Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
SimoneF

Bewertungen

Insgesamt 495 Bewertungen
Bewertung vom 04.06.2025
Wut und Liebe
Suter, Martin

Wut und Liebe


weniger gut

Nachdem mich bereits Martin Suters letzter Roman „Melody“ nicht recht überzeugen konnte, wollte ich „Wut und Liebe“ nochmal eine Chance geben. Der Plot liest sich vielversprechend: Noah ist ein junger erfolgloser Künstler, der mit seiner großen Liebe Camilla zusammenlebt. Diese hat jedoch die Nase voll von einem Leben, in den sie jeden Cent zweimal umdrehen müssen, und sie verlässt Noah, obwohl sie ihn liebt. Sie wünscht sich einen wohlhabenden Mann, der ihr das ersehnte sorgenfreie Leben bieten kann. Noah ist am Boden zerstört, trinkt in einer Kneipe, wo er eine ältere Dame namens Betty trifft, die ihm einen lukrativen, aber höchst kriminellen Deal vorschlägt…
Ich konnte zu keiner der handelnden Figuren eine Beziehung aufbauen. Noah wirkt arg bedürftig, wie er Camilla hinterherläuft, und Camilla ist konsequent, aber durch ihren Wunsch, sich von einem reichen Typen aushalten lassen zu wollen, sehr unsympathisch. Bei Betty hatte ich von Anfang an ein ungutes Gefühl, ihr Handeln war für mich sehr manipulativ und durchschaubar. Überhaupt hatte ich in der durchaus wendungsreichen Geschichte sehr schnell eine Idee, wie sich am Schluss alles auflösen würde, und ich behielt Recht. Da der Plot äußerst vorhersehbar war, kam bei mir keine echte Spannung auf, und alles plätscherte so vor sich hin. Zudem wirkte die gesamte Handlung sehr unecht und konstruiert. Wie auch in seinen weiteren Romanen beschreibt Suter gerne ausführlich diverse Mahlzeiten; darauf könnte ich gut verzichten. Sehr negativ fiel mir zudem wie schon bei „Melody“ der ständige Alkoholkonsum auf, das ist wirklich nicht mehr zeitgemäß und verharmlost Alkoholmissbrauch.
Auch stilistisch hat mich Suter nicht überzeugt. Der Roman ist literarisch gewohnt solide geschrieben, aber auch nicht mehr. Für mich war es wohl das letzte Buch dieses Autors.

Bewertung vom 04.06.2025
Jungs von heute, Männer von morgen
Dittmann, Anne

Jungs von heute, Männer von morgen


gut

Als Mutter eines 11-jährigen Sohnes mache ich mir natürlich viele Gedanken über eine zeitgemäße Erziehung von Jungen. Ich war daher sehr gespannt auf das Buch „Jungs von heute, Männer von morgen“.
Eingeteilt ist das Buch etwas gewöhnungsbedürftig in die Kapitel Selbstfürsorge, Fürsorge und Engagement. Schon der Prolog, in dem die Autorin schildert, wie sehr sich zu Beginn der Schwangerschaft gewünscht hatte, auf keinen Fall einen Jungen zu bekommen, hat mich skeptisch werden lassen. Leider konnte mich auch der Rest des Buches nicht überzeugen. Immer wieder gewinnt man beim Lesen den Eindruck, dass Männer als ein irgendwie defizitäres Geschlecht angesehen werden, und sie gezielt Richtung weiblicher Eigenschaften hin erzogen werden müssten. Klassisch als männlich konnotierte Eigenschaften wie Leistungsbereitschaft, Durchsetzungsvermögen, Rationalität werden eher negativ bewertet.
Sehr gestört haben mich die ständigen Beispiele aus Filmen, Social Media und Popkultur, etwa aus „The voice of Germany“, die die Autorin gemeinsam mit ihrem Sohn sieht. Das erzeugt bei mir einen wenig seriösen Eindruck, und gerade die genannte Sendung läuft für mich unter Trash-TV. Die von der Autorin zitierten „Experten“ sind ebenfalls meist Influencer, Content-Creators und „Bestsellerautor:innen“. Diesem stehe ich sehr kritisch gegenüber, und ich hatte mir etwas akademischere Quellen erhofft.
Inhaltlich bietet mir das Buch keine großen neuen Erkenntnisse und wenig konkrete Erziehungsansätze. Über Gefühle reden, die Wichtigkeit von Konsens vermitteln, Söhne in die Care-Arbeit einbeziehen – das ist alles richtig und wichtig, mir aber nicht neu.

Bewertung vom 03.06.2025
Der Masterplan der Trump-Regierung
Graham, David A.

Der Masterplan der Trump-Regierung


sehr gut

„Der Masterplan der Trump-Regierung“ beschäftigt sich mit dem Project 2025 der ultrarechten Heritage Foundation. Auch wenn Trump immer wieder Verbindungen zu dieser Gruppierung zurückweist, hat er bereits in den ersten Monaten seiner zweiten Amtszeit viele Punkte, die in Project 2025 beschrieben sind, umgesetzt. Schlüsselpositionen wurden mit Personen besetzt, die der Heritage Foundation nahestehen und am Project 2025 wesentlich beteiligt waren.

Der Autor David a. Graham zeigt auf, welchen radikalen Masterplan die amerikanische Rechte verfolgt, und beleuchtet die Auswirkungen auf Gesellschaft, soziale Fragen, Wirtschaft, Klima, Außenpolitik, Energie, Umweltpolitik, Forschung, Immigration u.a. Hierdurch wird deutlich, wie gefährlich die aktuelle Regierung nicht nur für die amerikanische Gesellschaft, sondern für die gesamte westliche Welt ist. Die Entwicklung in Amerika dient zudem in vielerlei Hinsicht als Blaupause und als Katalysator für die Rechten in Europa.

Graham hat dieses Buch für den amerikanischen Markt geschrieben, daher ist an vielen Stellen ein gewisses Vorwissen über die amerikanische Politik und Gesellschaft hilfreich. Er liefert einen guten Überblick über die aktuellen Vorgänge und Zusammenhänge, geht allerdings nicht allzu weit in die Tiefe. Ich würde dieses Buch allen empfehlen, die sich ein Bild davon machen möchten, welche Agenda hinter Trumps Politik steht. Sehr lesenswert!

Bewertung vom 31.05.2025
Krakadu
Sabbag, Britta

Krakadu


ausgezeichnet

„Mitgeklebt – was erlebt“ – dieses Motto gilt für Prof, den schlauen Seestern, der an der kleinen Krake Krakadu klebt. Die beiden sind ziemlich unterschiedlich, kabbeln sich gerne, sind aber im Grunde beste Freunde. Krakadu ist ein bisschen tollpatschig und der Prof weiß immer alles besser.
Das Buch besteht zum großen Teil aus herrlich witzigen, schlagfertigen Dialogen, die die Geschichte äußerst vergnüglich und lebendig machen. Manche Wortwitze oder Anspielungen werden Kinder ab 5 Jahren noch nicht verstehen (etwa Elvis-Tolle oder Fishfluencer), doch so haben auch die Erwachsenen oder älteren Geschwister beim Vorlesen ihren Spaß.
Unbedingt hervorheben möchte ich die wunderschönen Illustrationen von Lisa Nollenberger. Sie sie sind liebevoll gestaltet, sehr detailliert, schön bunt, aber nicht knallig. Manche erstrecken sich gar über eine komplette Doppelseite. Auch auf den Zeichnungen kann man bei genauer Betrachtung viele witzige Details erkennen.
Mich erinnert das Buch erinnert qualitativ etwas an die wunderbare "Karl-Heinz und Bisy"-Reihe von Kai Pannen, die unsere ganze Familie sehr liebt (hervorragende Illustrationen, sehr witzige Geschichte mit schlagfertigen Dialogen, zwei Tiere, die sich kabbeln, aber befreundet sind).
„Krakadu“ ist ein äußerst unterhaltsames Kinderbuch, das sich ab 5 Jahren zum Vorlesen eignet, an dem aber auch ältere Kinder während der gesamten Grundschulzeit ihren Spaß haben dürften. Auch als Erwachsene habe ich mich beim Lesen köstlich amüsiert. Genau so sollte ein gutes Kinderbuch sein! Wir würden uns über weitere gemeinsame Abenteuer von Krakadu und Prof sehr freuen und empfehlen „Krakadu“ rundum weiter!

Bewertung vom 31.05.2025
Atmosphere
Reid, Taylor Jenkins

Atmosphere


gut

Für mich war „Atmosphere“ das erste Buch der Autorin, und ich bin mit sehr großen Erwartungen herangegangen, da mir Taylor Jenkins Reid von anderen empfohlen wurde.

Als Naturwissenschaftlerin interessierte mich die Weltraumthematik sehr, und ich war gespannt, ob es TJR gelingen würde, das Leben von Joan, einer angehenden Astronautin und Professorin für Astrophysik, glaubwürdig zu schildern. Nach meinem Empfinden ist das sehr gut gelungen, und Joans Begeisterung für die Raumfahrt und das Weltall ist direkt ansteckend. Auch die Details zum Sternenhimmel, der NASA und der Astronautenausbildung wirken gut recherchiert.

Joans Persönlichkeit, ihre Gefühle und ihr Weg zur Selbstfindung sind toll beschrieben. Die Liebesgeschichte nimmt mir allerdings zu viel Raum ein, und das Buch entwickelt sich hier in die Richtung einer klassischen Wohlfühllektüre, ein Genre, das ich nicht so gerne lese. Insgesamt war mir die Geschichte etwas zu emotional. Man merkt meiner Meinung nach deutlich, dass es sich um eine amerikanische Autorin handelt, da es stellenweise schon recht pathetisch wird. Auch die Abwesenheit von Männern im Joans privatem Umfeld fand ich ein bisschen zu konstruiert. Hier wird die Intention, einen feministischen Roman über starke und mutige Frauen zu schaffen, allzu deutlich.

Fazit: Ich habe „Atmosphere“ sehr gerne gelesen, aber wirklich begeistert hat es mich nicht. Das liegt sicher daran, dass ich einen nüchternen Schreibstil bevorzuge und ich mir einen stärkeren Schwerpunkt auf der wissenschaftlichen Arbeit und dem beruflichen Umfeld gewünscht hätte.

Bewertung vom 30.05.2025
Mord bei Schietwetter
Sanne, Manuela

Mord bei Schietwetter


ausgezeichnet

Nach dem Tod ihres Mannes zieht Sefa Pannkok wieder zurück nach Norddeich, den Ort ihrer Kindheit. Sie bewohnt eine kleine Einliegerwohnung im Haus ihres Schulfreundes Derk, einem pensionierten Kriminalhauptkommissar. Zusammen mit Edith, ihrer besten Freundin aus Schultagen, ist sie Mitglied des Strickzirkels, dem ferner die Strickfluencerin Rita, die patente und lebenslustige Gunda und Conni, Inhaberin der Wollstuuv, angehören. Als sechstes Mitglied komplettiert Derk die Runde, wobei sein Interesse mehr Sefa gilt als dem Maschenzählen. Als bei einem Treffen des Strickzirkels Conni entgegen ihrer Gewohnheit nicht auftaucht, wollen die fünf bei Conni nach dem Rechten sehen und machen eine schreckliche Entdeckung: Conni wurde ermordet. Ihre Strickfreunde sind fest entschlossen, die Polizei bei den Ermittlungen zu unterstützen. Als diese ihren Hinweisen jedoch eher halbherzig nachgeht, nehmen sie die Sache selbst in die Hand….

Ich bin schon länger ein Fan von Manuela Sannes Rosa-Fink-Reihe, und so war ich sehr neugierig auf das neue Cozy-Crime-Setting rund um einen Strickzirkel. Und meine Erwartungen wurden voll und ganz erfüllt: Der Fall ist spannend und unterhaltsam erzählt, mit einem feinen Sinn für Humor, und die liebenswerten Figuren wirken wie direkt aus dem Leben gegriffen. Das ist eines der Dinge, die ich an Manuela Sannes Krimis so sehr mag: Die Charaktere sind immer authentisch, und man hat beim Lesen den Eindruck, dass der Fall tatsächlich so passieren könnte. Ich habe mich beim Lesen auch sehr über die eingestreuten Sätze auf Plattdeutsch gefreut, die auch für mich als Bayerin sehr gut zu verstehen waren bzw. im Text direkt übersetzt wurden.

Ich habe Sefa, Derk, Rita, Edith und Gunda schon richtig ins Herz geschlossen und hoffe sehr, dass der Strickzirkel noch weitere Fälle lösen darf. Mein heimlicher Wunsch wäre ein Crossover-Krimi mit den fleißigen Stricker:innen aus Norddeich und Rosa und Sebi aus Dangast – die knapp 100 km sind ja nur ein Katzensprung, und ich könnte mir alle lebhaft zusammen vorstellen.

Von mir volle 5 Sterne, und ich freue mich schon auf ein Wiedersehen mit den fünfen!

Bewertung vom 26.05.2025
Der alte Mann und das Meer
Hemingway, Ernest

Der alte Mann und das Meer


ausgezeichnet

„Der alte Mann und das Meer“ von 1951 ist eines der bekanntesten Werke Ernest Hemingways und trug mit dazu bei, dass ihm 1954 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde.
Santiago, der seit 84 Tagen glücklose Fischer, fährt weit aufs Meer hinaus, entschlossen, einen großen Fang zu machen. Es beißt auch tatsächlich ein riesiger Marlin an, und es beginnt ein Kräftemessen zwischen dem alten Fischer und dem Tier, ein Kampf auf Leben und Tod.
Hemingway greift in dieser Novelle bekannte Motive aus seinen anderen Werken auf wie die Bewahrung der Würde im Scheitern und die Niederlage im Sieg. Aus heutiger Sicht recht veraltet erschienen mir seine Darstellung und sein Verständnis von Männlichkeit, das sehr stark dem Bild der damaligen Zeit entspricht.
Die Schmuckausgabe von arsEdition wurde von Jorghi Poll wunderschön illustriert. Bereits das Cover ist ein absoluter Blickfang in jedem Buchregal, und die ganz- bzw. doppelseitigen, sehr detaillierten Zeichnungen in kräftigen, aber sehr angenehmen Farben lassen Hemingways Text lebendig werden. Die vorherrschenden Blautöne sind perfekt gewählt, und die Szenen sind ausdrucksstark und dynamisch. Einzelne Textzeilen sind wellenförmig angeordnet und in blauer, kräftiger Schrift hervorgehoben.
Ich bin wirklich begeistert von der Gestaltung dieser Ausgabe, und hoffe, dass Jorghi Poll noch weitere Werke der Weltliteratur für arsEdition gestalten darf. Er hat hier ein echtes Schmuckstück geschaffen, das das Herz jedes Buchliebhabers höher schlagen lässt.

Bewertung vom 25.05.2025
Moonlight Mile / Kenzie & Gennaro Bd.6
Lehane, Dennis

Moonlight Mile / Kenzie & Gennaro Bd.6


gut

Die Neuauflage von „Moonlight Mile“ ist der sechste und abschließende Teil um das Ermittlerduo Patrck Kenzie und Angie Gennaro. Dieser nimmt thematisch Bezug auf den vierten Band „Gone Baby Gone“ und setzt 12 Jahre später an, als Amanda, damals vier Jahre alt, nun mit knapp 17 erneut verschwindet und ihre Tante Bea Patrick Kenzie wieder um Hilfe bittet, Amanda zu finden.
Für mich war dieser Band um Kenzie und Gennaro mein erster, und es ist problemlos möglich, diesen unabhängig von den Vorgängern zu lesen. Dennoch würde ich empfehlen, zumindest „Gone Baby Gone“ vorab zu lesen, um ein umfassenderes Bild der beteiligten Personen und der Vorgeschichte zu bekommen.
Dennis Lehane spart nicht mit sozial- und gesellschaftskritischen Anspielungen auf das Amerika der frühen 2000er Jahre (der Roman erschien im Original erstmals 2010) und lässt auch Patrick und Angie gereift und reflektiert erscheinen. Beide haben inzwischen geheiratet und eine vierjährige Tochter, die sie für ihre Gegner verwundbar macht. Sie haben Schwierigkeiten, finanziell über die Runden gekommen und Patrick ist gezwungen, moralisch fragwürdige Aufträge anzunehmen, um das Familieneinkommen zu sichern, während Angie einen Studienabschluss macht.
Ich kannte von Dennis Lehane bisher nur „Sekunden der Gnade“, und da mich dieser Roman sehr begeistert hat, war ich neugierig auf „Moonlight Mile“: Leider sprang hier der Funke bei mir nicht richtig über. Das mag sicher damit zusammenhängen, dass ich grundsätzlich kein ausgewiesener Fan von Hardboiled-Detective-Romanen und deren typischen Sprachstils bin. Die Sprücheklopferei nervt mich da eher. Mit Kenzie, Gennaro und alle anderen Charaktere dieses Falls wurde ich bis zum Schluss nicht warm, so dass mich die Geschichte nicht richtig fesseln konnte und ich mit keiner Person mitfieberte. Hinzu kommt, dass der Fall recht künstlich und konstruiert wirkt und ich gleichzeitig ab ca. zwei Dritteln des Buches eine Ahnung hatte, worauf es hinauslaufen würde.
Fazit: Für echte Kenzie & Gennaro-Fans ist dieser Reihenabschluss sicher ein Muss. Ich werde mich eher Lehanes weiteren Einzelwerken zuwenden.

Bewertung vom 25.05.2025
Frag nicht nach Agnes
Jakob, Valerie

Frag nicht nach Agnes


gut

„Frag nicht nach Agnes“ thematisiert das Leben der Familien von Kriegsheimkehrern in den Nachkriegsjahren und beschäftigt sich auch mit vererbten Traumata. Erzählt wird kapitelweise abwechselnd in zwei Zeitebenen.
Die erste Ebene spielt in der Gegenwart: Lilo ist Goldschmiedin und hat ein angespanntes Verhältnis zu ihrer Mutter. Diese macht ein großes Geheimnis um ihre familiäre Herkunft, und das Schweigen belastet Lilo zunehmend. Ihre Mutter blockt jegliche Gesprächsversuche ab, schreit, Lilos Großmutter habe ihr Leben zerstört. Als Lilo bei ihrer Mutter zufällig einen Brief findet, den diese an einen Verwandten adressiert hat, bietet sie an, diesen einzuwerfen. Doch kurzerhand entscheidet sie sich, ihn persönlich zu überbringen und endlich selbst herauszufinden, was es mit ihrer Familie auf sich hat.
Der zweite Handlungsstrang beginnt im Jahr 1952 und erzählt das Leben von Agnes, Lilos Großmutter, die gebürtig aus Straßburg stammt und als Deutsche nach dem 1. Weltkrieg mit ihren Eltern und Geschwistern in die Nähe von Baden-Baden gezogen ist. Als ihre gesamte Familie bei einem Bombenangriff ums Leben kommt, findet Agnes Obdach bei Familie Steiner. Nach einem Fronturlaub macht deren Sohn Walter Agnes einen Heiratsantrag, den sie annimmt. Kurz nach der Hochzeit erhält sie keine Nachricht mehr von ihm , bis er Jahre nach Kriegsende aus der Gefangenschaft heimkehrt. Die Ehe ist unglücklich, Agnes flüchtet sich in ihre Arbeit bei der französischen Militärverwaltung. Als sie ein Kind bekommt, muss sie ihre Arbeit aufgeben, und sie empfindet die Situation zuhause als unerträglich. Hinzu kommt, dass sie durch Zufall Dinge herausfindet, die ihr gesamtes Leben ins Wanken bringen…
Der Aufbau des Buches und auch die Thematik vererbter Traumata erinnert mich an Trude Teiges Roman „Als Großmutter im Regen tanzte“, und wie dieser hat „Frag nicht nach Agnes“ seine Stärken besonders im Erzählstrang in der Vergangenheit, während die Handlung in der Gegenwart etwas farblos und aufgesetzt wird. Wie bei Trude Teige hat auch Lilo praktischerweise einen Freund (Felix), der sich mit historischer Recherche auskennt und ihr zur Seite steht.
Agnes‘ Geschichte ist berührend und lebendig erzählt, und ich konnte von Anfang an mit ihr mitfühlen und mich gut in sie hineinversetzen. Da sich Agnes als Elsässerin sowohl den deutschen als auch den Franzosen nahe fühlt, ist auch der kritische und distanzierte Blick, den Agnes auf Nachkriegsdeutschland hat, sehr gut nachvollziehbar. Viele andere Männer und Frauen dieser Generation haben die Schuld, die persönliche und die kollektive, nur zu gerne verdrängt.
Die Handlung um Lilo empfand ich hingegen als weniger gelungen. Die Figuren wirken künstlich, die Dialoge hölzern. Insbesondere die „Informationsdialoge“ zwischen Lilo und Felix fallen negativ auf, und bei Felix merkt man allzu deutlich den Zweck der Figur. Sehr nebulös umschrieben ist hierbei sein Beruf: Er hat sich selbstständig gemacht, betreibt für ausgewählte Klienten historische Recherchen und lebt in Berlin. Vor diesem Hintergrund ist es etwas verwunderlich, dass er über Berlin sagt: „Der Westteil war in vier Sektoren aufgeteilt. Für jede alliierte Siegermacht einen.“ Er sollte wissen, dass Westberlin in drei Sektoren geteilt war, der sowjetische Sektor war natürlich Ostberlin. Die Geschichte rund um Lilos Arbeitgeber und den nervigen und intriganten Kollegen Küster nimmt für mich viel zu viel Raum ein. Dafür kommt die familiäre Recherche von Lilo und Felix etwas zu kurz und verläuft unrealistisch glatt. In Wirklichkeit gestaltet sich dies deutlich mühseliger und ist mit längeren Wartezeiten verbunden.
Man merkt dem Roman sehr stark an, dass er aus heutiger Sicht geschrieben wurde und sich an ein Publikum wendet, bei dem man offenbar kein Wissen über die damalige Gesellschaft, Moral und Rolle der Frau voraussetzt, gleiches gilt für die politische Situation im Nachkriegsdeutschland und den Umstand, dass NS-Funktionäre schnell wieder in Amt und Würden waren. Die Autorin lässt daher alles durch ihre Figuren erklären. Für ein junges Publikum mag dies nötig sein, für Leser:innen mit entsprechendem Hintergrundwissen ist es etwas zäh.
Fazit: Die Geschichte um Agnes ist spannend und lebendig erzählt, doch Lilos Kapitel konnten mich nicht überzeugen. Hier wurde viel Potenzial verschenkt. Für Leser:innen, die sich erstmals mit Nachkriegsdeutschland, Kriegsheimkehrern und Kriegsverbrechen beschäftigen, sicher ein interessantes Buch. Für diejenigen, die über Vorwissen verfügen, empfinde ich es als zu oberflächlich und klischeehaft.

Bewertung vom 21.05.2025
Hello Baby
Eui-kyung, Kim

Hello Baby


ausgezeichnet

„Hello Baby“ behandelt ein Thema, das in den meisten Gesellschaften noch immer ein Tabu ist: Unerfüllter Kinderwunsch. Darüber zu sprechen, ist für viele Paare schwierig, da das Unvermögen, auf natürlichem Weg ein Kind zu zeugen, einen sehr intimen Lebensbereich betrifft, es mit einem „körperlichen Makel“ verbunden ist und zugleich emotional für das Paar äußerst belastend. Umso beachtenswerter fand ich es, dass die Autorin Kim Eui-kyung selbst ungewollt kinderlos ist und eigene, bisher erfolglose Erfahrungen mit IVF gemacht hat.

Kim Eui-kyung erzählt abwechselnd aus der Perspektive von sechs Frauen, die zwischen Ende 30 und Mitte 40 sind und sich in einer südkoreanischen Fruchtbarkeitsklinik über Jahre IVF-Behandlungen unterziehen. Der gemeinsame Leidensweg macht sie zu Freundinnen, und sie tauschen sich regelmäßig in ihrer Chatgruppe „Hello Baby“ aus, stützen und ermutigen sich gegenseitig.

Durch ein befreundetes Paar kenne ich die Strapazen einer IVF, das damit verbundene Hoffen und die Enttäuschung bei Fehlversuchen, und vieles, was in diesem Buch beschrieben wurde, hat mich daran erinnert. Auch die Klage der Frauen über die mangelnde Unterstützung durch die Partner kam mir sehr bekannt vor.

Der Schreibstil des Buches ist klar, nüchtern, so dass „Hello Baby“ teilweise wie ein Sachbuch oder Erfahrungsbericht wirkt. Das hat mir sehr gut gefallen, da ich kein Fan übermäßig emotionaler Bücher bin. Trotz der rationalen Herangehensweise gelingt es Kim Eui-kyung, die psychische und physische Belastung der Frauen eindrücklich darzustellen.

Hochinteressant fand ich den Einblick in die südkoreanische Kultur. Im Gegensatz zu der sehr individualisierten westlichen Gesellschaft hat hier insbesondere die Schwiegerfamilie der Ehefrau eine große Bedeutung. Zugleich wird deutlich, dass sich die südkoreanische Gesellschaft in einem Umbruch zwischen Tradition und Moderne befindet: Auf der einen Seite ist da die ältere Generation mit konservativen patriarchalen Vorstellungen von Ehe und Familie, die enormen Druck auf die Frauen ausübt, ein Kind, möglichst einen Jungen, zur Welt zu bringen. Teilweise wirkt es, als würden potentielle Ehefrauen vor allem unter dem Aspekt der Gebärfähigkeit betrachtet. Und auf der anderen Seite stehen die Jüngeren, die gut ausgebildet im Beruf stehen und sich fragen, welche möglicherweise negativen Auswirkungen eine Mutterschaft haben könnte in Bezug auf Selbstverwirklichung, Selbstständigkeit und Berufstätigkeit. Angesichts der extrem frauenfeindlichen Arbeitswelt eine verständliche Überlegung. Unter welchem Druck schwangere Frauen und Mütter in der Arbeit stehen und wie sehr sie – auch von anderen Frauen – angefeindet werden, wenn sie Mutterschutz oder Elternzeit in Anspruch nehmen, hat mich wirklich erschreckt. Hier wurde mir wieder bewusst, wie wichtig die Errungenschaften sind, die sich die Frauen in Deutschland diesbezüglich erkämpft haben. Auch wenn ich manchmal den Eindruck habe, dass bei uns in vielen Bereichen eine mehr oder weniger latente Kinderfeindlichkeit vorherrscht, ist das kein Vergleich mit dem, was Kim Eui-kyung beschreibt. Dies dürfte zugleich sowohl Ursache als auch Folge der weltweit niedrigsten Geburtenrate von 0,72 Kindern pro Frau (2023) in Südkorea sein.

Mir hat dieses Buch so gut gefallen, dass ich am liebsten noch viel mehr gelesen hätte und mir der Schluss, der sehr zu denken gibt, fast zu schnell kam. Für mich definitiv ein Highlight in diesem Frühjahr.