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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
MarcoL
Wohnort: 
Füssen

Bewertungen

Insgesamt 203 Bewertungen
Bewertung vom 03.03.2024
Samota
Hapeyeva, Volha

Samota


ausgezeichnet

Ein poetischer Aufschrei ohne laute Töne für mehr Empathie.

„Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber“, so der Sub-Titel.

Der Roman beginnt mit einem sehr markanten Satz, der einen sofort in den Bann zieht, und tatsächlich zu einer Ruhe verhilft, um in diesen sanft fließenden Text hineinzugleiten.
S.5: „Die Stadt verstummte. Die Stille war mit einem Mal über sie hereingebrochen, obwohl dies nur der letzte Schritt gewesen war.“
Es ist für mich schon der erste Hinweis einer gewissen Wortlosigkeit, welche den Protagonistinnen im Laufe des Romans widerfährt. Der Titel bedeutet im Belarusischen (und anderen slawischen Sprachen: Einsamkeit).
Das Hauptthema ist die Empathie. Warum fehlt sie vielen Menschen? Oder warum sind viele Menschen nicht dazu fähig. Verblassen empathische Menschen wirklich in der Einsamkeit? Leiden sie (wir, ich fühle mich angesprochen) still und heimlich in unseren dunklen Winkeln mit der verletzten (und verletzenden) Welt.
S.122: „Die Fähigkeit des Menschen zu Empathie ist direkt mit seinem Schmerzempfinden verbunden. Offenbar spürt sie [Anm.: eine Dozentin] so gut wie keinen Schmerz, daher ist es auch sinnlos, an ihr Mitgefühl zu appellieren.“
Maja forscht über den Ausbruch eines Vulkans. Immer wieder dabei ist ihre Freundin Helga-Maria. Mal ist sie da, dann wieder nicht. Die Autorin gibt dabei einem aber nicht unbedingt das Gefühl, ob Helga-Maria tatsächlich eine reale Person ist, sondern möglicherweise nur der gute Geist in Maja. Im selben Hotel wie Maja residiert eine Gruppe, die sich mit Vorträgen zur „Regulation von Tierpopulationen“ befassen. Die Konflikte sind greif- und spürbar. Allein durch die Anwesenheit dieser Person entsteht ein Spannungsfeld.
In einem zweiten Erzählstrang geht es um den hochsensiblen Sebastian. Auch er kommt einer empathielosen Verschwörung auf die Spur, in der es um gewaltsame Verdrängung von Arten, insbesondere von Wölfen, geht.
Wie beide Erzählstränge tatsächlich zusammenhängen, löst sich am Schluss auf, so viel sei gesagt.
Aber es geht nicht nur um das Überleben von Tieren. Auch die Werte unserer Gesellschaft siechen dahin.
S.164: „Das Fehlen von Empathie für Tiere, das Absprechen von Rechten gegenüber Frauen und Sklaven, die Ausrottung von Homosexuellen, Albinos, rothaarigen Mädchen, der Hass auf intelligente Frauen – all das passt seltsamerweise in die eine Seele, aber in eine andere nicht.“

Dieser sehr kluge Roman ist ein Aufschrei ohne laute Töne. Ein Stochern mit dem Finger in der Wunde, ohne diese zu berühren. Hapeyeva setzt an, sanftmütig, aber zielgerichtet, in einer wunderbaren, teils sehr poetischen Sprache. Gekonnt hat sie ihre Gedanken, ihre Kritik an unserem verfallenden Wertesystem, in eine Rahmenhandlung gesetzt, die sich einer gewissen Spannung nicht entziehen kann. Ihre Botschaft kommt aus der Stille, leichten Tropfen gleich, die irgendwann ein Fass zum Bersten bringen können.
Möge dieses Buch eine große Leserschaft erreichen, und sich dessen tiefer Inhalt über die Welt ergießen. Ganz große Leseempfehlung!

Bewertung vom 27.02.2024
Mutternichts
Vescoli, Christine

Mutternichts


ausgezeichnet

Eine sprachgewaltige, filigrane Aufarbeitung einer Mutter-Tochter Beziehung

Selten habe ich in einem Buch so viele Stellen markiert, die man sich in Erinnerung halten möchte. Und selten wie nie tue ich mich schwer, diesen wunderbaren Roman zu besprechen. Über derart persönliche Romane zu schreiben ist nicht einfach, Interpretationen könnten vielleicht falsch gedeutet werden und schon stehen diese Zeilen in einem anderen (ungewollten) Licht.

Es geht um die Mutter der Ich-Erzählerin in diesem autofiktionalen Roman. Um deren Leben. Darum, was nach deren Tod zurückblieb. Ein Nichts. Eine Leere. Vor allem nur ein marginales Wissen über das Leben der Mutter. Wo sind bzw. waren die Gemeinsamkeiten, Verknüpfungspunkte? Diese werden hier Zeile für Zeile gesucht, aufgearbeitet. Die Autorin erschafft sich einen Zugang, möchte dieses Vakuum füllen, verstehen, sichtbar machen.

S.13: „Was von Mutter unsichtbar war. Ich hatte es vor Augen und konnte es nicht sehen. Es ist das von Mutter unsichtbar Gemachte. Eine Lücke mitten im Leben. Der Nebel mitten im vergilbten Bild. Ein Nichts, das da ist.“

Im zarten Alter von acht Jahren wurde die Mutter damals von zu Hause weggegeben, als „Dirn“, um an einem anderen Hof zu arbeiten. Die Armut war damals groß in den Südtiroler Bergen, die Familien oftmals kinderreich. Warum sie, und kein anderes Kind? Ihr Aufwachsen war traurig, kalt. Immer von einer Härte begleitet. Und sie vergaß ihre Kindheit nicht.

S.122: „Sie hatte eine schlimme Kindheit da oben auf dem Hof, einem düsteren Ort. Da gab es nur Arbeit und die böse Bäuerin. Es war hart da oben, schrecklich hart.“

Wenig sickerte durch in all den Jahren. Erinnerungen, spärliche Anekdoten, Fotos. Ihre Mutter liebte das Wort und Gedichte, doch mehr als ein paar Erzählungen blieben nicht übrig.

“Als würde die Geschichte schmutzen.”

Es ist nicht viel da, um das präsente Nichts aus dem vergangenen Leben der Mutter zu füllen. Was war der Wesenskern in der Mutter-Tochter-Beziehung? Wen hat die Tochter tatsächlich verloren?

Sie macht sich auf die Suche, besucht die Orte, an welchen ihre Mutter als „Dirn“ abgegeben wurde. Doch um auf das Wesentliche zu stoßen, muss letztendlich die Vergangenheit noch weiter zurück verfolgt werden in der Ahnenlinie. Sie findet nur weitere in Armut gebettete Schicksale.

Das Buch ist ein beeindruckender Debütroman, voller Bilder – hart gezeichnet, ohne Beschönigungen. Die Sprache ist sehr gewählt, jedes Wort sitzt perfekt, keines ist zu viel. Der Text entwickelt einen Sog, der einen über die Seiten zieht, obwohl ein Innehalten und bedachtes Lesen von Nöten wäre. Ganz große Erzählkunst ist das für mich. Man wird von Anfang an hineingeworfen in dieses „Nichts“, welches nach und nach Formen annimmt, sich zu einer Aufarbeitung einer Familiengeschichte entpuppt und dennoch ein filigranes Sprachstil über eine vorsichtige Annäherung an die Vergangenheit bleibt.
Mit anderen Worten: Lest das Buch! Grandioses Lesevergnügen und absolute Leseempfehlung dieses Romans von Christine Vescoli.

Bewertung vom 24.02.2024
Trabant
Sommer, Stefan

Trabant


ausgezeichnet

Ein herrlicher Roadtrip durch Ängste, Sorgen, Paranoia eines jungen Lebens.

Georg Himmel hatte eine Urangst – er tat sich schwer, vor Menschen zu sprechen. Ein Handicap, welches ihm besonders in der Schule sehr zur Last fiel. Mündliche Prüfungen waren für ihn, obwohl er alles wusste, der Horror.
Er hatte sich trotzdem überreden lassen, als Trauzeuge seines besten Freundes Vedad eine Rede zu halten. Diese war natürlich glänzend vorbeireitet, aber dennoch …
Die Vorbereitungen für die Hochzeit in einem Nobelhotel in Istrien waren im Gange, als Georg eine dubiose SMS seines Vaters erhielt, gerichtet an eine Lisa. Hatte Georg die Nachricht versehentlich bekommen? Ist sein Vater schon auf dem Weg von Madeira nach München? Alles deutete auf eine Affäre hin, so interpretierte es Georg.
Kurzentschlossen setzte er sich in seinen alten Corsa (ein Fahrzeug mit Geschichte) und begab sich auf eine Roadtrip Richtung Norden. Er wollte seinen Vater am Flughafen abfangen um die Ehe seiner Eltern zu retten.
Während der Fahrt durch die Nacht, mit verschiedenen Aufenthalten an Raststationen oder ihrem alten Ferienhaus, sowie auf Umleitungen, hatte Georg viel Zeit, nachzudenken.
Er stellte alles in Frage, was er kannte. Seine Eltern, sich selbst, das ganze Leben. In Rückblenden erzählt uns der Autor von Georgs Familie, von seinem Aufwachsen, den ständig wechselnden Wohnorten, seinen Urängsten, oder auch von seiner Liebe zum Weltall.
Waren seine Eltern wirklich die, für die er sie hielt? Ist deren Ehe wirklich zerbrochen? Selbst ein Anruf bei seiner Mutter, die ja anscheinend mit ihrem Mann auf Madeira im Urlaub verweilte, sorgte nicht für die erhoffte Erleichterung. Was, wenn sie etwas verschwieg?
Mit Bangen, Hoffen, Gewissensbissen und allerlei sonstigen Gedanken fuhr Georg weiter Richtung Norden, um Gewissheit zu erhalten.
Die halbe Nacht hindurch telefonierte er mit Vedad, der zwar Verständnis für Georg aufbrachte, aber trotzdem nicht gerade erfreut über dessen Verschwinden war. Zumal die Trauringe (sehr teuer) bei Georg waren.
Der Autor spielt mit skurrilen Momenten, manchmal humorvoll, dann wieder mit den vollen, schweren Gedanken seines Protagonisten. Es gibt Momenten, da möchte man Georg beim Lesen zurufen: keep calm, du Chaot. Und dann bekommt man wieder so etwas wie Mitleid, weil er so „verfahren“ wirkte und selbst nur Fahrgast seiner Paranoia, Ängste und Zweifel war.
Es war ein außerordentlich feines Lesevergnügen, Georg durch diese Nacht zu begleiten. Und so gebe ich sehr gerne eine absolute Leseempfehlung für diesen herrlichen Roman.

Bewertung vom 22.02.2024
Heinz Labensky - und seine Sicht auf die Dinge
Tsokos, Anja;Tsokos, Michael

Heinz Labensky - und seine Sicht auf die Dinge


ausgezeichnet

Ein humorvoller Roadtrip durch die Geschichte der alten DDR

Tsokos und Tsokos, das sind das Ehepaar Anja und Michael. Sie haben diesen wunderbaren Roman rund um Heinz „Heinzi“ Labensky geschrieben , und kramen dabei tief in der DDR Geschichte.
Heinzi ist ein besonderer Mensch, mit einer wahrlich besonderen Sicht auf so manche Dinge. Denn, mit dem Denken hat er es nicht so. Da wurde er von der Natur wirklich ziemlich benachteiligt, auch wenn so manche Gedanken von ihm oftmals in ihrer Naivität gar nicht mal so verkehrt erscheinen. Aber seine geistige Tolpatschigkeit lässt ihn in so manches Fettnäpfchen treten.
Dafür hat er aber etwas, was vielen anderen Menschen gründlich entsagt blieb: ein aufrichtiges Herz.
S.31: „Seine Mutter selbst erklärte ihm das alles so, dass er ganz einfach da, wo Herz und Hirn vergeben wurden, leider nur einmal seine Hand gehoben habe.“
Gegen Ende, auf S.458, folgt auch noch so ein schöner Satz: „Luftschlösser brauchten keine Baugenehmigung, aber sie halfen einem, nicht die Hoffnung zu verlieren.“
Denn Heinz gab niemals die Hoffnung auf. Die weiterführende Schule wurde ihm als „förderungsunfähig“ verwehrt, und so schlug er sich mit Jobs durch, die sonst keiner machte.
Wir begleiten ihn von seinen Kindertagen an bis zu seinem 79sten Lebensjahr quer durch die Geschichte von DDR und BRD. Wir treffen auf Russengeneräle, Schatzsucher, nichtentnazifizierte DDRler, Honecker und Brandt, usw. Und immer mit dabei: seine Rita. Also zumindest in seinen Gedanken. Von Kindesalter an waren sie Freunde, wohnten in der tiefsten DDR die es nur gab. Während Labensky sich mit seinem Schicksal abfand, wollte Rita mehr. Vor allem eines: in den Westen fliehen. Labensky hatte sich und Rita geschworen, dass er immer auf sie aufpassen wird (man ahnt schon das Chaos). Doch Rita verschwand, machte ihr Ding, während Heinzi verzweifelt zurückblieb. Er tümpelte wie ein Forrest Gump durch die DDR Geschichte, und weist auch manchmal Ähnlichkeiten zum „Hundertjährigen“ von Jonas Jonasson auf. Denn seine Begegnungen mit gewissen Persönlichkeiten blieb für diese nicht ohne Folgen.

Nur zweimal traf er in seinem Leben noch auf Rita, bis sie endgültig von seiner Bildfläche verschwand – und auch diese Begegnungen blieben nie ohne Folgen. Vor allem für Rita.

Die Erzählung erfolgt in Rückblenden, welche Heinz während einer Busreise nach Warnemünde seinen wechselnden Reisenachbarn erzählt. Er hatte einen Brief von einer Frau aus W. erhalten, in welchem ein Bezug zu ihm und Rita (welche anscheinend tot war) hergestellt wurde. Also setzte er sich ohne lange nachzudenken sogleich in den Bus, und machte sich auf an die Ostsee.
Und somit beginnt die Geschichte und mutiert zu einem herrlichen Roadtrip.
Die Sprache ist frech, direkt. Manche Sprüche lassen einen beim Lesen richtig schmunzeln, und setzen der ganzen Erzählung, welche viele ernste Themen (u.a. viele DDR-Sachen) aufgreift, eine humoristische Note.
Ich habe das Buch wirklich sehr gerne gelesen, mochte die Art und Weise der Sprachführung. Ein geschichtlicher Roadtrip durch die alte DDR. Absolute Leseempfehlung für diesen wirklich wunderbaren Roman, auch wenn ich für mich tatsächlich Parallelen zu Forrest und „seiner“ Jenny fand.

Bewertung vom 21.02.2024
Two for the Tablelands
Major, Kevin

Two for the Tablelands


ausgezeichnet

Zum zweiten Mal spannende Unterhaltung aus Neufundland!

Sebastian Synard, Ermittler wider Willen, ist zurück. Nunja, so ganz wider Willen mag jetzt nicht ganz stimmen, denn schließlich packte ihn die Neugier an diesem bizarren Fall doch sehr. Und außerdem hatte er vor kurzem seinen Fernkurs abgeschlossen und durfte sich nun Detektiv nennen. Seine Führungen von Reisegruppen über das malerische Neufundland ruhten jahreszeitlich bedingt, und so schuf sich der bekennende Whisky-Liebhaber ein weiteres Standbein. In seinen ersten halboffiziellen Fall schlitterte er hinein, als er mit seinem Sohn eine Wandertour über die Tablelands machte.
Dieses Gebiet in Neufundland ist eine geologische Sensation sondergleichen und lockte auch immer wieder zahlreiche Geologen und Studenten in dieses Gebiet. So auch den Mexikaner Símon, brillanter Student mit einer vielversprechenden Zukunft. Diese sah für ihn aber sehr düster aus – kurz, er war das Mordopfer. Und hier kam Seb ins Spiel, oder besser sein dreizehnjähriger Sohn Nick, der die entstellte Leiche in einem Tümpel fand.
Die Mounties und Polizei mussten her, und ließen Sebastian eher im Dunkeln tappen und geizten mit weiteren Infos bzgl. der Ermittlungen. Das Ego des sanft- und gutmütigen Vaters bekam da schon eine kleine Delle, denn zuwas hat er die Detektivausbildung schon gemacht, wenn er dann nicht mitspielen durfte. Zu seinem Glück trat Símons Tante auf den Plan, engagierte ihn um den Mörder zu finden. Die Spur führte prompt nach Mexiko zu Símons Stiefvater. Und ehe es sich Sebastian versah erwartete ihn ein mehr als heißes Abenteuer in Mexiko. Ui ui ui sag ich da nur, hätte er nur …
In seinem zweiten Neufundlandkrimi erzählt uns der Autor wieder einiges über seine Heimat, bringt uns Land und Leute näher. Das macht er recht gut, ertappte ich mich doch dabei, hin und wieder Satelittenbilderdienste zu Rate zu ziehen.
Die Art seiner Protagonist:Innen ist sehr menschlich (OK, die Bösen mal ausgenommen). Besonders Sebs Sorge um seinen Sohn ist rührend, auch seine gewisse Art an Unbeholfenheit macht den Krimi neben der Spannung zu einer angenehmen Lektüre.
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für Freunde der angenehmen Spannungsliteratur.

Bewertung vom 18.02.2024
Sund
Lichtblau, Laura

Sund


ausgezeichnet

Ein Mahnmal und Zeichen gegen das Vergessen. Poetisch und direkt.

Das Buch beginnt mit einer Triggerwarnung: „Der Roman enthält Zitate in ableistischer, saneistischer, rassistischer, queerfeindlicher und antisemitischer Sprache.“
Man kann sich also in Teilen auf den Inhalt einstimmen. Zu recht, denn es kommt noch schlimmer, im Mittelteil dieses sehr beeindruckenden Werks.
Die Rahmenhandlung dreht sich um die Erzählerin, welche sich am Sund aufhaltet, um auf ihre Geliebte zu warten. Doch das Warten wir zu einer Qual, die Ankunft scheint sich zu verzögern, die Recherchearbeit über ihren Urgroßvater kommt vorerst zum Erliegen.
In poetischer Sprache erzählt uns Lichtblau von dieser Zeit, von den Gesängen der Insel Lykke (Lykke heißt auf dänisch „Glück“), welche wie ein Lockruf klingen.
S.19: „Als sie geht, ist es still. Dann schreien in den Baumwipfeln die Möwen, die Köpfe im Nacken, die Schnäbel in den Himmel gebohrt. Du solltest wirklich bald kommen, schreibe ich dir. Denn langsam werde ich seltsam.“
Sie setzt über, lernt die „Neue“ kennen. Sie tauchen in ein vermeintliches Idyll ein, aus holprigen Begegnungen werden sie zu Komplizinnen, denn Fremde sind dort nicht besonders willkommen.
Fragen werden gestellt und nicht beantwortet, und sie mögen besser wieder abreisen.
Die Geschichte der Insel, einst ein Ort von Zwangssterilisationen in der Nazizeit, verknüpft sich mit der eigenen Familiengeschichte der Erzählerin.
Im Mittelteil widmet sich die Autorin resolut mit der Vergangenheit ihres Urgroßvaters. Schonungslos deckt sie in akribischen Recherchen auf, was in den Familien verdrängt und verschwiegen wurde. Ihr Urgroßvater war während des NS-Regimes ein einflussreicher Arzt, der an den Zwangssterilisationen, möglicherweise, aber nicht erwiesen, auch an der Euthanasie und Menschenversuchen, beteiligt war. Die TW am Anfang erfolgte zu recht. Lichtblau setzt mit diesem Teil des Romans ein wichtiges Zeichen, nicht nur gegen das Vergessen, sondern daran, wie instabil unsere Gesellschaft war, immer noch ist, und diese Gräuel von gewissen Subjekten nach wie vor verherrlicht werden samt dem Versuch, diese wieder salonfähig zu machen.
Auch wenn in unseren Köpfen die Summe der damaligen Verbrechen herumspukt und mehr als latent präsent ist, sind diese detaillierten Ausführungen dennoch schockierend und aufrüttelnd.
Das Idyll rund um eine Insel (die Insel des Vergessen?), deren Bewohner lieber unter sich bleiben möchten, ist für mich persönlich eine starke Metapher dafür, Unausgesprochenes ruhen zu lassen.
Aber gerade in diesem (für mich sehr mutigen) Schritt der Autorin, die eigene Vergangenheit derart kritisch und offen zu durchleuchten und mit uns zu teilen, sehe ich ein wichtiges Zeichen, dass es andere ihr gleich tun und solche Zeiten sich hoffentlich nie wiederholen werden.
Unsere Gegenwart ist zerbrechlich angesichts der versteckten Vergangenheit.
S.113: „Hast du nicht gesagt, nichts verschwindet ganz? Dass beispielsweise bei einem Küstenabbruch dem Land Fläche abhandenkommt, das Material aber nicht verloren geht, sondern nur fortgespült wird, verlandet, und anderswo neues Land bildet. Eine Sandbank zum Beispiel.“
Der Roman ist ein wichtiges Werk, aufrüttelnd. Die sprachliche Gestaltung wechselt von poetischen Sätzen, welche oftmals für sich alleine dastehen, zu einem detaillierten, mit Zitaten überhäuften Bericht. Beides, so finde ich, ergänzt sich wunderbar und hinterlässt einen sehr nachdenklichen Leser.
Sehr gerne gebe ich für dieses Buch eine eindrückliche, wenn nicht sogar fordernde Leseempfehlung.

Bewertung vom 15.02.2024
153 Formen des Nichtseins
Roschal, Slata

153 Formen des Nichtseins


ausgezeichnet

Heimatfindung, Herkunftssuche, sprachlich interessant aufgearbeitet

Herkunft und Ankunft, verfremdete alte Heimat und zur Gewohnheit gemachte neue Heimat. Es sind zwei Welten, in welchen sich die Ich-Erzäherlin Ksenia Lindau nicht zurecht findet.
Ksenia kam, genauso wie die Autorin selbst, im Kindesalter von Russland nach Deutschland. Hier gelten sie als Russen, dort als Deutsche. Eine eigene Identität zu finden ist schwierig. Zu alle dem kommen noch religiöse Verwirrungen hinzu. Ihre Großvater ist Jude, und übt diesbezüglich einen nicht unerheblichen Einfluss auf das Mädchen aus. Ihre Eltern hingegen bekennen sich als Hardliner der Zeugen Jehovas.
Die Erziehung ist streng, Züchtigungen gehören genauso dazu wie das Entsagen von gewissen Freuden, wie etwa das ein Weihnachtsfest oder gar Geburtstage. All dies macht Ksenia in Deutschland neben ihrer Herkunft nur noch deutlicher zu einer Außenseiterin.
Die Jahre gehen dahin, ihr Leben wird eines Tages eigenständig, aber gewisse Lücken bleiben. Und sie hinterfragt immer wieder all die erzwungenen Schranken und Normen – sie fühlt sich oftmals fehl am Platz, auch wenn sie versucht zu verstehen. Sie erfasst, was sie nicht ist oder nicht sein will, viel mehr als jene Fakten, welche sie im Leben verankern (könn(t)en).
Und so wie das Seelenleben Ksenias nach außen hin ein Durcheinander darstellt, hat die Autorin die Schreibart angepasst. Es sind meist nur kurze Kapitel, titelgebend 153 Stück, in verschiedensten prosaischen Stilen. Kurzprosa, Briefe, Ebay-Suchergebnisse, Mails, Tagebucheinträge, Gedichte oder sogar Gottesdienste dienen als Botschafter einer Suche, welche die Autorin in nicht chronologischer Reihenfolge aufs Papier bannt und somit die Unschlüssigkeit Ksenias an die Leser:Innen weitergibt.
Die Autorin bedient sich der vielen prosaischen Stilmitteln, um ihr Anliegen und ihren inneren Kampf der Leserschaft plastisch darzulegen. Für mich unterscheidet sich dieser Roman somit sehr von den meisten anderen Büchern. Die Zahl 153 besitzt eine sehr tiefe Symbolik, vor allem in der Religion. Die Autorin hat mit ihren Ausführungen, was explizit ihre Berührungen zu Judentum und Zeugen Jehovas anbelangt, mit dieser mystischen Zahl und der Art der erzählerischen Herangehensweise, ein einzigartiges Werk geschaffen.
Für mich ist das ein sehr gelungenes Stilmittel, wenn auch nicht immer leicht zu lesen oder nach zu vollziehen. Dennoch gebe ich hier sehr gerne eine Leseempfehlung für dieses außergewöhnliche Buch.
Der Roman war auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2022

Bewertung vom 10.02.2024
Der Aschenmensch von Buchenwald
Ivanji, Ivan

Der Aschenmensch von Buchenwald


ausgezeichnet

Geniale Aufarbeitung gegen das Vergessen

Ein Dachdecker fand 1997 bei Renovierungsarbeiten der Gedenkstätte Buchenwald 701 Urnen, gefüllt mit der Asche von unbekannten Häftlingen des ehemaligen Konzentrationslagers. Nachdem Weimar 1999 Kulturhauptstadt Europas werden sollte, bereitete sich die ganze Umgebung darauf vor, und dieser Fund wirkte befremdlich bei den Verantwortlichen. Die Ratlosigkeit, was damit zu tun sei, war groß. Es wurde schließlich beschlossen, die Asche in einem Gemeinschaftsgrab beizusetzen, unter der Leitung von Würdenträgern von vier großen Religionen
Der Autor, geboren 1929, war selbst Inhaftierter in Buchenwald, und hat aus diesen schrecklichen Erfahrungen einen eindrücklichen Roman erschaffen, der viele der Schrecken der Shoa zur Sprache bringt.
Aus der zusammengeworfenen Asche formte sich ein Wesen, einer ätherischen Wolke gleich, kaum sichtbar für Menschenaugen, dennoch als Beklemmung wahrnehmbar (denn auch die Vögel verstummten), die fortan über dem ehemaligen KZ, und jetzt Gedenkstätte, schwebte. Es entstand der Aschenmensch, mit ihm erwachten alle seine 701 Seelen.
Sie unterhielten sich untereinander, erzählten von ihren Leben. Und vor allem von ihrem Sterben und den Grausamkeiten im KZ. Sie suchten untereinander nach Gemeinsamkeiten, kamen aber sehr rasch zum Schluss, dass dies kaum möglich war. Ihr einziger Nenner sind und waren die Gräuel der Naziherrschaft.
Ivanji blickt zurück, sucht während des Schreibens seinerseits für Erklärungen, und lässt diesen fiktiven Aschemenschen stellvertretend denken und sprechen, und präsentiert der Leserschaft die grausamen Tatsachen. Er macht dies ohne Hass und Verurteilungen, bindet auch die Rolle des Ettersberg und der nahegelegenen Stadt Weimar (samt ihrem Goethe) ein, und schafft somit ein eindrückliches literarisches Mahnmal gegen das Vergessen.
Gerne gebe ich hier eine absolute Leseempfehlung – das Buch kann ich wirklich nur jedem ans Herzen legen. Auch wenn manche Inhalte nichts für empfindliche Mägen sind, das Buch, zum ersten Mal 1999 veröffentlicht und jetzt neu aufgelegt ist, ist aktueller denn je.

Bewertung vom 01.02.2024
Lucy Gayheart
Cather, Willa

Lucy Gayheart


ausgezeichnet

Ein literarisches Kleinod voller Sprachgewalt!

1933 begann die sechzigjährige Schriftstellerin diesen Roman. Von sich selbst behauptete sie damals, kraftlos und müde zu sein. Ihre Protagonistin Lucy Gayheart zeichnete sie dann als lebensfroh und munter. Ein Mädchen, das die Welt erobern möchte mit all seinen Sinnen.
Lucy lebte in Haverford, zusammen mit ihrem Vater, der nur das Beste für sie wollte, und ihrer älteren Schwester Pauline, welche in gewissem Maße die Mutterrolle übernahm.
Lucy war überall beliebt, und besonders war ihr Harry Gordon, Sohn reicher Geschäftsleute, zugetan. Er sah Lucy schon als seine zukünftige Braut.
Lucys Vater förderte ihre musikalische Ausbildung am Flügel. Dazu bekam sie auch die Chance, von der Provinz zu fliehen, um in Chicago "wo die Luft vor ungeahnten Möglichkeiten wie eine Stimmgabel erzitterte" ihrer Ausbildung nachzugehen, und nebenher ein paar Dollar als Musiklehrerin zu verdienen. Ihr Mentor brachte sie mit dem Sänger Sebastian Clement zusammen. Dieser suchte für seine Gesangsproben eine Begleitung am Klavier. Lucy verfällt in ihrem jugendlichen Überschwang dem Sänger. Dieser distanziert sich, denn er ist über fünfzig Jahre alt, könnte ihr Vater sein, und außerdem verheiratet. Chicago sei auch nur eine Zwischenstation während seiner Tournee. Aber er versprach, nach seine Rückkehr aus Europa, sie wieder zu engagieren (und vielleicht noch mehr).
Das klang für Lucy alles wie ein Märchen … und wäre dann nicht noch Harry … und ihr Vater … und ein Unglück … mehr wird nicht verraten.
Man kann allerdings die Tragik darin erahnen, auch wenn die Autorin geschickt mit den Erwartungen/Vermutungen der Leser:Innen spielt. Man lebt und freut sich mit der überschwänglichen Lucy, und man lässt genau wie sie den Kopf voller Traurigkeit hängen.
Die Sprache ist brillant, die Geschichte in wunderschöne Sätze verpackt, und das Buch ist ein wirkliches Kleinod der Literaturgeschichte. Nicht zuletzt erhebt sich die Sprachgestaltung auf dieses sehr hohe Niveau durch die wunderbare Übersetzung. Die klassische Musik spielte im Buch eine wichtige Rolle.
Dieser wunderbare Roman, das Buch herrlich in Optik und Haptik vom Verlag gestaltet, ist eine sehr lohnende Wiederentdeckung der Autorin. Ein sehr informatives Nachwort von Alexa Hennig von Lange rundet das Werk perfekt ab.
Sehr gerne gebe ich eine absolute Leseempfehlung für diesen Klassiker der amerikanischen Literatur.

Bewertung vom 15.01.2024
Lichtungen
Wolff, Iris

Lichtungen


ausgezeichnet

Sprachmagie vom Feinsten

Lange erwartet, heiß ersehnt, die Erwartungen hoch … und wurden erfüllt. Voll und ganz. Iris Wolff übt auf ihre Leserschaft eine ganz besondere Sprachmagie aus. Sie schafft es mit ruhigen Worten ihre beschriebene Welt derart darzustellen, als wäre man mitten drin. Ihre Protagonist:innen erwachen zum Leben, man begleitet sie, als wären es reale Personen, welchen man auf Schritt und Tritt folgt.
Auch die Chronologie der Erzählung ist hier sehr besonders. Sie beginnt in der Gegenwart und tastet sich mit jedem der neun Kapitel in die Vergangenheit. Die Kapitel selbst beginnen mit einem ausgewählten Zitat in der Originalsprache (mit Übersetzung im Anhang).
Lev und Kato kennen sich von Kindheit an. Es entwickelt sich eine innige Freundschaft, zuerst wider ihrer beider Willen, die die Jahre und spätere geographische Trennung überdauert.
Die Handlungen spielen hauptsächlich in Rumänien, im Banat und in Siebenbürgen, statt. Land und Leute sind geprägt von dem Regime, erdulden und erleiden es bis zu dessen Ende. Sie bleiben das, was sie sind, sprechen Deutsch in ihrer ausländischen Heimat. Der Wunsch, der Diktatur zu entfliehen in den gelobten Westen ist omnipräsent. Aber wehe die Mauern fallen, dann scheint sich eine andere Art von Ohnmacht einzuschleichen.
Mit viel Feingefühl zeichnet Wolff ihre Figuren, ihre Rituale und Lebensumstände. Der Fall des Regimes in Rumänien verändert vieles, auch die Beziehung zu Lev und Kato. Während Levs Großvater die Flucht nach Wien schon früher gelang (und sich als Vielvölkermischling sieht), nutzte Kato erst nach dem Öffnen der Grenzen die Möglichkeit, um „zu verschwinden“. Mit dem Fahrradtouristen Tom machte sie sich auf und davon. Sehr zum Leidwesen von Lev. Dieser verharrte an Ort und Stelle, verfiel in eine Art nostalgische Melancholie. Erst eine Aufforderung von Kato, sie in Zürich zu besuchen, löste ihn von seiner Ortsverbundenheit.
Viel mehr kann und will ich über den Inhalt nicht verraten, jedes erwähnte Detail wäre zu viel. Also selber lesen, denn es lohnt sich allemal. Ganz große #Leseempfehlung für diesen wirklich sehr gelungenen Roman. Sprachpoesie vom Feinsten.