenheit und Jetzt-Zeit zusammensetzt. Die Schreibe ist gewohnt flüssig und dynamisch, Hawkins schreibt lebendig und detailreich, ohne je zu überfrachten. Die Charaktere sind greifbar und konkret, die Atmosphäre ist dicht gewoben, die Kargheit und Einsamkeit der Insel Eris, der Haupthandlungsort, ist jederzeit spürbar, genauso wie das Grollen von Eifersucht und Ehrgeiz, das unter der Handlung liegt und sich immer wieder in Unwettern, auch ganz realen, entlädt. Das Ende ist irgendwann einerseits erahnbar, in seinem Ausmaß dann aber doch sehr verblüffend.

Ein großer Pluspunkt ist die feministische Perspektive, die Hawkins bei der Betrachtung der Kunstwelt und auch der Welt generell einnimmt. Immer wieder webt sie geschickt und plausibel Anmerkungen in die Erzählung ein, die mehr als deutlich machen, wie sehr weiblich gelesene Menschen in der (Kunst-)welt noch immer viel härter um Erfolg kämpfen müssen als ihre männlich gelesenen Kollegen. Auch analysiert sie treffend die Überinterpretation von Kunstwerken, die manchmal schlicht aus einer Notwendigkeit geboren werden. Damit verleiht Hawkins diesem packenden Roman eine größere Dimension als sie sonst oft in Suspense-Prosa zu finden ist.

Unter allem wohnt auch eine große Liebe zu den einsamen Menschen dieser Welt, den vielleicht etwas skurrilen Menschen, die es nicht schaffen, einen Mainstream zu bedienen oder das vielleicht auch gar nicht wolle, den Verletzten, sozial ausgegrenzten, für die unsere Gesellschaft kaum Aufmerksamkeit übrighat. Hawkins verurteilt nicht, sie konstruiert ein folgerichtiges System des verletzten Hassens, in dem eine große indirekte Solidarität unter Frauen herrscht, die jede auf ihre Art gegen Misogynie kämpfen.

Ein Roman, der von der ersten bis zur letzten Seite begeistert und verdient erneut zum Bestseller werden wird. Volle Punktzahl für ein mehr als spannendes Leseerlebnis, das das Jahr 2025 perfekt eröffnet und die Messlatte hoch setzt.

Bewertung vom 26.12.2024
American Mother
McCann, Colum;Foley, Diane

American Mother


gut

Ein vielleicht nicht lösbarer Konflikt

„American Mother“, von Colum McCann und Diane Foley, erschienen 2025 bei Rowohlt, beschäftigt sich mit der Entführung, Geiselhaft und Hinrichtung des Kriegsjournalisten James Wright Foley in Syrien 2012-2014 – und vor allem mit dem emotionalen Kollateralschaden, den diese Entführung bei seiner in den USA zurückbleibenden Familie und hier insbesondere seiner Mutter Diane, der Co-Autorin des Buches, anrichtet.

McCann hält sich schriftstellerisch weitestgehend zurück und versucht, so scheint es, vor allem Diane Foley eine Stimme zu geben für diese Geschichte, die deren Leben in den letzten 15 Jahren vollkommen bestimmt hat. Das ist einerseits ein sehr nobler Zug von McCann, andererseits hätte dem Buch mehr Außenperspektive und analytische Einordnung sehr gutgetan.
Der Fall erzeugte seinerzeit großes öffentliches Interesse aufgrund eines viral gehenden Videos, in dem die Enthauptung Foleys als tragisches Finale seiner Entführung und Geiselhaft live dokumentiert wurde. Die Familie erfuhr von diesem Video durch Journalisten mit Interviewanfragen – eine Situation, die ganz sicher niemand so erleben sollte.
In „American Mother“ folgen wir über knapp 270 Seiten dem Erleben, der Erinnerung und den Gedanken und Fragen von Diane, der Mutter von James, und ihrem Hadern mit dem Handeln oder besser Nicht-Handeln der amerikanischen Regierung. Sie stellt vehement die moralische Frage, wer für zivile Journalisten, die sich als Freelancer in Kriegsgebiete begeben, um von dort zu berichten, Verantwortung übernehmen sollte und inwiefern es Aufgabe des Staates ist, hier schützend eine Hand über diesen Personenkreis zu halten.
Ausgang und Endpunkt des Buches ist eine Begegnung von Diane mit Alexanda Kotey, einem der Entführer von James, in der sie einerseits versucht, mehr Erkenntnis über die Motive der Entführer und James Zeit in der Geiselhaft zu gewinnen, andererseits in sich danach sucht, ob sie einen Weg finden kann zu vergeben. Diane ist äußerst christlich geprägt und ihr Glauben ist für sie eine wichtige Richt- und Halteschnur im Leben. Diese starke Gläubigkeit hat mich im Verlauf des Buches schon an Grenzen meiner eigenen Toleranz geführt, in Momenten, in denen Diane beispielsweise die Frage, ob James beten konnte, vor die Frage, ob er genug Nahrung bekam, stellt, konnte ich nicht mehr folgen. Andererseits eine attraktive Ausgangsituation, dass sich hier letztlich zwei fanatisch gläubige Systeme gegenüberstehen, die nur unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Dass dieses Fakt nicht ein einziges Mal analysiert und reflektiert wird, ist für mich ein großes Manko des Buches.
Diane stellt heraus, wie sehr sie die Zeit, die James in der Geiselhaft verbringt und ebenso die Zeit danach, versucht, möglichst keine Gefühle zu zeigen und die Fassung zu bewahren. Mich hat das verwundert, was mag ihr so wichtig daran sein, woran liegt es, dass sie Emotionalität so verdammt? Gerne hätte ich mehr über Dianes Leben erfahren, um ihre Reaktionen und ihren starken Glauben besser einordnen zu können, doch leider erfahren die Leser:innen hier nur sehr wenig.
„American Mother“ heißt das Buch – und genau als solche zeigt sich Diane für mich auch: Politisch naiv – aber sehr schützend und kämpferisch. Ihr Patriotismus ist eher eine Begründung bei der Suche nach individueller Hilfe. Großen Respekt habe ich vor ihrer Lösungsstrategie: Sie gründet eine Stiftung, die sich seither aktiv für in Geiselhaft geratene Menschen im Ausland einsetzt und schon viel bewirkt hat. Davor kann man nur den imaginären Hut ziehen.
Dieses Buch final zu bewerten ist sehr schwierig, weil es einen mit vielen Fragen an die eigene Ethik und Moral konfrontiert und die Bewertung unter Umständen massiv abhängig ist von den eigenen Urteilen, die wir fällen. Eine schriftstellerische Bewertung erscheint mir dagegen kaum möglich, weil ich den Eindruck habe, der Autor verschwindet bis auf wenige Stellen weitestgehend im Hintergrund, er geht in Diane auf. Sie formuliert in der Danksagung, er wäre ein Freund geworden – für mich stellt das ein Problem dar, denn diese Haltung ist einem Sachbuch oder auch einer Biografie nicht dienlich. Dem Buch fehlen Fokus und Einordnung, es fehlt an Reflektion und Objektivität. Der zugrundeliegende Fall und die ethischen Fragen, die dieser aufwirft, sind sehr spannend. Aber insgesamt konnte mich das Buch leider nicht überzeugen. Es bleibt daher für mich bei 3 Sternen und der Empfehlung, sich zusätzlich unbedingt die Doku „Jim Foley – Die Realität des Terrors“ begleitend anzuschauen.

Bewertung vom 08.12.2024
Die Tochter der Drachenkrone
Qunaj, Sabrina

Die Tochter der Drachenkrone


ausgezeichnet

Perfekt geglückter Reihenauftakt mit Suchtfaktor

„Die Tochter der Drachenkrone“, von Sabrina Qunaj, erschienen 2024 im Aufbau Verlag, ist der packende Auftakt zu einer neuen Reihe über die kämpferischen Zeiten im Wales des 12./13. Jahrhunderts – und lässt mich jetzt schon dringlich auf Band zwei warten. Für alle Fans von Rebecca Gablé ein Muss, denn von der Qualität der Recherche, des Schreibstils und des Plots befinden wir uns hier absolut auf Augenhöhe.

Im Zentrum des Geschehens steht die junge Fürstentochter Gwenllian, die Tochter der Drachenkrone, die nach dem Tod ihres Vaters immer wieder um ihre Unabhängigkeit und ihre Heimat kämpfen muss und geworfen ist zwischen die Loyalität zu ihrem Heimatland und den Briten, ihrer Familie, die immer weiter in Lager zerbricht und ihrer Liebe und damit einer neuen Gruppierung von Menschen und Volk. Wir folgen ihr in diesem Band von ihrer Jugend bis über die erste Lebenshälfte hinaus – so dass wir ihr im zweiten Band sicher noch wiederbegegnen werden.

Qunaj schreibt einfach großartig, sie bannt die Lesenden von der ersten Seite an und webt in eine durchgebundene, spannende und immer wieder mit Wendungen versehene, intensive Handlung sehr geschickt eine Menge historische Informationen über diese Zeit in Wales ein, ohne dass dieses jemals aufträgt. Die Figuren sind lebendig und identifikationsfähig, die Zerrissenheit zwischen Pflicht und Neigung wird immer wieder in allen Figuren sehr deutlich. Wie sehr das Land in seine Einzelteile zerlegt wurde, was Besatzermacht mit Menschen macht, wie hart und durchweg kriegerisch geprägt diese Zeit war, und wie Kinder und Frauen als Mittel zur Macht genutzt wurden mit hoher Grausamkeit – all das macht Qunaj mehr als deutlich. Es ist ein entpsychologisiertes Zeitalter, was man auch daran festmachen kann, wie schwer es den Figuren fällt, über ihre Gefühle zu sprechen. Dass Qunaj das mit ins Zentrum ihres Romans stellt, ist für mich ein großer Verdienst, zu oft wird hier in historischen Romanen die Gefühlsskala des 21. Jahrhunderts angelegt, was wenig glaubwürdig ist – eine Falle, die Qunaj souverän umgeht und uns dennoch beim Lesen ständig das Herz aus dem Leib reißt.

Gwenllian ist eine starke Frauenfigur mit einer seherischen Gabe, die aber die Handlung nicht dominiert, so dass es in dem Sinne kein phantastisches Element gibt, es ist eher gute Wahrnehmung, die diese Figur auszeichnet, was sie auch zum Dreh- und Angelpunkt prädestiniert. Dass Qunaj ihrer Heldin dennoch auch Schwächen zuschreibt und Fehler, macht sie zugänglich und komplex, was auch für die weiteren Hauptfiguren zutrifft. Hier ist niemand nur schwarz oder weiß. Dabei wird vor allem auch beleuchtet, wie mit mehr Macht auch mehr Verantwortung einhergeht – und dass Verantwortung zu Kompromissen nötigt und zu Handlungen und Entscheidungen, die man gar nicht so treffen möchte – im Sinne des Gemeinwohls aber muss. Ein wichtiger Aspekt, der immer wieder herausgearbeitet und so deutlich selten in historischen Romanen sichtbar wird. Das Thema der Fremdheit und der Vereinzelung von Gruppierungen innerhalb einer Bevölkerung, das Formen von Lagern und der Kleinkrieg untereinander, der eine Nation schwächt – leider wieder sehr aktuell.

Der Roman ist als Reihenauftakt in sich abgeschlossen und ohne Cliffhanger geschrieben – was ich sehr begrüße, das macht das Warten auf den nächsten Band sehr vorfreudig aber ohne Zeitdruck. Ein wirklich von vorn bis hinten gelungener erster Band, den ich schnell verschlungen habe und der genau das richtige Buch für packende Lesestunden ist. Absolute Leseempfehlung!