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Benutzername: 
Xirxe
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Hannover
Buchflüsterer: 

Bewertungen

Insgesamt 874 Bewertungen
Bewertung vom 01.09.2020
Am Rand der Dächer
Just, Lorenz

Am Rand der Dächer


sehr gut

Andrej wächst in Berlin-Mitte auf, als plötzlich die Wende über die Stadt hereinbricht. Für ihn, seinen Bruder Anton und seinen Freund Simon eine aufregende Zeit, denn die verlassenen Häuser und Wohnungen sind phantastische Orte um die gemeinsamen Tage zu verbringen. Mit ihrem Älterwerden verändern sich nicht nur ihre Interessen und ihr Zeitvertreib, auch die Umgebung wandelt sich: Häuser werden saniert, die BewohnerInnen wechseln. Viel Vertrautes macht Platz für Neues.

Als Lesende begleitet man im Verlauf von 10 Jahren die Kinder bei ihren Streifzügen durch ihr Viertel, lernt HausbesetzerInnen kennen, lässt den Blick von den Dächern ihres Stadtviertels über Berlin schweifen, erfährt von der ersten Verliebtheit, kleinen und größeren Missetaten bis hin zu massiven Gesetzesübertretungen – alles, was ein Kinder- und Jugendlichenleben so ausmachen kann in einer Stadt, die sich in einem Umbruch von fast völliger Anarchie in westliche Ordnung befindet.

Ich-Erzähler ist der mittlerweile erwachsene Andrej, was den recht anspruchsvollen Sprachstil des Romans erklärt. Denn die erfindungsreichen Beschreibungen seiner Träume wie auch seines Innenlebens hätten den jungen Andrej höchst unglaubwürdig wirken lassen. Doch Lorenz Just gelingt es sehr überzeugend, trotz der Erzählung des erwachsenen Jungen die Sicht- und Denkweise des deutlich Jüngeren beizubehalten wie beispielsweise seine Sprünge durch Zeit und Raum, wenn ein ungenutzter Hinterhof zum Lebensraum der gigantischen Sumpfschildkröte Morla wird oder wenn ein Brachgelände den Schauplatz einer virtuellen Beerdigung eines Großvaters darstellt.

Zeitlich wie räumlich sind die Ähnlichkeiten zu Stern 111 von Lutz Seiler unübersehbar. Doch Am Rand der Dächer lässt sich nicht so leicht lesen, da häufig Sätze schon mal eine halbe Seite beanspruchen. Lesenswert ist es jedoch allemal.

Bewertung vom 17.08.2020
Ein Mann der Kunst
Magnusson, Kristof

Ein Mann der Kunst


ausgezeichnet

Wenn ein an der Menschheit krankender Künstler sich dazu aufrafft, sich mit einer kunstsinnigen, aber wenig zur Selbstreflexion neigenden Gruppe zu treffen, ist das Debakel vorprogrammiert. Als der weltberühmte Maler KD Pratz dem ihn besuchenden Förderverein einen Spiegel ihres Lebens vorhält (nicht ohne selbst widersprüchlich zu sein), kommt es zu den unterschiedlichsten Reaktionen.
Kristof Magnusson schreibt mit einer Leichtigkeit, die einen dieses Buch mit einem Lächeln im Gesicht in einem Rutsch durchlesen lässt. Doch es ist mehr als 'nur' ein bloßer Unterhaltungsroman. Auch wenn die Geschichte im Kunstmilieu spielt und Manches sicherlich spezifisch ist, lässt sich Vieles auf die Gesellschaft im Allgemeinen und jeden Einzelnen übertragen. Zu handeln, ohne sich zu fragen, ob man das wirklich möchte; auf Kritik nur eine Reaktion zu kennen: Verärgerung; Dinge (Kunst) einfach aufzunehmen, ohne sofort ein Urteil zu fällen.
Beste Unterhaltung, die zum Nachdenken anregt!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.08.2020
Long Bright River
Moore, Liz

Long Bright River


sehr gut

Mickey ist Streifenpolizistin in Kensington, Philadelphia, dem größten Drogenmarkt im Osten der USA. Dort wacht die Alleinerziehende über ihre jüngere, drogenabhängige Schwester Kacey, die sich ihr Geld mit Prostitution verdient und seit fünf Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen hat. Als in dieser Gegend eine Reihe von Morden an Prostituierten verübt werden und Kacey nicht mehr aufzufinden ist, macht sich Mickey auf die Suche nach ihr.
'Long Bright River' ist nicht nur ein Kriminalfall, sondern gleichzeitig auch eine Familiengeschichte und das Porträt eines Stadtteils, dessen Gesellschaft vermutlich die größte Krise seiner Existenz durchlebt. Wir Lesenden begleiten Mickey bei ihren täglichen Streifen durch Kensington, wo 1/3 der Ladenfronten verrammelt ist und überall Drogen und Sex angeboten werden. Es ist eine trostlose Atmosphäre, die nur durch gelegentliche Lichtblicke wie neue Bars und Geschäfte am Rande des Viertels aufgehellt wird. Wie die meisten Familien, die aus Kensington kommen, hat auch Mickeys' mit Drogenproblemen zu kämpfen. Nicht nur Kacey, auch ihre Eltern waren früh süchtig und starben, sodass die beiden Schwestern bei ihrer hartherzigen Großmutter aufwuchsen.
Mickey ist ein widersprüchlicher Charakter: Ihrem kleinen Sohn ist sie eine liebevolle Mutter, dem sie all ihre Aufmerksamkeit widmet, doch anderen Menschen gegenüber zeigt sie beinahe autistische Züge. Die herzlose Erziehung ihrer Großmutter und deren zynische Lebenseinstellung haben sie offenbar mehr geprägt als ihr bewusst ist im Gegensatz zu ihrer Schwester, die von Mickey für ihre Lebensfreude und ihr Selbstbewusstsein immer bewundert wurde. Liz Moore gelingt es erstaunlich gut, für Mickey einen Tonfall zu treffen, der häufig fast gänzlich frei ist von Gefühl, was sie nicht gerade zur Sympathieträgerin macht. Doch Rückblicke in ihre Kindheit und Jugend machen immer wieder deutlich, woher dieses Verhalten kommt.
Der Kriminalfall wird durch die Familiengeschichte fast schon in den Hintergrund gedrängt, was der Spannung jedoch nicht abträglich ist. Denn obwohl man vermutlich glaubt, eigentlich Alles zu wissen, ergeben sich eine Reihe überraschender Wendungen nicht nur bei der Suche nach dem Prostituiertenmörder.
Eine spannende Geschichte, die auch ein realistisches Bild eines Teils der heutigen Gesellschaft in den USA wiedergibt.

Bewertung vom 17.08.2020
Das zweitbeste Leben
Jones, Tayari

Das zweitbeste Leben


sehr gut

Dana und ihre Mutter Gwen sind ein Geheimnis, denn Danas Vater und Gwens Ehemann James hat bereits eine Familie: Ehefrau Laverne und Tochter Chaurisse. Während Letztere glauben, ein glückliches normales Familienleben zu haben, wissen Dana und Gwen von James 'erster' Familie. Insbesondere Dana leidet darunter, ihren Vater geheim halten zu müssen und nur einmal die Woche zu sehen. Als sie zufälligerweise die gleichaltrige Chaurisse kennenlernt, freunden die Beiden sich an ohne dass ihre Halbschwester weiß, wer Dana ist.
Die erste Hälfte des Buches wird aus der Sicht von Dana erzählt, die bereits als Kleinkind verinnerlichen musste, nicht über ihren Vater zu reden. Ohne ihn anzuklagen, macht sie jedoch deutlich, wie schwierig diese Situation für sie ist und wie sehr ihr Selbstbewusstsein darunter leidet. So sehr, dass sie es in ihrer ersten Beziehung hinnimmt, wieder verheimlicht zu werden. Mit zunehmendem Alter wird ihre Neugier auf ihre Halbschwester und deren Mutter immer größer und gemeinsam mit Gwen spionieren sie ihnen gelegentlich nach.
In der zweiten Hälfte erzählt Chaurisse, die auch während ihrer Freundschaft mit Dana ahnungslos bleibt, von ihrem Leben. Es ist ein typisches Teenagerdasein, das in erster Linie von den üblichen Problemen geprägt ist: Aussehen, Vergleich mit Anderen usw. Von ihr erfährt man auch mehr über die Vergangenheit von James, für den ich zumindest zeitweise fast so etwas wie Mitgefühl aufbringen konnte, aber wirklich nur fast.
Denn es sind die Frauen, die hier die starken Charaktere sind: Dana, Chaurisse und Gwen. Laverne bleibt außen vor, denn sie stellt sich nicht der Realität, sondern verschließt die Augen mit der Hoffnung, dass Alles so bleibt wie es war. Die Männer hingegen entpuppen sich der Reihe nach als Feiglinge, die nur auf ihren Vorteil bedacht sind oder einfach nur Angst haben. Und James schreckt sogar nicht davor zurück, seiner Tochter Dana die Schuld am Vorgefallenen zuzuweisen.
Obwohl die Handlung in einem schwarzen Milieu stattfindet, taucht der besonders in den Südstaaten der USA herrschende Rassismus (das Ganze spielt in den 80ern und früher) nur beiläufig auf in Sätzen wie "Deine Mama hat für weiße Leute die Wäsche gewaschen ...". Letzten Endes liest es sich wie eine Geschichte, die sich so in jeder Gesellschaft hätte ereignen können - von einigen wenigen Besonderheiten abgesehen.
Ein einfühlsamer und interessanter Einblick in zwei letzten Endes unglückliche Familienleben, verursacht durch den Egoismus und die Feigheit eines Mannes.

Bewertung vom 05.08.2020
Der letzte Satz
Seethaler, Robert

Der letzte Satz


sehr gut

Wie mag es sein, wenn einem der eigene Tod immer näher rückt? Es einem bewusst wird, dass die verbleibende Zeit auf Erden sehr überschaubar ist? Davon schreibt Robert Seethaler in diesem Buch, in dem wir den berühmten Komponisten und Dirigenten Gustav Mahler auf seiner letzten Seereise begleiten.
Auf seinem Weg von New York zurück nach Europa verbringt der bereits schwer kranke Mann seine Tage meist an Deck, wo er sich vergangener Zeiten erinnert. Wie er seine geliebte Frau Alma kennenlernte, der Verlust seiner erstgeborenen Tochter Marie, der Erfolg der 8. Symphonie, seine Zeit in Wien undundund. Es sind kurze Ausschnitte eines erfolgreichen Lebens, das nicht frei von Kämpfen und auch Niederlagen war. Gustav Mahler, der gerade einmal 50 Jahre wurde, liebt das Leben und hadert doch mit ihm. Viel zu früh geht es zu Ende, denn wie gerne würde er seine Tochter Anna aufwachsen sehen, mehr Zeit mit seiner Frau verbringen, Vergangenes wieder gut machen.
Obwohl die Hauptfigur seinerzeit ein erfolgreicher Komponist und international gefeierter Dirigent war, geht es nur selten um Musik in diesem schmalen Büchlein. Doch der Rückblick auf dieses Leben hat mich neugierig gemacht auf das Werk Mahlers, so dass ich beim Lesen den titelgebenden letzten Satz der 9. Symphonie gehört habe. Für mich war dies eine Bereicherung, denn Robert Seethaler hat die Stimmung, die dieses Werk vermittelt, unglaublich gut in Worte gefasst. Eigentlich sollte man klassische Musik nicht unbedingt als Hintergrundberieselung nutzen, aber in diesem Fall harmoniert es so hervorragend, dass ich immer wieder beim Lesen inne hielt, um der Musik zuzuhören und das Gelesene noch deutlicher vor Augen zu sehen.
Einziger Makel: 120 sehr großzügig gesetzte Seiten für diesen Preis - das ist schon sportlich.

Bewertung vom 05.08.2020
American Spy
Wilkinson, Lauren

American Spy


gut

1987 ist Marie Mitchell Agentin beim FBI. Doch als Frau und dazu noch schwarz sind ihre Aussichten auf ein Weiterkommen in diesem Männerverein schlecht, sehr schlecht. Als sich unverhofft die Chance bietet, sich durch einen Undercovereinsatz in Burkina Faso zu profilieren und damit vielleicht einen Karrieresprung zu machen, sagt sie sofort zu. Doch nichts ist so wie es scheint und fünf Jahre später muss sie wegen dieses Einsatzes um ihr Leben fürchten - und das ihrer Kinder.
Gleich auf den ersten Seiten wird ums Überleben gekämpft und so eingestimmt, war ich natürlich darauf eingestellt, dass es ähnlich weitergeht. Doch damit lag ich daneben. Denn was nun folgt, sind wechselnde Rückblicke auf die Lebens- und Familiengeschichte der berichtenden Marie Mitchell, die dies für ihre beiden vierjährigen Söhne aufschreibt. Es ist eine Art Vermächtnis für den Fall, dass sie stirbt, bevor sie ihnen das Alles selbst erzählen kann. Die Geschichte ist durchaus interessant, aber sicher nicht spannend im Sinne eines Thrillers, sieht man vielleicht von den letzten 50 Seiten ab (von 350 Seiten insgesamt). Auf mich wirkte es mehr wie der Bericht einer Frau, die auf dem Weg zu ihrem Ziel nicht nur gegen den alltäglichen Rassismus überall kämpfen muss, sondern auch gegen diverse Familienaltlasten (Mutter, Schwester, Vater).
Der sogenannte Spionagefall, für den Marie rekrutiert wird, basiert auf realen Personen und Geschehnissen jener Zeit und ist grundsätzlich eine gute Idee, um auf diese Weise praktisch nebenbei mehr über Burkina Faso und Thomas Sankara zu erfahren. Doch es gibt leider keinerlei Anhang mit Erläuterungen (also selber im Internet recherchieren - es lohnt sich), und viele der Ausführungen im Text sind derart weitschweifig und/oder ausufernd, dass ich nur noch schräg las.
Marie selbst schreibt zwar als Ich-Erzählerin, aber viele ihrer Handlungen sind dennoch nur schwer nachvollziehbar, ganz besonders je mehr es dem Ende entgegengeht. Dies trifft auch auf andere Figuren zu und so wirkte Mancher und Manches bis zum Ende eher unglaubwürdig und flach. Okay, das Ende ist auf einen zweiten Teil hin ausgelegt, aber eventuelle Erklärungen zu merkwürdigen Personen hätte ich gerne in einer Geschichte, nicht in einem möglichen Folgeband.
Und dann ist noch die Sprache. Vier Übersetzerinnen hat dieses Buch und ich habe die Befürchtung, dass das nichts Gutes bedeutet. Beispielsweise: "Auf dieser Straße erlebte ich die erste schlimme Wehe. Es tat so unglaublich, so unfassbar weh, dass ich am liebsten ein Lesezeichen an diese Stelle meines Lebens gesteckt hätte und später darauf zurückgekommen wäre, wenn ich ein besserer Mensch wäre." Hä? Oder als Marie den Auftrag erhält, einen Film aus einem stillen Briefkasten zu holen und in die Botschaft zu bringen: "Ich war aufgeregt wegen des Auftrags, da er mir die Möglichkeit bot, aktiv zu werden, ...". Fünf Jahre beim FBI und dann aufgeregt sein wegen einer Filmabholung? So gibt es eine Reihe von Sätzen, die zwar in 'ordentliches' Deutsch übersetzt wurden, aber schlicht keinen Sinn ergeben.
Auf der Rückseite steht "Wie das Beste von John Le Carré." Also ganz sicher nicht!

Bewertung vom 27.07.2020
Alter Hund, neue Tricks / Sean Duffy Bd.8
McKinty, Adrian

Alter Hund, neue Tricks / Sean Duffy Bd.8


ausgezeichnet

Gerade als Sean Duffy als Teilzeitpolizist in der Reserve sich an sein neues ruhiges Leben gewöhnt hat, werden ihm von seinem Vorgesetzten aufgrund Personalmangels die Ermittlungen zu einem Mordfall übertragen. Eher widerwillig, doch dann mit zunehmender Begeisterung nimmt er die Arbeit auf und findet sich nach kürzester Zeit in einem überraschenderweise höchst komplexen Fall wieder, der ihn auch zu IRA-Funktionären im Exil führt.
Basierend auf realen historischen Geschehnissen im Nordirland der 90er Jahre, entwickelt Adrian McKinty einen Thriller, der ausgehend von einem zunächst simplen Mord die Verhältnisse im damaligen Nordirland sehr überzeugend beschreibt. Überall herrscht eine angespannte Atmosphäre, die Polizei ist grundsätzlich der Feind, von dem keine Hilfe zu erwarten ist. Gleichgültig wer befragt wird, sie bekommen keine Antworten, ausser wenn Sean Duffy zu seinen eher unkonventionellen Mitteln der Zeugenbefragung greift.
Im Kreise der Serien-ErmittlerInnen ist Sean Duffy für mich eine Ausnahmeerscheinung. Intelligent, gebildet und sozial eingestellt wie er sind zwar auch viele Andere, aber meist sind sie zudem depressiv, frustriert und/oder von irgendwelchen Drogen abhängig. Sean Duffy hingegen wirkt entspannt, häufig sogar gut gelaunt und hat Spass an seiner Arbeit - und die Zeit mit den Drogen hat er hinter sich. Dazu sein herrlich lockerer Ton, in dem er seine Geschichte erzählt (waren die Vorgängerbände ebenso amüsant? Ich kann mich überhaupt nicht mehr erinnern.) - es ist ein Vergnügen, ihm bei seiner Arbeit zu folgen. Zur Verdeutlichung zwei Beispiele: "Ich saß in der Klemme. Handelte es sich um protestantische Paras und sie bekamen mit, dass ich Katholik war, würden sie mir befehlen auszusteigen und vielleicht versuchen, mich umzubringen. Handelte es sich um Männer der IRA und sie fanden heraus, dass ich ein katholischer Polizist war, würden sie mir befehlen auszusteigen und ganz bestimmt versuchen, mich umzubringen." - "Dann stürzte ich mich auf Jonty. Ja, ja, ich weiß, Gandhi, Buddha und all das, aber wer kann schon der Gelegenheit widerstehen, einen Nazi zu vermöbeln?".
Eine rundum gelungene Fortsetzung der Sean-Duffy-Reihe und ich hoffe auf weitere Folgen!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.07.2020
Wo wir waren
Zähringer, Norbert

Wo wir waren


sehr gut

Was für eine schöne und auch traurige Geschichte - fast ein richtiger Schmöker. Doch zum völlig darin Versinken hat es nicht ganz gereicht, ohne dass ich so genau weiß, woran es liegt.
Ausgangspunkt ist der 21. Juli 1969, also ziemlich genau vor 51 Jahren, als die ersten Menschen den Mond betraten. Obwohl man im Nachhinein das Gefühl haben könnte, dass an diesem Tag sonst nichts weiter Aufregendes passierte

Bewertung vom 27.07.2020
Das wirkliche Leben
Dieudonné, Adeline

Das wirkliche Leben


weniger gut

Ein namenloses junges Mädchen erzählt von ihrer Kindheit bis hin zu dem Tag, an dem das Grauen jener Zeit fast so endete wie es begann - mit einem zerstörten Gesicht. Obwohl - das Grauen begann schon viel früher ...
Die Eltern des kleinen Gilles und seiner vier Jahre älteren Schwester sind ein ungleiches Paar und alles andere als glücklich. Der Vater grobschlächtig, cholerisch, dominant, gewalttätig; die Mutter voller Angst, ohne Selbstbewusstsein, wie eine Amöbe wie ihre Tochter sie nennt. Regelmäßig wird sie wegen Nichts von ihrem Mann verprügelt, ohne dass sie sich wehrt. Und die Kinder wissen, irgendwann wird es auch sie treffen. Doch die große Schwester schützt ihren Bruder, bis dieser wie auch sie Zeuge eines entsetzlichen Unglücks wird. Ab diesem Tag zieht Gilles sich von seiner Schwester zurück und beginnt, sich in Richtung seines Vater zu entwickeln.
Es ist eine grauenvolle und auch brutale Geschichte, die im Tonfall eines jungen Menschen erzählt wird. Grundsätzlich gelingt dies recht gut, aber wie manche Stilmittel völlig überzogen werden, ist stellenweise wirklich gruselig. Beispielsweise Vergleiche wie 'Denn das Leben war nun mal eine Ladung Fruchtpüree in einem Mixer und man musste aufpassen, in dem Strudel nicht von den Klingen nach unten gezogen und zerkleinert zu werden.' oder Allegorien wie 'Die tief stehende Morgensonne leckte mir die Tränen von den Wangen.' oder '... ein Schluchzen legte seine Tentakeln um meine Kehle.'. Was hat die Autorin während des Schreibens denn zu sich genommen? Und falls sie das wirklich geschrieben haben sollte: So etwas mögen tatsächlich die französischen Buchhändlerinnen? Oder liegt es vielleicht an der Übersetzung?
Störend empfand ich auch die Verachtung des jungen Mädchens gegenüber seinem ganzen Umfeld. Die anderen Schülerinnen und Schüler ihrer Klasse: praktisch alles Deppen. Die Nachbarschaft in ihrem Zuhause: alles Idioten. Merkwürdigerweise sind jedoch die Leute, die sie näher kennenlernt, dann plötzlich alles tolle Menschen - wie kann das denn sein?
Meine Begeisterung hält sich aus diesen Gründen in Grenzen, auch wenn ich trotz der sprachlichen Schaurigkeiten unbedingt wissen wollte, wie die Geschichte endet. Ein Lieblingsbuch von mir wird es aber bestimmt nicht.

Bewertung vom 09.07.2020
Winterbienen
Scheuer, Norbert

Winterbienen


ausgezeichnet

Was für ein schönes Buch, das von einer entsetzlichen Zeit erzählt. Es ist das letzte Kriegsjahr des II. Weltkriegs und in der Eifel ist es bisher vergleichsweise ruhig geblieben. Egidius, der aufgrund seiner Epilepsie nicht eingezogen wurde und dank des Einflusses seines Bruders der Euthanasie entging, kümmert sich nach seiner Entlassung als Lehrer um seine Bienenvölker und um manche zurückgelassene Frau. Hin und wieder bringt er Juden über die Grenze, um sich so Geld für seine Medikamente zu verdienen, doch mit dem Vorrücken der Alliierten wird es immer gefährlicher.
Es ist eigentlich ein gemächliches Buch, wenn sich der kriegerische Hintergrund nicht immer wieder in den meist friedlichen und beschaulichen Tagebucheinträgen des Egidius in den Vordergrund drängen würde. Hauptthema seiner Einträge ist die Beobachtung und Pflege sowie Entwicklung seiner Bienen, denen er sich eng verbunden fühlt. Seine restliche freie Zeit widmet er der Übersetzung alter Dokumente seines Vorfahren Ambrosius aus dem Latein und den Frauen, denen er zugetan ist. Es wirkt, als wäre er ein glücklicher Mensch, wenn nicht stets aufs Neue das Grauen des Krieges in Erscheinung treten würde.
An Handlung gibt es nicht viel zu berichten, denn die Tage verlaufen recht gleichförmig. Doch wie der Autor dieses Wenige erzählt, ist so voller Zuneigung und Aufmerksamkeit, dass man beim Lesen unweigerlich eine grosse Sympathie zu Bienen und Ambrosius entwickelt und die Entsetzlichkeit des Krieges im Gegensatz dazu noch stärker wirkt.
Ein schönes und trauriges Buch über das Leben, die Liebe und die Sinnlosigkeit des Krieges.