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caro_phie

Bewertungen

Insgesamt 28 Bewertungen
Bewertung vom 15.10.2025
Adlergestell
Laabs, Laura

Adlergestell


ausgezeichnet

Kunstvolle Skizze der Wendezeit in Rot, Blau und Grün

Man kann sie sich bildhaft vorstellen, die Kindheit in den 90er Jahren am Stadtrand von Berlin, dort wo unentwegt die Autos über das Adlergestell rasen. Die Kinder, die mit ihren eckigen Scout-Ranzen das erste Mal die Schule betreten und ab diesem Tag nach der Schule immer direkt zum kleinen Laden rennen, wo sich jetzt der Kapitalismus in einer riesigen Auswahl Süßigkeiten manifestiert. Unter ihnen Chaline, Lenka und die Erzählerin, die schon bald Center-Shock kauend die neuen Autos, die nun überall in der Siedlung stehen, beschmieren und deren Mercedes-Sterne abbrechen.

Es ist ein Aufwachsen zwischen zwei Welten: der vergangenen der Erwachsenen und der neuen Welt, die ihre Heilsversprechen einer schöneren Welt über die Röhrenfernseher verbreitet. Bilder, die sich in Blau, Grün udn Rot auflösen, wenn man so nah an den Fernseher tritt, dass die Augen wehtun.

Kunstvoll verwebt Laura Laabs die Geschichte der drei Mädchen mit den Schicksalen ihrer Verwandten und diesen neuen Eindrücken zu einem atmosphärischen Gesellschafts- und Zeitbild, das ich wahnsinnig beeindruckend fand.

Deshalb hätte es für mich die zweite Zeitebene in der Gegenwart, in der Laura Laabs die Schicksale ihrer Protagonistinnen weiterzeichnet, nicht gebraucht. Fast wirkt es als würde die Autorin ihrem Buch eine Erklärung abringen wollen, warum gerade in den östlichen Bundesländern nun rechtsradikale Kräfte wieder an Momentum gewinnen. Aber dafür bleibt meiner Meinung nach insbesondere ihre Erzählerinnenfigur zu schemenhaft.

Abgesehen davon ist Adlergestell jedoch ein tolles Buch, das ich sehr gerne gelesen habe und dessen bildhaft, atmosphärische Sprache mich sehr beeindruckt hat.

Bewertung vom 15.10.2025
Onigiri
Kuhn, Yuko

Onigiri


ausgezeichnet

Ein warmherziges Buch über das Erinnern und Hintersichlassen

Es ist die letzte Reise für Akis Mutter Keiko nach Japan zu ihrer Familie - ein letzter Versuch Akis noch einmal Ordnung in das Leben ihrer Mutter zu bringen, das zunehmend zwischen Vergangenheit und Gegenwart zerfließt. Sie dort hinbringen, wo sie am meisten zuhause war, denn in Deutschland ist Keiko nie ganz angekommen, konnte sich nie richtig wohl fühlen. Immer wieder hielt sie sich schon in Akis Kindheit die Hände vor die Augen, musste sich ausruhen von den Eindrücken des Tages - ob in der kleinen bayrischen Wohnung, in der sie, Aki und Akis Bruder lebten, oder in der Straßenbahn. Oft zupfte die kleine Aki dann an ihrem Arm, peinlich berührt von der Mutter, die in diese Gesellschaft nicht zu passen schien.

Und auch jetzt spürt man hinter den leisen Worten, die Yuko Kuhn für diese berührende Geschichte findet, immer wieder eine unbändige Wut Akis. Wut auf die Mutter, die in Deutschland nie ihre eigene Stimme fand und es somit ihren Kindern überließ sie zu beschützen. Wut auf die Eltern des Vaters, die der Schwiegertochter die Ankunft nicht leichter machten. Wut über die Lücke, die Aki und ihr Bruder als Kinder überbrücken mussten, zwischen dem Leben mit ihrer Mutter und den Besuchen bei den Großeltern: Auf der einen Seite Erinnerungen an dampfende Miso-Suppe und Onigiri, aber auch eine Mutter, die sich oft - überfordert von der Welt dort draußen - zurückzog und ihre Kinder dem Fernseher überließ. Auf der anderen Seite Erinnerungen an Abendessen an dem großen Tisch der Großeltern, den Rücken durchgstreckt, die steife Serviette und das schwere Besteck neben sich, uralte Vorwürfe unter dem Teppich, die doch immer im Laufe des Abends hervorbrachen.

Feinfühlig verwebt Yuko Kuhn die gegenwärtige Reise nach Japan mit Akis Kindheitserinnerungen und mit den Erzählungen der Mutter, wie sie als junge Frau Japan verlassen hat und nach Deutschland kam. Es ist eine zärtliche Annäherung von Tochter und Mutter auf einer letzten gemeinsamen Reise, die einige Wunden zu schließen vermag.

Ein großartiges, warmherziges Buch, das mich sehr gerührt hat!

Bewertung vom 15.10.2025
Himmlischer Frieden
Wen, Lai

Himmlischer Frieden


ausgezeichnet

Über das Aufwachsen in einem unfreien Staat

Lai wächst in den 80ern in einer kleinen Wohnung in einem Arbeiterviertel Pekings auf. Ihr Vater, den die Geister der Vergangenheit nicht loslassen, bleibt für seine Tochter unnahbar. Die Mutter findet kaum ein gutes Haar an ihrer Tochter. Und so ist für Lai ihre Popo, ihre Großmutter, die wichtigste Bezugsperson.

Lais Kindheit spielt sich hauptsächlich auf den Gängen des großen Wohngebäudes und den Straßen davor ab, wo sie mit den anderen Kindern Streiche ausheckt. Der Regierungsbezirk Pekings ist lange für sie nur als hell beleuchtete Gebäude in der Ferne zu sehen. Doch früh muss sie die Willkür und Brutalität des Regimes kennenlernen.

Himmlischer Frieden ist ein Coming-of-Age Roman. Lai Wen erzählt unglaublich gut beobachtet von der emotionalen Auflehnung eines jungen Mädchens gegen seine Eltern, von der Suche nach einem eigenen Weg, der eigenen Identität und dem gleichzeitig zunehmenden Verständnis für die Komplexität der Welt und die Wahrheiten der Eltern.

Gleichzeitig ist das Buch viel mehr als das. Es ist ein Stück Zeitgeschichte Chinas. Von Anfang an strebt das Buch auf die Proteste auf dem Tian‘anmen-Platz, dem Platz des himmlischen Friedens, zu. Auf eine Entladung der spürbaren Wut und Angst angesichts eines Regimes das keinen Widerspruch duldet, ihn brutal niederschlägt, das Geschichte umschreibt, die Grauen der Mao-Diktatur verkennt und damit eine ganze Generation zum Schweigen bringt.

Erst auf den letzten Seiten entlädt sich die Spannung in einer gleichzeitig erschreckenden und doch grandiosen, detailreichen Schilderung der Geschehnisse auf dem Tian‘anmen-Platz. Es ist ein Ende, das mich atemlos zurückgelassen hat - tief bewegt und gleichzeitig unschlüssig, wie ich das Buch im Gesamtbild bewerten soll.

Denn entweder die Autorin, die sich hinter dem Pseudonym Lai Wen verbirgt, offenbart in den letzten Sätzen Wahrheiten über die Proteste, die so noch nicht bekannt waren oder sie fiktionalisiert eine real existierende Person in einem Maße, das in meinen Augen kritisch zu hinterfragen ist.

Ich hoffe auf Ersteres, denn dann ist Himmlischer Frieden ein Buch, das ich gerne und aus vollstem Herzen weiterempfehle.

Bewertung vom 14.07.2025
Im Leben nebenan
Sauer, Anne

Im Leben nebenan


ausgezeichnet

Aufwühlend wahr

Was ist, wenn man plötzlich mit Baby in einem fremden Leben aufwacht?

Als ich meiner Mutter Anne Sauers Romanidee skizzierte, musste sie lachen. "Ein bisschen ist das ja auch so, wenn man Kinder bekommt." Plötzlich ist das Leben nicht mehr nur das eigene. Lange bestehende Lebensrealitäten haben keine Gültigkeit mehr.

Doch Anne Sauer geht einen Schritt weiter. Nachdem sie am Abend zuvor noch in den Armen ihres Freundes in einer Altbauwohnung in irgendeiner deutschen Großstadt eingeschlafen ist, wacht Antonia tatsächlich in einem ganz anderen Leben auf. Dem Leben, das sie hätte, wenn sie sich an einer Stelle ihres Lebens anders entschieden hätte, wenn sie bei ihrer Jugendliebe und in ihrem Heimatort geblieben wäre, statt für das Studium in eine weit entfernte Stadt zu ziehen. Hat Toni sich eben noch vergeblich ein Kind gewünscht, hält Antonia es nun in ihren Armen und kann diesem neuen Leben nicht mehr entfliehen.

Auf zutiefst persönliche Weise skizziert Anne Sauer auf knapp 300 Seiten, was es heißt eine Frau zu sein, wie zentral die Frage, ob man Kinder haben will, ab einem bestimmten Alter wird und wie tiefgreifend eine Entscheidung für oder gegen ein Kind, das Leben einer Frau verändert.

Klar und gleichsam poetisch zeichnet sie das Bild einer Gesellschaft, in der Frauen ohne Kinder immer noch aus einem vermeintlichen Rahmen fallen und gleichzeitig junge Mütter oft allein gelassen werden mit einer übermäßig großen gesellschaftlichen Erwartungshaltung an sie. Sie findet Worte für Themen, die noch zu oft totgeschwiegen werden, für wiederholte Fehlgeburten, die rohe Körperlichkeit, die verbunden ist mit einem unerfüllten Kinderwunsch und wie sehr dieser den Alltag vereinnahmt. Gedanken werden angerissen, wenige ausformuliert. Aber ich bin mir sicher, dass jede Frau in den 20ern und 30ern (und ältere Frauen sowieso) die Lücken gedanklich schließen kann, sich auf vielen Seiten wiederfindet.

Für mich war "Im Leben nebenan" ein Buch, das mich sehr berührt hat, nachdenklich gestimmt hat und tief aufgewühlt zurückgelassen hat. Ich würde es jeder Person ans Herz legen!

Bewertung vom 14.07.2025
Perlen
Hughes, Siân

Perlen


ausgezeichnet

Eine Perle

Mariannes Mutter geht als diese acht Jahre alt ist. Sie tritt aus der Haustür ohne Schuhe, ohne etwas mitzunehmen und kommt nicht wieder. Die Polizei vermutet bald Selbstmord, doch die Spuren am Fluss sind vom Regen verwischt und für die Tochter beginnt ein langer Prozess des Verarbeitens eines Verlusts, der sich kaum verarbeiten lässt. Denn könnte ihre Mutter nicht noch irgendwo dort draußen sein? Und warum hat sie ihre Tochter zurückgelassen, die sie doch so liebte?

"Perlen" ist ein Schatz. Es ist ein Buch, das zum Nachdenken anregt - über die gesellschaftliche Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen - und gleichzeitig die unglaublich intensive, persönliche Geschichte einer Mutter-Tochter Beziehung erzählt. Ganz leise und poetisch kommt es am Anfang daher und trägt doch von Seite eins an eine tiefe Verzweiflung in sich - eine Zerrissenheit zwischen den kindlichen Erinnerungen von Marianne an ihre fröhliche, liebevolle Erinnerungen und dem gleichzeitigen Wissen um die psychische Erkrankung ihrer Mutter. Die anfängliche Trauer und Fassungslosigkeit schlägt mit Beginn der Pubertät in eine dumpfe Wut um und das Buch entfaltet plötzlich eine ganz neue Dynamik.

Siân Hughes schreibt in ihrer Danksagung, dass sie ihr halbes Leben an diesem Buch geschrieben hat und das spürt man auf jeder Seite. Jeder Satz schein mit äußerster Sorgfalt formuliert, jede Emotion der Protagonistin spiegelt sich in der Erzählweise wider. Ich habe selten ein Buch gelesen, das mich so sehr getragen hat, das so mühelos zwischen unterschiedlichen Erzähltempi gewechselt hat und mich am Ende absolut sprachlos zurückgelassen hat.

"Perlen" ist eines der besten Bücher, die ich dieses Jahr - wenn nicht überhaupt - gelesen habe. Eine sehr große Leseempfehlung für dieses wundervolle Buch!

Bewertung vom 14.07.2025
Stars
Kullmann, Katja

Stars


weniger gut

Ein Kratzer an der Oberfläche des Themas

Carla Mittman arbeitet in Raum G3e in einer Firma, die Behörden mit Büromöbeln ausstattet. Jeden Tag um Punkt 13 Uhr verlässt sie das Büro und geht nach Hause, wo sie sich in ihrer Freizeit als Hobbyastrologin etwas dazuverdient. Doch ihr Leben gerät aus den Fugen als vor ihrer Tür eines Tages ein Karton mit 100 000 Euro steht.

Je länger sie sich von nun an Vollzeit den Horoskopen ihrer Kund*innen widmet, desto drängender wird die Frage: "Gibt es vielleicht doch das Schicksal, an das sie bis dahin nie wirklich geglaubt hat? Oder können all die Muster, die sie entdeckt, reiner Zufall sein?"

Es ist eine Frage, die Katja Kullmann in ihrem Buch nicht zu beantworten versucht. Sicherlich berechtigterweise, denn müssen wir nicht alle einräumen, dass wir die Existenz einer höheren, lenkenden Macht nicht ausschließen können? Und so habe ich mich immer wieder seltsam ertappt gefühlt in meinem Wunsch nach rationalen Erklärungen für das ein oder andere Phänomen in diesem Buch.

Abgesehen davon hat das Buch jedoch wenig in mir bewegt. Die Protagonistin blieb unnahbar und war mir über weite Strecken des Romans unsympathisch. Andere Fragen, wie die nach den Gründen, warum sich Menschen in Zeiten der Krise der Astrologie zuwenden, schwangen im Roman mit, wurden aber nie tiefergehend betrachtet. Genauso wenig die ambivalente Beziehung von Carla Mittman zu ihrer Mutter. Und auch das Ende, das dem Roman eine vermeintliche Tiefe hätte verleihen können, wirkte für mich zu kurz gegriffen und in weiten Teilen unrealistisch.

Sehr schade, da ich den Klappentext sehr ansprechend fand und dahinter einen tiefgründigeren Roman erwartet hätte!

Bewertung vom 29.04.2025
Fischtage
Brandi, Charlotte

Fischtage


sehr gut

Wut in einer Welt, die keine Wut duldet

Ella ist 16 und sie ist wütend. Es ist eine Wut, die rot und heiß ist, die in ihrem Bauch beginnt, langsam in ihr aufsteigt, kaum zu bändigen ist und fast zwangsläufig dazu führt, dass Ella die Person vor ihr niederbrüllt.

Es ist eine Wut, die dazu führt, dass Ella sich von fremden Menschen fernhält, keine Freunde sucht, am liebsten alleine auf ihrem Fensterbrett sitzt und zeichnet. Umso schwerer wiegt es, als ihr Bruder Luis plötzlich verschwindet. Denn auch wenn sie sich zunehmend entfremdet haben, ist er doch ihr kleiner Bruder und sie doch seine Lieblingsschwester, vor der er früher keine Geheimnisse hatte.

Und so macht sich Ella auf die Such nach Luis - zusammen mit einem sprechenden Plastikfisch. Dieser Plastikfisch, dessen Präsenz sich mir bis zum Ende nicht ganz erschlossen hat, und die extrem dicht erzählte Handlung, in der viele Charaktere blass bleiben, haben mich mehr als einmal das Buch beinahe weglegen lassen - entnervt von dem Jugendabenteuerromanhaftigen und der vermeintlich fehlenden Tiefe.

Erst im Nachhinein fügt sich die Geschichte zu einem Ganzen, zu einer Suche für Ella, nicht nur nach ihrem Bruder, sondern auch nach einem Weg mit ihrer Wut umzugehen - in einer Welt, die unter Umständen Wut nicht verzeiht - und gleichzeitig die Entdeckung dieser Welt hinter den geschützten Wänden des Elternhauses, die faszinierend und bedrohlich zugleich ist.

Und so klappe ich das Buch zu, seltsam versöhnt durch die letzten Seiten und mit einem großen Platz im Herzen für diese unangepasste, trotzige Protagonistin, für die ich so hoffe, dass sie sich einen Teil ihrer Wut bewahrt.

Bewertung vom 29.04.2025
Ein Raum zum Schreiben
Valla, Kristin

Ein Raum zum Schreiben


sehr gut

Subtil und zutiefst persönlich

Es ist bei einem Abendessen mit Jo Nesbø und einem noch unbekannten jungen Autor, als Kristin Valla sich die Frage stellt, warum sie sich nicht mehr als Autorin bezeichnet, wann sie diese Rolle abgelegt hat und wie sie zum Schreiben zurückfinden kann. Sie sucht ihre Antwort in einem kleinen Haus an der französischen Mittelmeerküste, das sie sich kauft in der Hoffnung einen Raum zum Schreiben zu finden. Und sie sucht sie bei den Generationen an Autorinnen vor ihr, die, entgegen aller Widrigkeiten und gesellschaftlicher Konventionen, sich neben ihrer Rolle als Hausfrau oder Mutter eben diesen Raum erkämpft haben.

„Ein Raum zum Schreiben“ ist ein differenziertes Buch über Frauen in der Literatur. Ein Buch, in dem sich Kristin Valla einreiht in die lange Geschichte von Frauen in der Literatur und das zugleich die Unterschiede zu früheren Generationen an Autorinnen aufzeigt.

Immer wieder spannt Kristin Valla den Bogen von ihrem kleinen Haus zu den Anstrengungen ihrer „Vorgängerinnen“. Eine Idee, die mich zunächst fasziniert hat, über die 260 Seiten jedoch etwas repetitiv wurde. Teilweise suchte ich vergeblich den größeren gesellschaftlichen Diskurs, der sich eingehend mit den Privilegien vieler eben jener Autorinnen auseinandersetzt, die ihnen das Schreiben überhaupt erst ermöglichten bzw. auch heute noch ermöglichen.

Letztendlich ist es ein persönliches Buch, das nicht mit der Erwartung an ein feministisches Manifest gelesen werden sollte. Vielmehr sind es kurze Passagen, feine Beobachtungen von Kristin Valla, die zum Nachdenken anregen, die mich immer wieder innehalten ließen und auch jetzt noch nachhallen.

Bewertung vom 29.04.2025
Unter Grund
Liepold, Annegret

Unter Grund


ausgezeichnet

Der Fuchs geht um!

Es ist der NSU Prozess, der Franka zurück in ihre Heimat drängt. Sie verlässt das Gerichtsgebäude in München überstürzt, sammelt in der WG das Nötigste ein und steigt ohne ein Wort an ihre Mitbewohnerin in den nächsten Zug nach Franken. Hier kommt sie her. Für diese Gegend spürte sie lange eine tiefe Heimatverbundenheit, insbesondere für die Wälder, in denen sie früher mit ihrem Vater Fische von Weiher zu Weiher gehoben hat. Doch nun war sie seit Jahren nicht mehr hier, hat es gemieden zurückzublicken und auch ihre Familie schweigt beharrlich über das was damals geschehen ist - über Frankas Jugend, in der sie immer weiter in die rechte Szene hineingerutscht ist, und über die Familiengeschichte, die Geschichte von Frankas wortkarger Großmutter - der Fuchsin.

Annegret Liepold verwebt Vergangenheit und Gegenwart, mit Schilderungen des NSU Prozesses zu einem großartig komponierten Roman über Schuld. Wo fängt sie an und bei wem? Ab wann tragen junge Menschen Verantwortung für das was sie tun? Und wie hätte man sie davor schützen können?

Es sind große Fragen, die der Roman verhandelt. Und trotzdem kommt er ganz leise daher, findet mit wenigen Worten einen Zugang zu diesem leider so aktuellen Thema ohne mit einfachen Antworten aufzuwarten. Er wirft es hinein in eine so bildhaft beschriebene, archaische Landschaft, von der eine unbestimmte Bedrohung auszugehen scheint. Denn wer schon mal da gewesen ist, weiß: Der Fuchs geht um!

Eine uneingeschränkte Empfehlung von mir für dieses grandiose Debüt!

Bewertung vom 15.12.2024
Wenn nachts die Kampfhunde spazieren gehen
Brüggemann, Anna

Wenn nachts die Kampfhunde spazieren gehen


sehr gut

Mutter-Tochter Spannungsfeld

Triggerwarnung: Essstörung

Wanda und Antonia sind Schwestern und doch könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Wanda ist schön, schlank, sportlich, selbstbewusst und in der Schule eine Überfliegerin. Antonia zu kurvig, schüchtern und in nichts wirklich begabt. Zumindest ist das die Perspektive von Regina auf ihre beiden Töchter. Kritisch misst sie die beiden an ihren persönlichen unerfüllten Wünschen, ihren eigenen und den gesellschaftlichen Maßstäben - und das durchgängig durch das Buch, das sich mit Zeitsprüngen über eine Zeitspanne von etwa 20 Jahren erstreckt.

Gekonnt verwebt Anne Brüggemann durch die drei Perspektiven von Regina, Wanda und Antonia Innen- und Außenschau und die Brüche dazwischen. Es ist ein gelungenes Psychogramm einer Mutter-Tochter Beziehung, das erschreckend deutlich aufzeigt, wie nachhaltig die Erwartungshaltung unserer Eltern uns in unserer Selbstwahrnehmung prägen.

Zuweilen waren mir Anne Brüggemanns Worte fast zu deutlich, zu wenig subtil die Auseinandersetzung der Charaktere mit ihren Gefühlen. Gerade in jungen Jahren, in denen die Erwartungshaltung der Mutter die eine in die Magersucht stürzt und die andere ihre Schultern immer mehr hochziehen, sich zunehmend verstecken lässt, wirkten Wanda und Antonia für mich auf unglaubwürdige Weise reflektiert.

Dennoch ein Buch, das in seiner, wenn auch wenig unterschwellig formulierten, Message nachhallt.