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Snowbird

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Insgesamt 27 Bewertungen
Bewertung vom 02.11.2025
Alle unsere Leben
Dwyer Hickey, Christine

Alle unsere Leben


ausgezeichnet

Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Milly und Pip, der eigentlich Phillip heißt, begegnen sich 1979 erstmals in einem Londoner Pup, in dem Milly hinter dem Tresen steht. Beide sind jung, beide sind Iren im Londoner Exil. Es ist eine Begegnung fürs Leben und gleichzeitig auch nicht, denn Zufälle, die falschen Ereignisse im falschen Augenblick verhindern, dass sie ein Paar werden, obwohl jedes Wiedersehen im Verlauf von beinahe 40 Jahren eine neue Chance sein könnte. Könnte, denn das Leben, das beide beutelt, kommt immer wieder dazwischen. Dabei verläuft Millys Leben über lange Phasen relativ konstant, sie fühlt sich wohl in London und hat in Mrs Oaks Pub für lange Zeit ein Zuhause gefunden. Pip dagegen wird vom Leben herumgetrieben und ist nirgendwo zu Hause.

Was diesen Roman so ungeheuer spannend und atmosphärisch macht ist die Art, wie Christine Dwyer Hickey die Geschichte dieser beiden einsamen Seelen erzählt. Die Perspektiven wechseln sich ab, wobei Milly von 1979 an in mehreren Schritten chronologisch mit eingearbeiteten Rückblicken zu Wort kommt und Pip auf der Basis seines Seins im Jahr 2017 komplett in der Rückschau auf sein Leben blickt. Dabei fügen sich ganz langsam kleine eingefügte Details wie Puzzleteile ineinander zu einem Gesamtbild, welches erst am Schluss das gesamte Panorama dessen, was beiden widerfahren ist, entfaltet. Viele kleine Ereignisse, im Augenblick des Geschehens vermeintlich unbedeutend, offenbaren ihren Einfluss auf das weitere Leben erst auf lange Sicht. Für mich ist das ganz großes Kino. Ich fühlte mich beiden Figuren sehr nahe und habe sie gerne über die vier Jahrzehnte begleitet. Gleichzeitig ist der Roman auch eine Hommage an London, indem er bezeugt, wie sich die Stadt über vier Dekaden verändert hat. Die Kultur der Pubs ist im Niedergang begriffen, Investoren kaufen alles auf, reißen es ab und errichten Glasfassaden in einer jetzt futuristisch anmutenden Stadt. Nachbarschaften verändern sich, Menschen sterben oder ziehen weg, weil die Veränderung kein Zuhause mehr bietet. Dieser Roman gehört um Besten, was ich dieses Jahr gelesen habe.

Bewertung vom 01.11.2025
Mein Freund Rilke
Garanin, Melanie

Mein Freund Rilke


sehr gut

Geboren ist Rilke in Prag, am 4. Dezember 1875. Dieses Jahr wäre sein 150. Geburtstag. Ihm zu Ehren soll die Journalistin Ellen über sein Leben schreiben. Nun, eine große Rilke-Liebhaberin ist sie nicht, hat ihn für sich unter „Trauerkartenbeschrifter“ abgespeichert. Sie muss sich zunächst ein Bild von ihm machen. Wo ginge das besser als in Worpswede, wo sich ausgewiesene Rilke-Kenner treffen werden. Dort beginnt Ellen mit ihrer Recherche.

Die Graphic Novel ist in drei Teile gegliedert, die auf den wesentlichen Aufenthaltsorten Rilkes aufbauen, nämlich Worpswede, Paris und Sierre. Detailreich erzählt die Autorin aus Rilkes Leben und vermittelt ein so umfassendes Bild von ihm, das man in einer Graphic Novel nicht vermuten würde. Sie gibt ihrer Handlung zwei Zeitebenen - die historische und eine aktuelle, in der wir Ellens Weg auf den Spuren Rilkes begleiten. Diese beiden Ebenen sind optisch sehr gut zu unterscheiden, denn Rilkes reale Zeit ist in Sepia gehalten, die aktuelle Ebene ist bunt. Und was mir total gut gefällt: anders als häufig in Graphic Novels ist die Schrift in augenfreundlicher Größe. Die aktuellen Texte sind in Ellens Schreibschrift und aus ihrer Sicht, man könnte das Ganze also Erfahrungs- oder Erlebnisbericht benennen, die historischen sind in Druckschrift. Ergänzt werden beide Teile durch sehr zahlreiche Zitate aus Rilkes - wie ich finde, nicht immer leicht zugänglichem - Werk.

Das Buch ist sehr kurzweilig zu betrachten und zu lesen, die Figur der Ellen ist in ihrer mal genervten, mal gelangweilten, mal frustrierten und oft auch überrascht-begeisterten Haltung sehr lebensecht und einfach genial. Es sind tolle Bilder, eine sehr unterhaltsame Rahmenhandlung mit Zeitreise-Faktor, und ich habe sehr viel Neues über Rilke erfahren, soviel, dass ich es nach einmaliger Lektüre gar nicht greifen kann. Deshalb werde ich Ellen sicherlich noch öfter auf ihrer Rilke-Lebensspurensuche begleiten.

Gestorben ist Rilke übrigens am 29. Dezember 1926. Er wurde leider nur 51 Jahre alt.

Bewertung vom 26.10.2025
Der Junge im Taxi
Prudhomme, Sylvain

Der Junge im Taxi


ausgezeichnet

Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer.

Ich liebe ja Bücher, die auf wenigen Seiten eine Geschichte wie ein ganzes Leben entfalten. Die kein Wort zu viel enthalten. Die in mir Bilder erzeugen, mich unausgeschriebene Gedanken weiter denken lassen, die mir die Frage aufdrängen, was würde ich denn in dieser Situation jetzt tun. Genau so ein Buch ist „Der Junge im Taxi“.

Auf der Beerdigung seines Großvaters erfährt Simon von seinem deutschstämmigen Onkel, dass eben jener Großvater neben seinen 4 Kindern mit seiner Ehefrau einen weiteren Sohn in Deutschland hat, ein Sohn, dessen Existenz verdrängt und verschwiegen wird. Malusci, der Großvater, war kurz nach dem Krieg als ganz junger Mann Besatzungssoldat in Deutschland, am Bodensee, und dort verliebte er sich. Simon kann das zunächst überhaupt nicht fassen. Wer war sein Großvater? Er beginnt zu recherchieren und spricht mit seinen Verwandten, doch die reagieren sehr unterschiedlich, von Gleichgültigkeit über Interesse bis Ablehnung und Verleugnung ist alles dabei.

Simon erfährt von dieser Geschichte in einer Phase seines Lebens, die alles andere als einfach für ihn ist, denn nach 20 Jahren haben er und seine Partnerin, die Mutter seiner beiden kleinen Söhne, ihre Beziehung beendet. Es gab keinen konkreten Auslöser, keinen point of no return, sondern beide mussten schmerzlich erkennen, dass es schon länger nicht mehr richtig passte mit ihnen. Simon ist unendlich traurig und noch dabei, sich an das Leben ohne A., seine Partnerin, zu gewöhnen. Ihr Arrangement ist so, dass die Söhne weiterhin im gemeinsamen Haus leben, und er und A. wohnen wechselweise dort. Simon leidet unter der zeitweisen Trennung von den Jungs. Dabei, denkt er, könnte er die freie Zeit genießen, Zeit, die er, seit die Kinder auf der Welt sind, nie mehr hatte, und Dinge tun, für die keine Zeit zu haben er stets bedauerte. Doch jetzt fühlt er sich seltsam verloren. Und der teilweise Verlust seiner Söhne wirkt sich aus auf seine Gedanken über den vom (Groß-)Vater verlassenen Sohn. Wie ist es M., dem vaterlosen Sohn, und seiner Mutter ergangen? M. ist kein Einzelfall. 400.000 Kinder wurden von Besatzungssoldaten in Deutschland gezeugt, Besatzungskinder nannte man sie. Ein Teil hatte das Glück, dass die Eltern als Paar zusammenblieben und genossen so ein ganz normales Familienleben. M. und seine Mutter jedoch nicht. Haben ihre deutschen Landsleute ihr, dem Franzosenliebchen, das Leben schwer gemacht? Und M.? Hat man ihn spüren lassen, dass er ein Besatzungskind war, ein Kind, das es eigentlich nicht geben dürfte? Simon ist sehr hin- und hergerissen was er tun, was er denken soll. Zum Teil recherchiert er, zum Teil konstruiert er sich in seinen Gedanken zurecht, wie es gewesen sein könnte. Und gleichzeitig hilft ihm dieser ihm so unerwartet zugefallene Onkel, sich mit seiner eigenen Situation nach und nach zu arrangieren.

Auf nicht einmal 200 Seiten entfaltet Prudhomme zwischen zwei Buchdeckeln eine Lebens- und Familiengeschichte, die mich vollkommen in sich hinein gezogen hat. Ein wahnsinnig intensives Leseerlebnis, das mich noch lange beschäftigen wird. Wofür sich mir allerdings keine Erklärung aufdrängt ist die Frage, warum der Autor A. und M. keine vollständigen Namen zugesteht, sondern es bei den Anfangsbuchstaben belässt. Trotzdem ganz große Leseempfehlung!

Sylvain Prudhomme verbrachte seine Kindheit in verschiedenen afrikanischen Ländern, studierte in Paris Literaturwissenschaften, um danach wieder in Afrika zu arbeiten. Er hat bereits mehrere Romane geschrieben und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Mit der „Junge im Taxi“ hat er mich absolut überzeugt, so dass ich weitere seiner Bücher lesen werde.

Bewertung vom 02.10.2025
No Way Home (deutschsprachige Ausgabe)
Boyle, T. C.

No Way Home (deutschsprachige Ausgabe)


ausgezeichnet

Erkennt er die Abwärtsspirale nicht, in die sie ihn zieht? Das habe ich bis zum Schluss nicht begriffen. Aber - that’s life, ich kann mich da nur wiederholen. In der Liebe setzt der Verstand aus, oder wechselt die Etage, oder beides. Vermutlich weiß er, dass sie nicht gut für ihn ist, und sie weiß, dass der Ex nicht gut für sie ist. Tja. Wie kommt mann/frau da raus? Das ist genau die Frage, für die es keine Lösung gibt.

Boyle erzählt seine Geschichte aus drei Perspektiven, von denen Terry den umfangreichsten Part einnimmt. Dieser Wechsel ist total spannend, weil dadurch klar wird, wie die Beteiligten ticken. Bethany - nicht richtig, aber das merkt man auch vorher schon, nur sie selbst bekommt es nicht mit. Und Jesse, ihr Ex - der ist innerlich viel unsicherer, als er von außen erscheint. Aber ein Kotzbrocken, noch dazu ein gefährlicher, bleibt er dennoch. Ich würde ja sagen, Bethany sollte den Tag verfluchen, an dem sie ihm begegnet ist. Aber das wäre zu viel Absolution, denn ich denke, an ihrem unsteten Charakter hätte das nichts geändert. Ich wünsche Terry von Herzen, dass er die Kurve noch kriegt, das hat er nicht verdient, aber - wer weiß.

Typisch für Boyle ist auch dieser Roman nicht frei von Gesellschaftskritik, doch drängt sich diese nicht in den Vordergrund, man bekommt sie nebenbei mit serviert, und zwar immer dann, wenn wenn die drei Protagonisten an natürliche Grenzen ihres Daseins stoßen, sei es die Abzahlung eines immens hohen Studienkredits, die Unmöglichkeit, eine bezahlbare Bleibe zu finden, die Schrecken des Gesundheitssystems oder die nicht vorhandene soziale Absicherung.

Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk van Gunsteren.

Bewertung vom 10.09.2025
Die Unbehausten
Kingsolver, Barbara

Die Unbehausten


ausgezeichnet

„Aber alle Regeln haben sich geändert, und es ist schwer, den Leuten dabei zuzusehen, wie sie immer weitermachen, als wäre alles ganz normal.“ Zitat von Seite 554.

Sätze wie dieser sind es, die mich immer wieder haben schlucken lassen bei der Lektüre von Barbara Kingsolvers großartigem Roman „Die Unbehausten“. Denn unbehaust werden wir sein in absehbarer Zukunft, nicht alle, und nicht überall auf der Welt, aber alle werden mit den Ursachen und den Auswirkungen dieser Unbehaustheit zu tun bekommen. Denn vermutlich wird es uns nicht gelingen, den weiteren Klimawandel noch aufzuhalten, und auch die politischen Entwicklungen in Ländern, die gerade noch Demokratien und blühende Wirtschaften waren, stimmen nicht hoffnungsfroh.

Kingsolver erzählt auf zwei Zeitebenen vom Leben in den Vereinigten Staaten. Eine Zeitebene sind die letzten Monate der Präsidentschaft Obamas. Der Name seines Nachfolgers wird kein einziges Mal genannt, und doch ist stets klar, von wem die Rede ist. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten sind selbige nicht mehr so unbegrenzt - zumindest nicht nach oben. Nach unten dagegen sind dem Abstieg keine Grenzen gesetzt, eine Erfahrung, die die Erzählerin Willa und ihr Mann machen müssen, obwohl sie ihr Leben lang um ein wirtschaftlich abgesichertes Leben bemüht waren. Ihren beiden Kindern sollte es besser gehen. Nun ist Willa unfreiwillig selbstständige Journalistin mit null Aussicht, in ihrem Alter noch einmal eine Festanstellung in diesem Beruf zu bekommen, und Iano, ihr Mann, hat auch nur einen befristeten Lehrauftrag an einer Uni. Ihr Sohn hat gerade seine Partnerin verloren und steht nun mit einem Neugeborenen da, und ihre Tochter ist nach Jahren aus Kuba zurück und bei ihnen eingezogen. Als ob dies alles nicht schon belastend genug wäre, leben sie in einem vor kurzem ererbten Haus, das buchstäblich vor ihren Augen auseinander bricht. Grundlegende Fehler in der Bausubstanz, irreparabel. Dass an diesem Haus seit Anbeginn geflickschustert wurde, können sie nicht ahnen. Der Bauherr, schlecht beraten, hat in den 1870ern auf Sand gebaut. Schon seine damaligen Bewohner hatten die gleichen Probleme.

Womit wir bei der zweiten Zeitebene wären. Der junge Naturkundelehrer Thatcher Greenwood lebt seit kurzem mit seiner Frau und deren Mutter, die die Besitzerin ist, und Schwester in diesem Haus. Er freundet sich mit der Nachbarin an, Mary Treaty, eine später sehr angesehene Naturforscherin ihrer Zeit, doch das ist damals noch nicht weithin bekannt. Sie steht in regem Briefwechsel mit Charles Darwin und arbeitet anderen Forschern zu, absolut untypisch für eine Frau ihrer Zeit. Thatcher hat es schwer an seiner Schule, denn der Direktor schwört den modernen Wissenschaften ab, hält sie für Blasphemie, einzig die Bibel lässt er gelten. Eine Situation, in der Thatcher nicht glücklich werden kann, nicht in dem Haus, nicht in dieser Schule, nicht mit … aber ich will ja nicht alles verraten.

In beiden Zeitebenen kann das Haus seinen Bewohnern keinen Schutz bieten, nicht im wörtlichen und nicht im übertragenen Sinn. In beiden Ebenen vollziehen sich tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft, die nicht auf die einzelnen Personen beschränkt bleiben werden. Besonders beeindruckt haben mich zwei Frauenfiguren. Einmal ist da Mary Treaty, die Forscherin, aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammend, deren Erwartungen sie jedoch mit ihrem unangepassten Lebensstil nicht erfüllt. Ich bewundere den klugen Geist, das Beharrungsvermögen, die Beobachtungsgabe und die Ausdauer dieser ungewöhnlichen Frau, die über keine universitäre Bildung verfügte und sich keinen Deut darum scherte, was ihre Zeitgenossen von ihr hielten. Die andere ist Tig, die Tochter von Willa. Tig musste immer kämpfen, nichts ist ihr jemals leicht gefallen, ganz im Gegensatz zu ihrem gutaussehenden, erfolgreichen Bruder, der sie das spüren lässt. Doch Tig hat einen messerscharfen Verstand, den absoluten Durchblick und die von mir sehr bewunderte Fähigkeit, mit wenigen Worten Dinge für jeden verständlich herunter zu brechen und augenöffnend ganz klar auf den Punkt zu bringen. Wow! Barbara Kingsolver hat einen mich sehr begeisternden Roman geschrieben, der ein paar Passagen enthält, die mich das Fürchten lehren. Versteht mich nicht falsch, ich weiß das alles längst, und es macht mich wütend, traurig und fassungslos, aber diese nicht zu leugnenden Wahrheiten in diesen knappen, prägnanten Worten zu lesen, die Kingsolver der jungen Frau in den Mund gelegt hat, das macht mich fertig.

„Aber alle Regeln haben sich geändert, und es ist schwer, den Leuten dabei zuzusehen, wie sie immer weitermachen, als wäre alles ganz normal.... In kleinen Dingen können die Menschen sich ändern, aber wenn’s um was Großes geht, würden sie lieber sterben. Sie haben ihr ganzes Leben in dem Glauben gelebt, dass die Speisekammer nie leer sein wird, und die Vorstellung, dass der Planet verbraucht ist, macht ihnen eine Scheißangst. “ - Zitat Tig auf Seite 554. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Bewertung vom 12.08.2025
Schwebende Lasten
Gröschner, Annett

Schwebende Lasten


ausgezeichnet

Hanna hätte meine Großmutter sein können. Im Deutschen Kaiserreich geboren und wenige Jahre nach der Wiedervereinigung gestorben, hat sie in 5 deutschen Systemen gelebt und zwei Weltkriege überstanden. Aufgewachsen ist sie als jüngste inmitten von vier Schwestern in Magdeburg. Dort hat sie mit einer kurzen Unterbrechung in Berlin ihr ganzes Leben verbracht, ihren Karl geheiratet, 6 Kinder bekommen und den Schrecklichkeiten des Zwanzigsten Jahrhunderts getrotzt. Hanna hat furchtbare Dinge gesehen und erlebt, Dinge, mit denen man kaum weiterleben kann. Aber sie hat nie aufgegeben, ist immer wieder aufgestanden und hat weitergemacht, weil man eben weitermacht, irgendwie, und wurde so der Inbegriff einer resilienten, widerständigen Frau.

Aus einer Familie von Blumenbindern stammend, wurde auch Hanna Blumenbinderin. Ein paar Jahre lang hatte sie ihren eigenen Blumenladen, am Rande des Stadtteils Knattergebirge, den es heute nicht mehr gibt, bis die Mangelwirtschaft des zweiten Weltkriegs Blumen obsolet machte. Doch das änderte nichts daran, dass Blumen ihr lebenslang eine große Freude und Inspiration waren und sie auch unter widrigsten Umständen begleitet haben.

Hanna ist der Motor ihrer Familie, denn ihr Mann Karl, Familienoberhaupt und Ernährer im klassischen Rollenverteilungsmodell, hat viel persönliches Pech im Leben. Davon abgesehen, dass er einfach nicht der Typ ist, der Dinge organisiert und auf den man sich blind verlassen kann, verliert er bei der Arbeit zunächst ein Bein und im Alter durch Krankheit seine Stimme. Er bleibt sein Leben lang auf Hanna angewiesen, und auf Hanna ist Verlass. Und nein, dies ist wahrlich nicht das Leben, das sie sich erträumt hat. Hätte sie, als sie noch eine Wahl hatte, bei der Schwester Margarete in Berlin bleiben sollen? Aber Hanna ist kein Typ für hätte, wäre, könnte. Das Leben ist, wie es ist, und sie nimmt es, wie es kommt. Was soll man auch sonst machen. Hanna steht ihren Mann, und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn 25 Jahre lang ist sie Kranfahrerin in den Krupp-Gruson-Werken, die zuerst Stahl, dann für den Krieg und in der DDR für den Plan produziert haben. Darauf ist sie stolz.

Mit Hanna hat die Autorin eine Figur erschaffen, die exemplarisch für eine ganze Generation von Frauen die gesammelten Möglichkeiten vom Leid des Zwanzigsten Jahrhunderts auf ihren Schultern trägt, denn das Schicksal meint es nicht gut mit ihr, Hanna lässt nichts aus. Der frühe Verlust der Eltern, Verlust des Ladens und der Wohnung, viele Jahre am Rand des wirtschaftlichen Ruins, zwei tote Kinder im Krieg, Verschüttung, Ausbombung, Trümmerfrau, jahrzehntelange Sorge um den Mann und einiges mehr, die Liste ist lang. So wird Hanna zum Spiegel dieses Jahrhunderts am unteren Ende der Gesellschaft. Klaglos macht sie immer weiter.

Gerahmt wird Annas Leben von den geliebten Blumen. Eines Tages, sie ist noch jung, kommt ein Mann zu ihr ins Geschäft, gut situiert, gebildet. Er zeigt ihr die Postkarte eines Blumengemäldes aus dem 17. Jahrhundert, „Blumenvase in einer Fensternische“ von Ambrosius Bosschaert dem Älteren. Diesen Strauß hätte er gerne gebunden,und Hanna ist die einzige Floristin, der er diese Aufgabe zutraut. Sie muss ihn jedoch enttäuschen, denn die Blumen, die sie dafür bräuchte, blühen niemals alle gleichzeitig, und was heute in Zeiten von Globalisierung und unbegrenzten Kühlmöglichkeiten problemlos zu bewerkstelligen wäre, bleibt in den 30er Jahren unmöglich. Sie verspricht, ihr Bestes zu tun, um einen ähnlichen Strauß zu kreieren. Diese Aufgabe lässt ihr Zeit ihres Lebens keine Ruhe und verfolgt sie durch die kommenden Jahrzehnte.

Dieses Handlungselement spiegelt sich im Aufbau des Buches, denn den einzelnen Kapiteln, 25 sind es, sind Blumen und ihre Definitionen vorangestellt, außerdem 4 Kleintiere. Sie alle sind Bestandteil des Blumenstraußes von Bosschaert. Damit bilden sie gleichsam das Gerüst für diesen Roman und für Hannas Leben. Denn wie anders sollte man „schwebende Lasten“ fixieren, damit sie in der Schwebe bleiben und nicht abstürzen und alles andere unter sich begraben? Diese Rahmung durch Blumen, zu deren Expertin sie wird, als Stütze und Begleitung für Hannas Leben machen die Besonderheit dieses Romans aus, der herausragt unter den Büchern über starke Frauen. Hätte Annett Gröschner einfach nur Hannas Leben erzählt, wäre es irgendein Leben gewesen. Vielleicht das meiner Großmutter.
Ein Jahrhundertzeugnis in einem Menschenleben.

Die Stadt Magdeburg wurde im 2. Weltkrieg sehr stark zerstört und ist heute in Teilen nicht mehr wiederzuerkennen. Auch dieser Stadt, in der sie 1964 geboren ist, setzt Annett Gröschner mit ihrem Buch ein Denkmal.

Bewertung vom 11.08.2025
erzähl ich morgen
Klee, Mareike

erzähl ich morgen


ausgezeichnet

Ach war das schön! Das erste Mal seit vielen Jahren habe ich einen Roman in einem Rutsch weggelesen, war abgetaucht, nicht ansprechbar. Ich habe mich so unglaublich zu Hause gefühlt in diesem Buch. Die B 96 durch Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern - wie oft bin ich die selbst gefahren von Leipzig nach Greifswald und/oder in Gegenrichtung. Die weitläufigen Strände und die Steilküsten der wunderschönen Insel Rügen, der fassungslose Blick auf die Ruine und später den sanierten Koloss von Prora - das habe ich alles mit eigenen Augen gesehen. Und wie lebendig kommt die Erinnerung an durchtanzte Nächte in viel zu lauten Lokalitäten zurück, in denen auch ich es, ähnlich wie Hedwig, leider nie so gut aushalten konnte. Für mich ist dieser Roman wahrlich ein großes Geschenk.

Wie eine Kurzgeschichte beginnt Mareike Klee ihren Roman „Erzähl ich morgen“. „Ich hatte in der Gegend zu tun, sagt er unbekümmert und schiebt seine Hände in die Hosentaschen.“ Mit diesem Satz steht der Endzwanziger Avi im Büro der Professorin Hedwig, die er ein paar Tage zuvor bei einer Veranstaltung kennen gelernt hatte und unbedingt wiedersehen muss. Hedwig ist eine Generation älter als Avi und reagiert zunächst abweisend, doch der charmante Avi überzeugt sie, mit ihm auszugehen. Dem Abend folgt ein gemeinsames Wochenende auf Rügen. In Hedwig kämpfen Verstand und Gefühl, und entgegen ihres verkopften Charakters kann sie dem charismatischen jungen Mann nicht widerstehen. Was er von ihr will, ist klar, er ist von Beginn an sehr deutlich in seinen Avancen. Aber was will sie? Offensichtlich scheint ihr etwas in ihrem Leben zu fehlen, nur hat sie das selbst bis grade nicht gewusst. Sehr behutsam schimmert an einigen Stellen durch, dass sie sich dem jungen Mann aber auch intellektuell überlegen fühlt, und Avi, schockverliebt, nie um Worte verlegen, befürchtet auch, „nicht in ihrer Liga zu spielen“.

Nach und nach erfahren wir als Leser*innen wie nebenbei Details aus beider Leben und wissen schließlich mehr Einzelheiten über sie als Avi und Hedwig voneinander.

Perspektivisch folgt die Autorin Hedwigs Gedankengang. Der Text ist sehr dialogreich, und die Gespräche zwischen Avi und Hedwig, die er Hetty nennt, die mitunter auch Schlagabtausche sind, sind sehr unterhaltsam, manchmal lakonisch und auf jeden Fall authentisch und absolut genial. Nicht allzu häufig habe ich so realistische, überzeugende Dialoge gelesen. Vor allem Avi wirkt durch diese Dialoge sofort sehr vertraut, beinahe wie jemand, den man im richtigen Leben kennt und zu gerne kennen möchte - um einen solchen Gesprächspartner ist Hedwig wirklich zu beneiden. Hedwig hat es mir - und auch Avi - vergleichsweise etwas schwieriger gemacht, was ich aber gleichermaßen authentisch empfinde. Hedwigs Handeln und Haltung - ich verrate sie hier nicht, aber - puh! Man kann gar nicht anders, als emotional mit den beiden mitzugehen. Ich jedenfalls habe mitgefühlt und mitgelitten. Am Ende musste ich ein bisschen schlucken, es ist grandios, wie die Autorin das Dilemma erfahrbar macht und mich wehmütig mit dem Ausgang stehen lässt. Das ist „show, don’t tell“ in Vollendung. In losem Wechsel gibt es kurze Kapitel mit Social Media Chats, die Avi mit seinem Bruder führt, in sehr kurzen Sätzen, fragmentarisch fast. So können nur zwei kommunizieren, die sich ohne Worte verstehen. Diese Chats sind wichtig, weil auf sie uns einen eigenen, authentischen Blick auf Avi ermöglichen, der uns mehr verrät, als Hedwig weiß.

Eingebettet ist das Ganze in zeitgemäßen gesellschaftlichen Kontext. Wie lebt man heute als Jude der dritten oder vierten Generation nach dem Holocaust in Deutschland? Ausländerfeindlichkeit, historischer Größenwahn, Freizeitverhalten junger Erwachsener, Musik, die unterschiedliche Nutzung von Social Media - lauter Themen, die in Avis und Hedwigs Gesprächen das Gerüst für dieses Buch ausmachen.

Ihr ahnt schon, was nun folgt: lest diesen wunderbaren Roman, habt ein Date mit Hedwig und Avi, fahrt mit ihnen nach Rügen, fühlt, was sie fühlen.

Mareike Klee, *1980, ist Alt-Historikerin mit Schwerpunkt griechisch-römischer Antike. „Erzähl ich morgen“ ist ihr erster Roman. Ich hoffe, dass weitere folgen werden.

Bewertung vom 27.07.2025
Wo die Wasser sich begegnen
Ling, Zhang

Wo die Wasser sich begegnen


ausgezeichnet

Man hört immer wieder von Menschen, die ihre persönliche Geschichte oder Teile davon mit ins Grab nehmen, und durch Zufall kommt sie posthum heraus. So ist es auch bei Chunyu, der Mutter von Feng. Seit zwanzig Jahren leben sie in Kanada, und nach Chunyus plötzlichem Tod findet Feng heraus, dass ihre Mutter nicht die Person war, die sie vorgab zu sein. In China gibt es noch eine Schwester der Mutter, auch schon sehr alt, und Feng begibt sich auf eine Reise in ihre Vergangenheit in der Hoffnung, von ihrer Tante Mei die Geheimnisse ihrer Mutter zu erfahren. So beginnt Zhang Lings Roman. Was dann folgt, ist die ereignisreiche wechselvolle chinesische Geschichte des 20. Jahrhunderts, in der Chunyu wenig erspart geblieben ist - kein Wunder, dass sie ihre Tochter damit nicht belasten wollte. Aber nicht nur das, denn hinter allem, was Feng über ihre Mutter, deren Familie und ihren längst verstorbenen Vater herausfindet, der auch nicht mit Glück gesegnet war, zeigt sich zudem eine ganz andere Frau als die, mit der sie die meiste Zeit ihres Lebens zusammen gelebt hat. Und Feng überkommen Selbstzweifel, denn Vieles hat sie ganz anders wahrgenommen, als es sich nun darstellt.

Wie ein Puzzle, dessen Teile über Zeiten und Länder verstreut sind, setzt Feng das Leben ihrer Mutter zusammen. Zhang Ling hat die persönlichen Schicksale von vier Menschen und einigen Nebenfiguren so in die chinesische Geschichte des letzten Jahrhunderts eingewebt, dass alle Phasen und Aspekte illustriert werden, und das zu lesen ist nicht immer angenehm, denn Fengs Eltern und ihre Tante haben Dinge erleben und erleiden müssen, die man niemandem wünscht. Dennoch bin ich durch die Seiten geflogen, denn das Buch ist süffig geschrieben, sie erzählt ihre Geschichte sehr eindrücklich und spannend bis zum Schluss. Stilistisch ist sie sehr geschickt aufgebaut, indem sie mit Chunyus Tod in Toronto beginnt und zunächst erzählt, sie deren Leben in den letzten 20 Jahren in Kanada war und wie Feng mit dem Verlust der Mutter zurechtkommt.

Nach einigen Monaten bricht die Tochter nach China auf. Von dieser Reise und ihren Erkenntnissen dort berichtet sie ihrem Ehemann, der in Toronto zurückbleibt, in E-Mails. Gleichzeitig zeichnet sie alles, was sie erfährt, auf, um nichts zu vergessen, aber auch, um es in einem ersten Schritt zu verarbeiten, zu verdauen. Diese Berichte schickt sie ihrem Mann. Dadurch holt die Autorin ihre Leser*innen immer wieder in die Gegenwart und an die Seite Fengs zurück. Der Roman vereint Elemente eines historischen Romans, der Kulturgeschichte, einer Familiengeschichte und sogar die einer kleinen, zarten Liebesgeschichte miteinander und wirft auch Fragen auf, wieweit die Erlebnisse der Eltern das Leben und Werden der Kinder beeinflussen und ob es sie wirklich schützt, wenn ihnen die Vergangenheit vorenthalten wird, oder ob sie nicht stattdessen unidentifiziert umso schwerer auf ihnen lastet.

Der Titel „Wo die Wasser sich begegnen“ mutet auf den ersten Blick ein wenig kitschig an. „Where waters meet“ heißt der Roman im Original. Im übertragenen Sinne könnte es bedeuten „wo am Ende alles zusammenfließt“, das trifft es für mich ziemlich gut. Die sachliche Art der Protagonistin Feng sorgt in Kombination mit dem Aufbau dafür, dass die Story nie ins Kitschige abgleitet, was man bei dem Titel vermuten könnte. Ich habe viele Details gelernt. Wer Interesse an China hat, aber kein Sachbuch lesen möchte, liegt mit diesem Buch genau richtig. Und wer gerne historisch beeinflusste Familiengeschichten mag, sowieso.

Die Autorin Zhang Ling ist selbst 1986 aus China nach Kanada emmigriert. Dieser Roman ist nicht ihr erstes Buch, aber das erste, das sie auf Englisch verfasst hat. Übersetzt wurde es von Susanne Hornfeck, die Germanistin und Sinologin, Übersetzerin und Autorin ist.

Bewertung vom 22.07.2025
Die Geschichte des Klangs
Shattuck, Ben

Die Geschichte des Klangs


ausgezeichnet

Von diesem kleinen, feinen Buch bin ich derart hingerissen, dass ich es gleich zweimal hintereinander lesen musste, und selbst danach waren meine Gedanken so davon beseelt, dass ich mich nicht sofort auf eine neue Lektüre einlassen konnte. Das zeigt, wie begeistert bin.

„Die Geschichte des Klangs“ umfasst auf guten 100 Seiten zwei Erzählungen, die zwar zusammenhängen, die aber auch einzeln funktionieren. Beide sind sehr dicht erzählt und auf einer Meta-Ebene philosophisch, und in beiden Geschichten geht es um eine große Liebe. 1916 lernen sich zwei junge Männer kennen, Musikstudenten beide. Nach dem Krieg verbringen sie einen Sommer miteinander, danach sehen sie sich nicht wieder, der Kontakt reißt ab. Lionel, der Erzähler, hielt diese Begegnung lange Zeit für seine erste Liebe, den Auftakt zu einem glücklichen Leben. In späteren Jahren fragt er sich, was hätte sein können, wenn er am Ende des Sommers nicht nach Hause gefahren wäre. Jahrzehnte später erreicht ihn eine Nachricht aus der Vergangenheit.

In der zweiten Erzählung endet Annies vielversprechendes, zielorientiertes Leben zu einem Zeitpunkt, den sie jedoch in jenem Moment voller Hoffnung und Glück für den Beginn ihres richtigen Lebens hält. Beide Erzählungen werfen die Frage auf, wann man erkennt, dass man glücklich ist. Oder war. Und wann man weiß, wer die Liebe seines Lebens ist - oder war. Beide Protagonisten lassen der Liebe wegen alles stehen und liegen, ohne auch nur einen Moment zu überlegen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn sie in diesem Augenblick anders gehandelt hätten?

Shattuck erzählt davon, wie eine einzige Entscheidung das weitere Leben unvorhersehbar beeinflussen kann. Beide Erzählungen bieten viel Stoff zum Nachdenken. Wir treffen Entscheidungen und halten sie in dem Moment für gut durchdacht. Ob sie richtig waren, zeigt sich erst im Nachhinein, oft erst sehr viel später. Wir glauben im Augenblick der Entscheidung zu wissen, was richtig, was gut für uns ist. Das ist das Prinzip Hoffnung. Wir können es nicht wissen.

Shattuck hätte aus seinem Stoff einen epischen Roman machen können. Aber mit den Leerstellen, die ins Mark treffen, die so beredt sind, wie es kein Text sein könnte, erzielt er ein Maximum an Empathie, das beim Lesen beinahe körperliche Schmerzen verursacht. Viel Stoff zum Nachdenken. Für mich ein ganz grandioses Buch, das meine Vorliebe für kurze Lesestücke einmal mehr bestätigt.

Der Autor lebt in Massachusetts und wurde bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Aus dem Englischen von Dirk von Gunsteren.

Die beiden Erzählungen sind dem Buch „The history of sound“ entnommen, 2024 bei Viking Books erschienen, einem Imprint von Penguin Random House. Der Band enthält 12 Erzählungen. Schade, dass der Hanser Verlag uns die anderen 10 vorenthält.

Bewertung vom 20.07.2025
Schneeflocken wie Feuer
Conrad, Elfi

Schneeflocken wie Feuer


ausgezeichnet

Inhaltlich kommt der Roman nach „Als sei alles leicht“ und wird erzählt von Dora, die in dem vorgenannten Roman das Baby ist. Jetzt, 1962, ist sie 17, und wie die meisten ihres Alters probiert sie sich aus. Sie erzählt von ihrer dysfunktionalen Familie in ärmlichen, improvisierten Wohnverhältnissen. Dora besucht das Gymnasium, was nicht selbstverständlich ist in jener Zeit, schon gar nicht für Mädchen, hat Musikunterricht und kümmert sich auch sonst um alles. Die Mutter ist chronisch krank, außerdem unzufrieden, unglücklich und enttäuscht vom Leben und ihrem Ehemann. Im Harz hat es ihr, der ehemals glühenden Nazisse aus gutbürgerlichen Verhältnissen in Schlesien, nie gefallen, sie hat nicht das Leben, das sie leben wollte. Dora hat die Werturteile und den Blick ihrer Mutter verinnerlicht. Sie wird streng und mit Gewalt erzogen, vor allem der Vater hat genaue Vorstellungen und bestraft jedes Fehlverhalten körperlich. Die Ehe der Eltern funktioniert nicht, es wird nicht argumentiert, sondern gestritten, und der Vater hat cholerische Ausbrüche. Doras Mutter ist ihm zu jener Zeit ausgeliefert, denn wie und wovon sollte sie im Falle einer Scheidung leben? Obwohl Dora dieses Rollenmodell nicht gefällt und sie die gesellschaftlichen Konventionen ablehnt, begehrt sie nicht auf, sondern adaptiert beides, wie sich später noch zeigen wird. Die Mädchen sind alle Lolitas, so ist jedenfalls Doras Sicht, und setzen ihre Körperlichkeit ein, um die Jungs zu beeindrucken, orientieren sich an Brigitte Bardot, und das ist gesellschaftlich anerkannt. Um sich zu beweisen, macht Dora einem jungen Lehrer so lange Avancen, bis der verheiratete Mann seinen Widerstand aufgibt. Das kann nicht gut ausgehen, und für den jungen Mann endet es tragisch.

Dora erzählt ihre Geschichte als alte Frau von fast 80 Jahren, ein Klassentreffen ist der Auslöser. Sie kommentiert ihre Geschichte aus der zeitlichen Distanz, denn eingeschoben sind immer wieder Gedanken über die gesellschaftlichen Gegebenheiten zu Beginn der 60er Jahre, politische Ereignisse wie die Kuba-Krise, die die Welt für ein paar Tage an den Rand eines 3. Weltkriegs, der vermutlich ein Atomkrieg geworden wäre, brachte. Erwähnt Mauertote, der Bau der Berliner Mauer liegt gerade ein Jahr zurück. Und wie funktionierte Schule damals, wie und was wurde unterrichtet, und vor allem - was nicht? Gerade diese Einschübe und das Reflektieren der gealterten Dora über Politik und Gesellschaft und ihr heutiger Blick auf ihr junges Ich im Rahmen dieser Gesellschaft machen das Buch so interessant. Die junge Dora ist keine Sympathieträgerin, sie leidet zuweilen an Selbstüberschätzung, und ich habe den Eindruck, dass sie sich aus der Distanz der Jahre selbst nicht immer mag. Aber sie ist zugleich auch Opfer ihrer Umstände, überfordert von den Anforderungen ihrer Eltern, die sie, die Schülerin, zugleich in die Rolle der Hausfrau, der Ersatz-Mutter für die viel jüngere Schwester und in die der Pflegerin für die Mutter drängen, die als Managerin der Familie und des Haushalts ausfällt. Derart unter Druck und überfordert, ist es wenig verwunderlich, dass Dora die Konsequenzen ihres Handelns im Hinblick auf den Lehrer egal sind.

Wie auch in „Als sei alles leicht“ gibt es auch hier immer wieder Vorgriffe auf die Zukunft, und ich würde sehr gerne lesen, wie es mit Dora weitergeht, auch wenn Vieles hier schon angezeichnet ist.