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Volker M.

Bewertungen

Insgesamt 430 Bewertungen
Bewertung vom 06.04.2024
Ida Paulin

Ida Paulin


ausgezeichnet

Ida Paulin ist vor allem als Glaskünstlerin bekannt, wobei ihr Werk insgesamt wenig erforscht ist. Neben Glas hat sie Keramik und Batiken entworfen und war auch als Malerin tätig. Sie gehört zu einer ab 1900 stetig anwachsenden Gruppe von künstlerisch aktiven Frauen, die mit ihrer Profession den Lebensunterhalt verdienten und sich auch unternehmerisch sehr erfolgreich am Markt etablierten. Ihr ist derzeit eine Ausstellung an der Kunstsammlung Augsburg gewidmet, zu der der vorliegende Katalog erschienen ist.

Die Vielschichtigkeit von Ida Paulins Glasarbeiten ist bisher kaum untersucht worden, was sicher auch daran liegt, dass sie sich stilistisch kaum zuordnen lässt. Sie entwickelte ihre Dekore mit atemberaubender Geschwindigkeit, wobei sie durchaus aktuelle Zeitströmungen aufnahm und insbesondere vor dem 1. Weltkrieg sehr fortschrittliche Strömungen adaptierte. Einschränkend muss man allerdings feststellen, dass sie zwar eine sehr solide künstlerische Ausbildung besaß, das Glashandwerk aber autodidaktisch erlernte. Das erklärt ihr sicheres grafisches Gespür, bei vergleichsweise unpräziser handwerklicher Umsetzung. Anders als die zeitgleichen Produkte z. B. aus einigen Glashütten in Böhmen, waren Ida Paulins Gläser keine Luxus- und Zierobjekte, sondern als Gebrauchsglas konzipiert. Auch preislich blieben die Stücke aus eigener Produktion für eine breite Masse erschwinglich, was sicher eine Erklärung dafür ist, dass sie die Weltwirtschaftskrise, im Gegensatz zu vielen Mitbewerbern, relativ unbeschadet überstand. Als Gebrauchswaren mit begrenzter Haltbarkeit sind Paulins Gläser auch vergleichsweise selten überliefert. In der Ausstellung sind vor allem Stücke aus Privatsammlungen, insbesondere der Familie Paulin zu sehen. Neben der Eigenproduktion in Glas hat Ida Paulin ganz sicher auch grafische Entwürfe für Porzellanmanufakturen geliefert, aber deren Umfang bleibt, trotz eines sehr interessanten Beitrags zum Thema im Katalog, bisher unvollständig erforscht.

Die Autoren würdigen Ida Paulin als selbstbewusste und gut vernetzte Künstlerin, die schon früh damit begann, Messen und Ausstellungen als Werbemaßnahme zu nutzen. Zwar ist das Paulinsche Firmenarchiv 1944 bedauerlicherweise bei einem Bombenangriff untergegangen, aber aus Sekundärquellen und privaten Unterlagen lassen sich die wesentlichen Entwicklungsschritte nachvollziehen. Aufgrund der Motivvielfalt sind auch die zeitgenössischen künstlerischen Einflüsse gut erkennbar, wobei sich zeigt, dass Ida Paulin immer nah am Puls der Zeit blieb und den Markt stets im Blick behielt. Ein Textbeitrag untersucht auch Paulins politische Einstellung während der Nazizeit, ohne allerdings ein klares Bild zu liefern. Ihr Mann hegte Sympathien für das Regime, wenn es ihm opportun erschien, und Paulin schuf selber Entwürfe und Produkte im zeittypischen Stil, wahrscheinlich auch für offizielle Auftraggeber, eine aktive Rolle haben beide aber ganz sicher nicht gespielt.

Der Katalogteil mit über 300 Positionen aus den Kategorien Glas, Porzellan, Batik und Grafik gibt einen ausgezeichneten Überblick über die Vielfalt der künstlerischen Produktion, zeigt aber auch die handwerklichen Defizite, die der Autodidaktin immer anhafteten. Das eindrucksvolle Stück auf dem Titelbild ist da eher eine Ausnahme. Ida Paulins besondere Lebensleistung besteht vor allem darin, dass sie in schwierigen Zeiten ein Unternehmen aufbaute, das nicht wenig Erfolg hatte und dass sie bis ins hohe Alter künstlerisch produktiv blieb.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.03.2024
Pater Brown. Die besten Geschichten
Chesterton, Gilbert K.

Pater Brown. Die besten Geschichten


sehr gut

Die meisten kennen Pater Brown vor allem aus den seichten Rühmann-Filmchen oder sogar nur aus der deutschen Fernsehadaption als Pater Braun mit Ottfried Fischer. In den Filmen entgeht dem Zuschauer allerdings, dass G. K. Chesterton ein exzellenter Schriftsteller war, der gerne mit feinem Sarkasmus und sehr spitzer Feder die englische Oberschicht aufs Korn nahm. Seine Beschreibungen von mit ungezügelter Dummheit gepaartem Standesdünkel gehören zum Lustigsten, was die englische Literatur hervorgebracht hat.

Wer das Versäumte nachholen will, hat mit diesem Sammelband eine gute Gelegenheit dazu. Acht Geschichten, die zwischen 1910 und 1927 entstanden sind, zeigen Pater Brown als Meister der Beobachtung und genialen Rätsellöser, in einer Art und Weise, die später von Agatha Christies Miss Marple wieder aufgegriffen wurde: Pater Brown begibt sich nicht selber in die Höhle des Löwen (anders als Heinz Rühmann in seiner Rolle), sondern greift nur beratend in die Ermittlungen ein, um Unschuldige vor dem Galgen zu bewahren. Manchmal hat er weder Tatort noch Verdächtige persönlich gesehen, aber vor seinem (und des Lesers) inneren Auge entwickeln sich kunstvoll die komplexesten Tathergänge und Browns kreative Schlussfolgerungen führen mit Poirotscher Selbstgewissheit stets zum wahren Täter. Die schönsten Passagen sind allerdings die eleganten Spitzen gegen die englische Aristokratie, die wirklich nicht gut wegkommt. Chestertons und Browns Herzen schlagen eindeutig für die damals noch geknechtete Unterschicht.

Die Neuübersetzung von Isabelle Fuchs ist ganz ordentlich, aber an einigen Stellen bin ich doch stutzig geworden, ob im Deutschen die gleiche Sorgfalt in die Auswahl des wirklich passenden Wortes und einen korrekten Syntax gelegt wurde, wie im Original. Ein Lektorat ist in solchen Fällen durchaus hilfreich, wenn man denn eins hat. Aber diese Sparzwänge...

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.03.2024
Hoch und heilig
Freudenberg, Sandra

Hoch und heilig


ausgezeichnet

Gleich auf einer der ersten Seiten hat mich Stefan Rosenboom, der zwar nur zwei Texte beigesteuert hat, aber für die stimmungsvollen Fotos verantwortlich zeichnet, gleich abgeholt: Er gesteht, dass er nicht gläubig ist und ein echtes Problem mit Frömmelei hat. Die Haltung teile ich völlig, aber ich teile auch seine Meinung, dass man nicht an Gott glauben muss, um in eine Kirche zu gehen. Ich liebe die Aura in Kirchen, ihre Ruhe und Innerlichkeit und genauso faszinieren mich Pilgerwege, in Europa wie in Japan, wo das Pilgerwesen ebenfalls sehr ausgeprägt ist. Meine Heimatstadt ist ein bedeutender Pilgerort und sogar Teil des verzweigten Jakobswegs, den Stefan Rosenboom und Sandra Freudenberg bei verschiedenen Gelegenheiten auf ihrem Weg durch die Alpen ebenfalls beschritten haben. Dabei erleben sie Geschichten und Geschichte, begegnen Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und erfahren eine Natur, deren Pracht und Vielfalt einen vielleicht doch an Gott glauben lassen könnte. Den meisten Menschen, denen sie begegnen, ist eine tiefe Religiosität eigen, um die sie die Autoren auch regelmäßig beneiden, aber die Texte halten erfreulicherweise eine gewisse Distanz, so dass nie das Risiko besteht, dass sie rührselig oder zu esoterisch werden.
Ähnlich wie bei Hape Kerkeling auf seinem Camino räumen die Pilgerreisen der beiden (die sie übrigens mit wechselnden Wanderpartnern oder sogar alleine durchführen) die Seele auf und erlauben es, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Sie entschleunigen das Leben und schärfen die Sinne für Details. Auch die Fotos sind solche Momentaufnahmen, die sich auf ein bestimmtes Detail fokussieren, das eine Stimmung präzise einfängt, oder ein Erlebnis in einem einzigen Bild festhält. Man reist als Leser in Gedanken mit und Text und Bild ergeben ein authentisches Ganzes.

Insgesamt 12 Wanderungen von unterschiedlicher Länge und unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad werden begangen. Im Anschluss an die Kapitel findet sich jeweils eine kurze Zusammenfassung mit Wegbeschreibungen und Tipps zu Sehenswürdigkeiten. Hinweise zu Übernachtungsmöglichkeiten und Pilgerherbergen sind dagegen nur im Text beschrieben, da muss man entweder auf Gott vertrauen oder im Internet vorbuchen. Manchmal übernachten die Autoren aber auch in freier Natur.

Ein schönes, intensives Buch, das abwechslungsreiche Pilgertouren für Menschen mit und ohne Fitness und mit und ohne Glauben bietet.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.03.2024
Die Bamberger Kaisergewänder im Wandel
Ruß, Sibylle;Drewello, Ursula

Die Bamberger Kaisergewänder im Wandel


ausgezeichnet

Mit dem nun vorgelegten dritten Band ist die Dokumentation des DFG Projektes „Kaisergewänder im Wandel“ abgeschlossen und liefert überraschenderweise Erkenntnisse, die in einigen Punkten noch einmal deutlich über den Stand der beiden Vorgängerbände hinausgehen. Seit der an ein breites Publikum gerichteten Veröffentlichung „Die Bamberger Kaisergewänder unter der Lupe“ aus dem Jahr 2021 haben weitere Auswertungen der Befunde aus den materialwissenschaftlichen und kunsttechnologischen Untersuchungen zu einigen unerwarteten Ergebnissen geführt, die den bisher gefällten Aussagen teilweise entgegenstehen und lange tradierte Gewissheiten widerlegt haben.

Schon in den Vorgängerbänden stach die detektivische Sorgfalt hervor, mit der die Bamberger Kaisergewänder und ihre aus verschiedenen Reparatur- und Restaurierungsmaßnahmen überlieferten Fragmente wissenschaftlich analysiert wurden. Man muss sich vor Augen halten, dass bereits Mitte des 15. Jahrhunderts, also dreihundert Jahre nach ihrer Entstehung, die ersten Gewänder grundlegend überarbeitet wurden, um sie als verehrte Reliquien für die Zukunft zu erhalten. Bis zur vorliegenden Auswertung ging man davon aus, dass dabei in die bildlichen und textlichen Inhalte wesentlich eingegriffen wurde und dass eine Rekonstruktion des ursprünglichen Zustands nicht mehr möglich sei. Das war offenbar ein Irrtum, denn wie Sybille Ruß, Ursula Drewello und ihre Kolleginnen zeigen, waren die spätmittelalterlichen Restauratoren mit einem hohen Maß an Verantwortungsbewusstsein bei der Arbeit und haben die Stickereien in der Position fast unverändert auf den neuen Trägerstoff übertragen. Damals war es der religiöse Respekt vor dem Reliquiencharakter der Gewänder, heute ist es die restauratorische Sorgfaltspflicht. Auch die Reparaturen des 18. Jahrhunderts haben letztlich wenig Schaden angerichtet, anders als die schlecht dokumentierten „Restaurierungen“ der 1950er-Jahre, die vor allem die Tunika in eine völlig neue (und historisch falsche) Form gebracht haben. Aber auch diese Fehler sind durch die aktuellen Untersuchungen mittlerweile transparent geworden, auch wenn man sich dazu entschlossen hat, den vermutlichen Urzustand jetzt nicht mehr wiederherzustellen, sondern die Veränderungen als Zeitzeugnisse zu belassen.

Die Untersuchungen an den Fäden und Färbemitteln, sowie der Goldzusammensetzung der Goldfilamente erlauben es, die Erkenntnisse zu Werkstätten und Datierungen gegenüber den Vorgängerbänden noch einmal zu präzisieren. Analysen der Webtechnik und vor allem der Kettfädenverläufe haben bahnbrechende und sicher von vielen unerwartete Ergebnisse geliefert, die ein Höchstmaß an Sorgfalt auf allen Ebenen erfordert haben. Das interdisziplinär angelegte Projekt führte Fachleute der unterschiedlichsten Disziplinen zusammen und es muss noch einmal betont werden, dass die drei Bände als zusammenhängendes Konvolut funktionieren, indem sie einerseits aufeinander inhaltlich Bezug nehmen, bestimmte Aspekte (z. B. Analysemethoden) aber nur in jeweils einem wissenschaftlich vollständig beschrieben sind. Besonders beeindruckt hat mich, dass selbst in den dreieinhalb Jahren zwischen dem ersten und dem finalen Band noch einmal so umwälzende Erkenntnisse gewonnen wurden. Es ist der beste Beleg dafür, welchen Wert eine umfassende und vollständige Dokumentation bei Restaurierungsmaßnahmen an so bedeutenden Objekten hat. Sie ist nämlich nicht nur eine Momentaufnahme, sondern die Grundlage für jede weitere Forschung der Zukunft.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.03.2024
Das Milliardenspiel
Stevenson, Gary

Das Milliardenspiel


ausgezeichnet

Immer wieder wird in den Medien über Millionenboni berichtet, die Investmentbanker jährlich von ihren Arbeitgebern als Gewinnbeteiligung erhalten. Doch wie sind diese exorbitanten Gehälter überhaupt möglich? Ist das alles legal und wer zahlt am Ende die Zeche? In seiner Autobiografie beschreibt Gary Stevenson seine Zeit als Händler bei der Citibank von 2008 bis 2014, als die Finanzkrise begann und das globale Finanzsystem am Abgrund stand. Stevenson stammt aus ärmlichen Verhältnissen, flog als Drogendealer von der Schule und studierte dennoch an der LSE (London School of Economics and Political Science), die neben Harvard, Oxford und Cambridge den besten Ruf hat.

Getrieben von Ehrgeiz und dem Willen, viel Geld zu verdienen, schaffte er es, vom Trainee zum erfolgreichsten Händler bei der Citibank zu werden und jährliche Boni in zweistelliger Millionenhöhe zu verdienen. Doch mit der Zeit merkte er, dass ihn das Geldverdienen nicht mehr befriedigte und ihn schließlich in eine Depression stürzte. Die Finanzkrise sah er nicht nur als Vertrauensverlust, sondern als eine große Umverteilung von Vermögen, bei der vor allem die Mittelschicht massiv an Wohlstand verloren hat. Er beschloss, aus dem Unternehmen auszusteigen, was ihm lange Zeit von seinem Arbeitgeber erschwert wurde.

Es ist für mich eindrucksvoll und erschreckend zugleich, mit welcher Unbekümmertheit diese Menschen mit dreistelligen Milliardenbeträgen spekulierten und dabei die Risiken kaum eine Rolle spielten. Gerade in turbulenten Zeiten wie der Finanz- und Eurokrise liefen die Geschäfte auf Hochtouren und jeder Trader versuchte, den anderen zu übertrumpfen. Der Wettbewerb um die höchsten Gewinne führt dazu, dass moralisches Handeln in den Hintergrund tritt und die reine Gier regiert, von den Exzessen während und nach der Arbeit ganz zu schweigen.
Stevenson vermittelt in Ansätzen auch fachliche Grundlagen seiner Arbeit. So erfährt der Leser nebenbei, wie Devisenswaps funktionieren und mit welchen Maßnahmen die Zentralbanken den Spekulanten das Geschäft verderben können. Er erfährt auch, wie das Zinsmanagement der Zentralbanken funktioniert, wie sich Zinssenkungen und Zinserhöhungen (normalerweise) auswirken und warum es nach der Finanzkrise eine so lange Phase der Nullzinspolitik gab.

Stevensons schreibt eingängig und spannend, auch wenn mich an manchen Stellen seine derbe Ausdrucksweise gestört hat. Sobald er seine Motivation verliert und kein Interesse mehr an seiner Arbeit hat, dominiert eine depressive Grundstimmung, die bis zu seiner Versetzung nach Japan und seinem Ausscheiden anhält. Aber alles ist für mich glaubwürdig und nachvollziehbar gewesen.

„Das Milliardenspiel“ ist, auch wenn der Untertitel „Wie man eine Bank ausraubt - und den Rest gleich mit“ es vermuten lässt, kein Bericht über einen kriminellen Coup, sondern die spannende Autobiografie eines Traders, der mit Spekulationsgeschäften extrem viel Geld verdiente, dann vorgeblich sein Gewissen entdeckte und ausstieg. Die schmutzigen Millionen hat er natürlich mitgenommen.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.03.2024
Sapiens - Das Spiel der Welten
Harari, Yuval Noah

Sapiens - Das Spiel der Welten


ausgezeichnet

Wer steuert die Geschichte? Ist es der reine Zufall oder sind Kräfte am Werk, die nach bestimmten Regeln handeln? In Yuval Noah Hararis neuer Graphic Novel stellen sich fünf Kandidaten zu Wahl, die jeweils ein historisches Prinzip vertreten: Der Clash der Kulturen tritt an gegen die Macht der Imperien, die verbindende Kraft des Geldes gegen die Religion und Mr. Zufall. In einer fiktiven Spielshow stellen sich die Kandidaten einer Fachjury, die sie mit Beispielen und klugen Analysen zu überzeugen suchen, wenn auch mit wechselndem Erfolg. Wer wird das Spiel gewinnen?

Wie schon in den Vorgängerbänden haben die Autoren die unterschiedlichen Thesen geschickt aufbereitet, so dass sie sich kurz und knapp darstellen lassen, sei es durch imaginäre Zeitreisen oder durch Visualisierung im Stil von Infografiken. Harari hat ein besonderes Talent dafür, komplizierte Zusammenhänge einfach zu erklären, ohne dass es inhaltlich falsch würde. Jeder seiner Kandidaten, jeweils repräsentiert durch einen „Superhelden“, der von sich behauptet, die Geschichte zu kontrollieren, bringt überzeugende Argumente, die von den Mitgliedern der Jury auf die Probe gestellt werden. So bekommt der Leser quasi eine Stimme und Kontroversen werden spielerisch aufgedeckt. Wie sich herausstellt, gibt es keine einfachen Antworten, denn jeder Kandidat hat auch Schwächen in seiner Argumentation. Letztlich ist es das Zusammenspiel aller fünf Elemente, die die Geschichte steuern, wenn auch nicht notwendigerweise in eine vorhersehbare Richtung.

Gerade in unsicheren Zeiten wie den unseren, in denen sich die Gesellschaft auflöst und man kein Prophet sein muss, um vorherzusehen, dass wir auf einen gewaltigen Konflikt zusteuern, wünscht man sich so etwas wie eine Glaskugel. Aber die Geschichte zeigt, dass nicht der Edelmütigste überlebt, weil er die Moral auf seiner Seite hat, sondern dass hier ganz andere Kräfte am Werk sind. Diktaturen und Autokratien haben sich als weitaus widerstandsfähiger erwiesen als die Demokratie, was angesichts der Weltverbesserer in Bundesregierung und EU keine gute Prognose ist. Vor diesem Hintergrund scheinen Wokeness und kompromisslose Klimahysterie wie der Abgesang einer überspannten Epoche.

Harari geht ausführlich auf die Rolle der Religion ein. Die alten Kulte (Animismus, Hinduismus, Buddhismus und Judentum) hatten keinen Alleinvertretungsanspruch, weshalb es damals quasi keine interreligiösen Konflikte gab. Das hat sich mit dem Christentum und insbesondere dem Islam grundlegend geändert. Während das Christentum mittlerweile an Bedeutung verliert, radikalisiert sich der Islam zunehmend und kennt wahren Frieden nur bei „freiwilliger“ Unterwerfung. Harari ist sich der Gefahr zwar bewusst, seine Religionskritik richtet sich aber zu 90% gegen historische Auswüchse des Christentums, die aktuellen Greuel durch Islamisten bleiben weitgehend unerwähnt. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Wenn man Hararis These einer seit Jahrtausenden fortschreitenden Vereinheitlichung der Weltgemeinschaft folgt, ist das ein beunruhigender Hinweis darauf, wer der Gewinner dieser Entwicklung sein wird. Kein schöner Gedanke, aber wir beschleunigen diesen Prozess durch unsere unkritische Toleranz gegen die Intoleranten und Unterwerfungsgesten, die auch international sehr wohl wahrgenommen werden. Wer Hararis Graphic Novel aufmerksam liest, wird mehr als nur einen Aha-Moment erleben, denn die Prinzipien, nach denen Geschichte abläuft, folgen tatsächlich bestimmten Regeln. Die Zukunft lässt sich zwar nicht im Detail vorhersagen, die Tendenz dagegen schon. Beruhigt hat mich das Buch nur insofern, als dass es irgendwie weitergehen wird. Aber die besten Zeiten liegen definitiv hinter uns.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.03.2024
Planet Erde III
Attenborough,David(Presenter)

Planet Erde III


ausgezeichnet

Wohl kaum ein lebender Mensch hat aus eigener Anschauung so hautnah erfahren, wie sehr sich unsere Erde verändert hat, wie David Attenborough. Der mittlerweile 98-Jährige ist auch in Planet Erde III wieder die Erzählstimme und man merkt ihm das Alter kaum an, so klar und präzise ist seine Aussprache. Die Warmherzigkeit seiner Stimme alleine lohnt, sich den Film im Original anzuschauen, denn er erzählt auch von eigenen Erlebnissen vor 70 Jahren, die ihm hörbar ans Gemüt gehen. Der größten Karettschildkröten-Kolonie der Erde droht der Untergang und Schuld ist wieder mal der Mensch. In der dritten Staffel von „Planet Erde“ geht es oft um solche Umwälzungen, aber auch darum, wie sich Tiere an die neuen Bedingungen anpassen. Das geht manchmal erstaunlich schnell, nur kommt es auch zunehmend zu Konflikten mit den Menschen, die in immer neue Habitate einbrechen und sie direkt oder indirekt zerstören. Gerade im sehenswerten Making-of geht es um diese sichtbaren Auswirkungen, wobei besonders tragisch ist, dass die Folgen unseres Handelns weit über den menschlichen Siedlungsraum hinaus gehen.
Besonders hervorheben möchte ich, dass die Macher der Serie diesmal besonders viele Arten in den Fokus stellen, die man nicht schon tausend Mal gesehen hat. Von den ganz kleinen bis zu den ganz großen reicht das Spektrum, wobei die Episoden thematisch wieder nach Lebensräumen gegliedert sind. Die BBC ist dabei technisch mittlerweile unschlagbar. Kein anderer Produzent treibt einen derartig großen Aufwand mit Drohnen, Zeitlupen und Extremoptik und nicht selten sind Ausschnitte von wenigen Sekunden Länge das Ergebnis von wochenlangem Warten. Fünf Jahre hat die Realisation dieser Staffel gedauert und man sieht es in jedem Augenblick. Das ist inhaltlich und ästhetisch einfach unerreicht und wird ohne Zweifel zum Gedächtnis der Menschheit gehören, wenn all das verschwunden ist, was die Kameraleute in unendlicher Mühe und Geduld zumindest im Bild festgehalten haben.

(Diese Blu-ray wurde mir von Polyband kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.03.2024
Offene Geheimnisse
Schmolcke, Nikolaj

Offene Geheimnisse


ausgezeichnet

Wer in Aktien und Anleihen investiert, kommt langfristig um eine fundierte Unternehmensbewertung nicht herum. Grundlage dafür ist vor allem der Jahresabschluss, der für alle Kapitalgesellschaften und bestimmte Personenhandelsgesellschaften in elektronischer Form im Unternehmensregister veröffentlicht werden muss. Doch viele Anleger lassen die Bilanzen lieber links liegen, weil sie glauben, dass nur Experten die Zahlengräber verstehen und Jahresabschlüsse ohnehin „manipuliert“ sind. Doch Nikolaj Schmolcke räumt in „Offene Geheimnisse“ mit diesem Mythos auf und zeigt, wie man eine Bilanz liest, welche Posten wichtig sind und wie man Schönfärberei in der Bilanz entlarvt. Anhand realer Unternehmen wird erklärt, welche Geschäftsmodelle gut und welche schlecht sind und auf welche Kennzahlen es wirklich ankommt. Ziel des Buches ist es, ein solides Bilanzverständnis für Einsteiger aufzubauen.

Schmolcke stellt zu Anfang des Buches drei einfache Fragen, die einen ersten Überblick über den Jahresabschluss geben, ohne gleich das Zahlenwerk analysieren zu müssen: Wie lange hat es gedauert, bis der Wirtschaftsprüfer den letzten Jahresabschluss unterschrieben hat? Welchen Standpunkt vertritt der Wirtschaftsprüfer? Und: Wie bewertet die Geschäftsleitung die nähere Entwicklung? Die Beantwortung dieser Fragen dauert nur wenige Minuten und reicht meist aus, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Besonders wichtig ist der Lagebericht der Geschäftsführung, denn hier muss jedes Wort geprüft und belegt werden.

Die Grundlagen hält Schmolcke so kurz wie nötig. Er beschreibt den Aufbau einer Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung, klärt Begriffe wie Aktiva und Passiva, Eigen- und Fremdkapital, Anlage- und Umlaufvermögen (oft auch mit den heute üblichen englischen Vokabeln). Anhand eines einfachen Beispiels zeigt Schmolcke die schrittweise Erstellung einer Bilanz und kreative Möglichkeiten der Bilanzkosmetik.

Mit weiteren Fragen konzentriert sich der Autor auf wesentliche Kennzahlen in der Bilanz, vor allem Umsatz, Gewinn aber auch aktivierte Eigenleistungen, Bestandsveränderungen und aufgelöste Rückstellungen. Anhand von vielen realen Beispielen (z. B. von Volkswagen, Siemens, Deutsche Telekom, Wirecard) erklärt Schmolcke , wie schnell man Jahresabschlüssen ihre Geheimnisse entlocken kann. Und dabei muss man noch nicht einmal ein Zahlennerd sein.

Nikolaj Schmolcke hat mir mit seinem didaktisch hervorragendem Buch einen neuen und viel einfacheren Zugang zu Bilanzen ermöglicht. Er hat mir gezeigt, dass es nur auf wenige Punkte in der Bilanz wirklich ankommt und dass man mit nur zehn Fragen ein Instrument an die Hand bekommt, mit dem man einen Jahresabschluss schon sehr qualifiziert analysieren kann.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.03.2024
Wilde Farben
Ross, Caroline

Wilde Farben


weniger gut

Naturpigmente sind eigentlich nichts Außergewöhnliches: Seit Jahrhunderten haben Künstler sie verwendet und es gibt sogar mittelalterliche Quellen, die detailliert beschreiben, wie Pigmente und ihre Malmittel hergestellt wurden. Synthetische Pigmente sind also eine relativ junge Erfindung und auch heute noch basieren vor allem Brauntöne meistens auf Naturpigmenten. Mich hat das Thema sehr interessiert, aber meine Erwartungshaltung wurde leider enttäuscht.

Auf den ersten 50 Seiten ergeht sie sich die Autorin in immer wieder gleichen Phrasen darin, wie schön es doch sei, seine Farben selber zu sammeln und wo man überall fündig wird. Eine Doppelseite am Strand, eine Doppelseite im Wald, eine Doppelseite im Süßwasser oder am Straßenrand und ein paar Seiten darüber, womit man Farben abkratzen kann (mit Messern, Gabeln, Steinen, Scheren). Dazu ein paar beispielhafte Strichproben, die eine sehr übersichtliche Bandbreite von dunkelbraun, braun, gelbbraun, rotbraun, grünbraun oder ocker darstellen. Frische Farbtöne gibt es in Caroline Ross‘ Palette nicht. Zugegeben, bei leuchtenden Farben wird es schnell giftig, auch wenn sie aus der Natur kommen.

Auf den nächsten 20 Seiten wird beschrieben, wie man die Gesteinsbrocken in Pigmente verwandelt, allerdings bleiben die Verfahren für mein Empfinden sehr unscharf. Ich kann das Ganze in einem einzigen Satz zusammenfassen: Zu Pulver mahlen, aufschlämmen, abgießen, trocknen lassen. Zum Vermahlen nimmt Caroline Ross alles, was eine raue Oberfläche hat, zum Abtrennen gröberer Partikel reicht ihr ein Küchensieb, zum Schlämmen schüttelt sie das Pigmentpulver mit Wasser in einem Einmachglas. Man muss kein Pigmentexperte sein, um zu ahnen, dass so ein Produkt kaum höheren Standards gerecht wird. Die Ausbeute an wirklich hochwertigem Pigmentpulver ist bei dieser „Küchenchemie“ marginal und den Aufwand nicht wert. Die meisten Fraktionen werden noch viele grobe Partikel enthalten, die beim Malen sehr stören und das fertige Bild auch instabil machen. Später im Buch werden Arbeiten von Naturpigmentkünstlern gezeigt, die diesen Verdacht erhärten. Caroline Ross allerdings steht auf dem Standpunkt „It’s not a bug, it’s a feature“. Was man nicht kann, muss eben so sein.

Richtig ärgerlich wird es dann, als es an das Anmischen der Farben geht. Nur Zutatenlisten, keine präzisen Rezepturen. Alles wird nach „Gefühl“ angesetzt, was gut zu dem etwas esoterisch-mäandernden Stil passt, in dem Caroline Ross auch schreibt. Malen mit Naturfarben als Heilmittel für eine geschundene Welt. Ich hatte erwartet, ernsthafte Informationen über Pigmentherstellung zu bekommen, ähnlich wie sie die alten Meister in ihren geheimen Farbbüchern festgehalten haben, stattdessen bekomme ich auf 128 Seiten 50 verschiedene Brauntöne, ein paar flaue Grüntöne und ein Blassblau aus Vivianit vorgestellt (das im Übrigen ein eher seltenes natürliches Mineral und sehr wenig farbstabil ist). Nicht einmal die Indigoherstellung wird vernünftig erklärt.

Zumindest hat die Berliner Übersetzerin streng darauf geachtet, den gesamten Text sauber durchzugendern, inklusive Stolpersternchen. Da stimmt vielleicht nicht der Inhalt, aber wenigstens die Weltanschauung. Nein, danke. Die zwei Sterne gibt es für die schönen Fotos und das gute Layout. Ansonsten nur was für Dünnbrettbohrer*innen.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

Bewertung vom 11.03.2024
Das Grab von Erzbischof Erkanbald (¿ 1021)

Das Grab von Erzbischof Erkanbald (¿ 1021)


ausgezeichnet

Es war eine kleine Sensation im Jahr 2019, als in der Mainzer St. Johanniskirche unter einem mittelalterlichen Fußboden ein Sarkophag entdeckt wurde, dessen äußere Gestaltung auf ein Bischofsgrab hinwies. Unter großer medialer Teilnahme wurde der Sarg geöffnet und Proben entnommen, die später materialtechnisch untersucht wurden. Im Kontext von mittelalterlichen Quellen, der detailliert dokumentierten Bauarchäologie der Johanniskirche und dem Befunden aus dem Bischofsgrab ergab sich ein erstaunlich kohärentes Bild, das letztlich keinen Zweifel daran ließ, dass es sich bei der Leiche um Bischof Erkanbald und bei der Johanniskirche um den alten Mainzer Dom gehandelt hat. Die Ergebnisse der Untersuchungen sind im vorliegenden Band zusammengefasst.

Zunächst wird die Baugeschichte der Johanniskirche summarisch vorgestellt, wobei auch sehr aktuelle und bisher nicht publizierte Befunde berücksichtigt werden. Die Positionierung des Sarkophags und die darüber gefundenen Reste eines Tumbadenkmals wiesen schon früh auf eine hochrangige Bestattung hin. Vergleiche der Sarkophaggestaltung mit Exemplaren gleicher Zeitstellung werden dann im folgenden Beitrag untersucht. C14-Datierungen an verschiedenen Materialproben aus dem Grab passen genau in die Lebensspanne von Bischof Erkanbald, die angeschlossenen anthropologischen Untersuchungen sind aufgrund des schlechten Erhaltungszustands des Skeletts aber weniger aussagekräftig. Außerdem wurde der Leichnam weitgehend in situ belassen und nur fotografisch dokumentiert. Die technische Untersuchung der entnommenen Textilproben erlaubte allerdings eine ziemlich detaillierte Aussage zur Ausstattung, die zweifelsfrei zu einem Bischofsgrab gehörte. In der Gesamtschau blieb nur Erkanbald als möglicher Kandidat, was gleichzeitig die schon lange diskutierten Nutzung der Johanniskirche als erstem Dom in Mainz bestätigte. Den Abschluss bildet eine Biografie mit den Lebensdaten des dritten Mainzer Bischofs.

Der Band mag schmal sein, sein Inhalt ist es definitiv nicht. Die Autoren korrigieren wesentliche Teile der Mainzer Kirchengeschichte und stellen Erkanbald in den politischen Kontext seiner Zeit, in den er höchstwahrscheinlich auch aktiv eingebunden war, auch wenn die Quellenlage manchmal dünn ist.

(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.