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Isa.Literature.Love
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Bewertungen

Insgesamt 199 Bewertungen
Bewertung vom 27.02.2023
Wir hätten uns alles gesagt
Hermann, Judith

Wir hätten uns alles gesagt


weniger gut

Judith Hermann analysiert Ihr eigenes Leben, Sein und Schaffen
In ihrem neuen autobiografisch geprägten Werk »Wir hätten uns alles gesagt« analysiert und seziert die Autorin Judith Hermann ihre Gedanken, Träume, Freundschaften, (Wahl-)Verwandtschaft und Familie, über ihre Psychoanalyse, ihr schriftstellerisches Sein und Schreiben. Ich würde es daher sogar eher als Memoir einstufen.



In diesem Buch schreibt sie darüber, wie sie schreibt und warum sie schreibt: »Aber sich etwas ausdenken, hieße für mich, aus der Wirklichkeit hinaus und in eine andere Wirklichkeit hinein zu wollen - und das ist eben genau das, was ich nicht will. Ich will in diese eine unbegreifliche Wirklichkeit hinein, ich will schreiben, dass ich sie nicht begreife, und ich will darauf bestehen, dass sie, alles in allem, auch nicht zu begreifen ist.« (S.100)

Sie schreibt folglich, um die Realität zu verarbeiten, vielleicht um sie als ihre eigene zu beschreiben und sicherlich auch als eine Art Selbsttherapie. Im Buch schreibt sie ebenfalls darüber, dass all ihre Werke autofiktionale Bezüge enthalten und sie es sich zur Kunst gemacht hat, diese zu verschleiern und so zu bearbeiten, dass dies keine biografischen Erzählungen bleiben. Daher gibt es zahlreiche Verweise auf ihre anderen Werke, deren Kenntnis zum Gesamtverständnis dieses Buches sicherlich enorm beiträgt.

Das Buch gliedert sich in drei Teile, wobei die einzelnen Teile weder Kapitel noch Überschriften haben, was mir sehr gefehlt hat und mehr Struktur und Verständnis für mich erzeugt hätte. Unabhängig davon kann ich ihren Thesen, wie bspw. dieser im nachstehenden Zitat, nicht folgen und mir fehlen Erläuterungen, Beispiele, Gedankenausführungen dazu:

»Geschichten schreiben heißt misstrauisch sein. Lesen heißt, sich darauf einzulassen. Jede Geschichte erzählt von einem Gespenst. Am Ende ist das Zentrum der Geschichte ein Schwarzes Loch, aber es ist nicht schwarz, und es ist nicht finster. Es kann im besten Falle glühen.« (S.128)



Insgesamt muss ich sagen: Das war leider nichts zwischen diesem Buch und mir. Bestimmt gibt es viele Lesende, die dieses Buch sehr lieben werden, aber ich gehöre nicht dazu. Für mich waren die Gedanken manchmal zu wirr, zu sprunghaft und auch zu wenig verbunden. Vielleicht habe ich Judith Hermann einfach nicht verstanden, oder es bedarf einer Angehörigkeit einer gewissen Generation, um dies zu können. Mir bleibt nur zu sagen: Ich habe das Zentrum des Gespensts nicht als schillerndes und glitzerndes Glühen entdecken können und wünsche allen anderen Lesenden dabei viel Erfolg!

Bewertung vom 27.02.2023
Mameleben
Bergmann, Michel

Mameleben


gut

»Sie hat sich erschaffen und mitten ins Leben gesetzt! Von vielen bewundert, von manchen gefürchtet, von einigen obsessiv begehrt, aber stets sich selbst genug. Sie liebt mich, so wie sie zu lieben vermag, besitzergreifend, mit aller Besessenheit und allen Einschränkungen, daran habe ich keinen Zweifel. Aber ich bin nicht in ihrem Sinne geraten. Ich erfülle nicht ihre übermenschlichen Erwartungen.« (S.110)

Gegenüber ihrem Sohn Michael hat die Mutter - Charlotte - viele Vorwürfe, Erwartungen und insgesamt eine sehr hohe Anspruchshaltung. Wenn sie vor anderen von ihrem Sohn spricht, lobt sie ihn in höchsten Tönen. Dieser Widerspruch zeigt sich auch in anderen Bereichen ihrer Mutter-Sohn-Beziehung, die sehr von den Erfahrungen der Mutter als Überlebende des Holocaust und eines Internierungslagers gekennzeichnet ist.

In »Mameleben« schreibt der Autor, Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Michel Bergmann über das Leben seiner Mutter, die Mutter-Sohn-Beziehung, seine Erinnerungen an das gemeinsame Leben und stückweit auch über sich. Der Autor gehört der 1. Nachkriegsgeneration an, wurde er 1945 im Internierungslager geboren.

Mit diesem Werk schreibt der Autor seiner Mutter ein literarisches Denkmal, Liebeserklärung, Abrechnung und eine facettenreiche Biografie. Michel Bergmann porträtiert eine Frau, die viel durchgemacht hat; deren Lebensweg durch die Machtergreifung der Nazis einen ganz anderen Gang genommen hat (»Ich habe mich […] verlebt.« (S.227)), als sie sich erträumt und gewünscht hat; die zu sich selbst sehr hart war, aber auch zu ihrem geliebten Sohn; die Verantwortung trägt; eine sehr gute Geschäftsfrau ist; deren Leben von Verlusten und Überlebenswillen geprägt war, wie es exemplarisch für viele Shoah-Überlebende ist.

Dieses erzählende Sachbuch zeichnet sich durch die ehrliche, persönliche, melancholische, stellenweise vorwurfsvolle und insgesamt liebevolle Erinnerung Michel Bergmanns an seine Mutter Charlotte aus. Es ist ein sehr persönliches Buch geworden, das immer wieder jüdische Wörter verwendet (es gibt am Ende einen Glossar!) und insgesamt ein sehr eindrucksvolles Porträt zweier Generationen zeichnet.


Leseempfehlung für alle Fans von Shelly Kupferbergs ‚Isidor‘ und erzählenden Biografien 🤍

Bewertung vom 22.02.2023
Young Mungo (eBook, ePUB)
Stuart, Douglas

Young Mungo (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Douglas Stuart did it again 💥 Er hat wieder einen Roman rausgehauen, der nicht gelesen werden möchte, weil er so wunderschön ist, sondern obwohl er das nicht ist. 💔 (und es dabei irgendwie doch auch wieder ist ❤️‍🩹)

[CN: Gewalt, Vergewaltigung, Alkoholsucht]

Es ist KEIN Liebesroman, auch wenn das hotte Cover ❤️‍🔥 viel verspricht. Ich würde es eher als Gesellschaftsroman einstufen, der auch die große Liebe enthält — neben vielen anderen Themen, wie Clan-Machtverhältnisse und -Gewalt, Homophobie, Familiendrama, toxische Männlichkeitsvorstellungen, psychischer und physischer Missbrauch.

Mungo wächst in den 1990er Jahren im Arbeiterviertel von Glasgow mit seinen älteren Geschwistern - Hamish (HaHa) und Jodie Hamilton - und ihrer alkoholabhängigen Mutter Maureen in einer Sozialwohnung auf. Die drei Geschwister mussten schnell lernen, mit dem frühen Tod des Vaters und der Alkoholsucht und Unberechenbarkeit der Mutter (genannt Mo-Maw) zu überleben. Jeder von ihnen hat dabei seine eigene Überlebensstrategie entwickelt: Hamish hat die Clanführerschaft übernommen und kämpft religiöse Bandenkriege; Jodie kümmert sich - so gut sie kann - um Mungo und will rauskommen aus all dem und auf die Universität gehen; und Mungo ist ein einfühlsamer, liebevoller, vertrauensvoller Teenager, der immer wieder die Verantwortung für Mo-Maw übernimmt - egal, in welchem Zustand sich diese befindet und mit welchen Konsequenzen dies verbunden ist.

»Wenn einer was davon versteht, jemanden, den man liebt, in Schutz zu nehmen, dann Ihr. Könnt Ihr mir das nicht verzeihen?« (S.183)

Mungo lernt den einige Monate älteren James kennen und verliebt sich mit 15 Jahren das erste Mal. Doch Homosexualität hat im Glasgow der 90er Jahre keinen Platz, weshalb die beiden Liebenden die toxischen Männlichkeitsidealen von der Gesellschaft immer wieder zu spüren kriegen. In der Folge will Mangos Familie einen ‚echten‘ Mann aus ihm machen und so kommt eines zum anderen. …

Nach seinem preisgekrönten Roman »Shuggie Bain« schafft der Autor Douglas Stuart auch mit seinem zweiten Roman »Young Mungo« eine schroffe, graue, von einigen Hoffnungsschimmern✨ erhellten Welt zu erschaffen, mit deren Figuren Lesende mitfiebern, mitzittern, mitleiden - kurzum mitfühlen. Der Roman geht unter die Haut und verfehlt sein Ziel nicht 💘 — HEARTBREAK vorprogrammiert 💔

Ich kenne kaum einen anderen Schriftsteller, der mit seiner Erzählung so einen Sog ausübt, dass man trotz der aufwühlenden, rauen und tragischen Entwicklungen den Roman kaum aus der Hand legen kann. Seine Protagonist:innen stechen aus dieser beschriebenen kalten und herzlosen Welt heraus und genau deshalb ist Ihr Leben so hart. Liebe(n) ist hier direkt mit Schmerz verbunden.

»Gewalt ging der Zärtlichkeit immer voraus; Mungo kannte es nicht anders.« (S.273)

Große Leseempfehlung für diesen HEARTBREAKING Roman 💔

Bewertung vom 22.02.2023
Ohne mich
Schüttpelz, Esther

Ohne mich


sehr gut

Ein Roman mit viel Interpretationsspielraum und großartigem Stil!

»Ganz allgemein ging es natürlich um das Gleiche wie immer, null von zwei Personen fühlten sich WERTGESCHÄTZT, zwei von zwei Personen schmissen mit gemeinen Vorwürfen um sich, du nimmst zu häufig Drogen, und du trinkst zu viel Wein, du gibst zu viel Geld aus, und du hast keine Ambitionen, […] « (S. 189)

In knackigen, kurzen Sätzen schreibt Esther Schüttpelz in ihrem Debüt »Ohne mich« über eine namenlose Protagonistin, die Jura studiert, in Münster ihr Referendariat absolviert und sich aktuell im Scheidungsjahr ihrer Ehe befindet. Auch wenn sie vordergründig hart im Nehmen wirkt und vielleicht auch vor allem hart zu sich selbst ist - was ihr auch von anderen Personen unterstellt wird -, setzt ihr die Trennung mehr zu, als sie wahrhaben möchte. Innerhalb dieses Jahres passieren natürlich einige Dinge, die ich an dieser Stelle nicht vorwegnehmen möchte. So viel sei aber gesagt: Stellenweise erinnerte es mich an die Lektüre »HAHA HEARTBREAK« (Spoiler: Ein fulminanter Roman!💖).

Der Mix aus Ich-Perspektive, knackige Sätzen, fehlender Interpunktion bei wörtlicher Rede, gezielter Einsatz von Versalienschrift bei einzelnen Wörtern machen diesen Schreibstil und das Buch aus. Als lesende Person fühlt man sich so, als teile man Gedankenwelt der Protagonistin 💭

Ich habe bei einigen Passagen lachen müssen und den Sarkasmus bzw. Zynismus der Protagonistin sehr gefeiert. 🤝🏼 Was mich an der Lektüre etwas irritiert, ist dass der beschriebene Alkohol- und Drogenkonsum 🍸 nicht kritisch hinterfragt und teilweise sehr exzessiv wird … Zudem hätte ich mir noch mehr mehr Fokus auf die Innenwelt der Protagonistin bzw. Selbstreflexion gewünscht. Sie analysiert ihre ihre Mitmenschen sehr genau und ist ingesamt eine sehr intelligente und sachliche Person. Die Selbstreflexion und auch ihre Gefühlswelt lassen sich dabei aber vor allem zwischen den Zeilen herauslesen. Ob die Autorin dies bewusst so geschrieben hat, ist dabei natürlich Interpretationsspielraum - den ich hier ingesamt als sehr hoch ansehe. Ebenso, wie die Tatsache, dass es doch einige Parallelen zum Leben der Autorin selbst gibt, was mich als Lesende fragen lässt, wie autobiografisch oder wie fiktiv das Buch ist. To sum it up: A LOT OF Interpretationsspielraum.

Von mir gibt es definitiv eine LESEEMPFEHLUNG 🤍

Bewertung vom 21.02.2023
Die Kranichfrau
Hauser, CJ

Die Kranichfrau


ausgezeichnet

»Zum ersten Mal verstehst du, dass jemand, wenn er davon spricht, mit etwas abgeschlossen zu haben, nicht meint, dass man sich nicht mehr erinnern würde oder die Wunden verschwinden. Nur, dass man weitermacht und sich anderen Dingen zuwendet. Jemand anderen kennenlernt.« (S.46)

»Die Kranichfrau - Warum ich meine Hochzeit absagte und andere Liebeserklärungen« ist das Memoir der non-binären Person CJ Hauser [they/them], die in insgesamt 17 Essays in IV Teilen über Ihr Leben schreibt (»The Crane Wife«🇺🇸; übersetzt von Hanna Hesse). Sie thematisieren Ihre erlebten Liebesbeziehungen, Ihre Freundschaften, das Verstreuen der Asche der Großeltern, Ihr Arbeiten und Schreiben, Ihre Gedanken und Ihre Gefühle. Dabei werden diese Themen, wie beispielsweise die Scheidung vom Ex-Mann nicht nur geschildert, sondern seziert und mit WAS FÜR EINER Selbstreflexion, Ehrlichkeit, Selbstkritik und dabei auch Selbstliebe CJ Hauser dies macht, ist absolut therapeutisch für alle Lesenden.

»Ich werde besser darin, die Vergangenheit neben der Gegenwart existieren zu lassen, ohne sie gleich zur Seite zu schubsen und mich dadurch besser zu fühlen.« (S.214)

CJ Hauser bezeichnet sich selbst als: »CJ Hauser is a multi-genre, non-binary, queer amphibian of a person who splits time between rural Central New York and Brooklyn.« (Quelle: https://cjhauser.com/aboutcj)

Ich habe mir sehr viele Stellen in diesem erzählenden Sachbuch markiert und nicht jedes Essay hat mich auf dieselbe Weise gecatcht (Akte X aus den USA habe ich einfach nie gesehen und kann mich daher auch weniger mit den Vergleichen identifizieren) - aber zum einen würde ich sagen, dass dies Charakter von einer Essay-Sammlung ist - und zum anderen schafft es CJ Hauser, jedes Essay mit einem roten Faden zu erzählen, mit ihren Worten einen erzählerischen Sog auszuüben und befreiende, empowernde und inspirierende Botschaften mitzugeben. 🧡

Große Lesempfehlung für alle Essay-Lovers 🧡 und diejenigen, die es noch werden wollen ❤️‍🔥

Bewertung vom 20.02.2023
Rote Sirenen
Belim, Victoria

Rote Sirenen


sehr gut

»Meine Großmutter […] sagte: »Die ganze Zeit, in der du nach Nikodim gesucht hast, habe ich gehofft, dass du nichts finden und aufgeben würdest. Ich habe unterschätzt, wie wichtig es ist, die Wahrheit zu erfahren, was auch immer diese Wahrheit sein mag. Als mir das klar wurde, hoffte ich nur, dass die Wahrheit dich nicht verletzen würde.«« (S.269)

Victoria Belim emigrierte als Teenager aus der Ukraine in die USA, hat dort studiert, und arbeitet und lebt heute in Brüssel. Als Russland 2014 die Krim annektierte begann die Autorin und Protagonistin sich intensiver mit ihrer ukrainischen Familiengeschichte auseinanderzusetzen und reiste von 2014-2019 regelmäßig für mehrere Monate in ihre Heimat in der Ukraine zurück, um dort mit ihrer Großmutter Valentina in deren kleinem Haus und Obstbaumgarten zu leben und zu recherchieren.

In ihrem Debüt »Rote Sirenen - Geschichte meiner ukrainischen Familie« (übersetzt aus dem Englischen von Ekaterina Pavlova) erzählt Viktoria von der aufwändigen Recherche ihrer Familiengeschichte ausgehend von ihrer Urgroßmutter Asja verbunden mit dem Wunsch das Verschwinden ihres Urgroßonkel Nikodim in den 1930er Jahren aufzuklären. Die Autorin erzählt von Valentina, von Asja, von der Ukraine, von der ehemaligen Sowjetunion, von ihrem Onkel Wladimir und dem Selbstmord ihres Vaters und nach und nach erschließt sich Leser:innen, wie die Dinge, Menschen und Themen miteinander verbunden ist. ❤️‍🩹 »Rote Sirenen« erzählt nicht nur von der Familiengeschichte und familiären Zusammenhalt, sondern auch von ukrainischen Vergangenheit, dem Holodomor, ukrainischer Kunst & Kultur und Zeitgeschichte.

Eine Familiengeschichte und vor allem die aufwändige, ernüchternde und nicht leichte Recherche von Viktoria Belim sind sehr berührend und zeigen, wie wichtig familiärer Zusammenhalt (in Krisenzeiten), und auch, wie wichtig und richtig Hoffnung ist. 🕊️

Bewertung vom 20.02.2023
Das barfüßige Mädchen
Bruck, Edith

Das barfüßige Mädchen


gut

Einzigartiges Memoir einer Shoah-Überlebenden
Die Schriftstellerin, Journalistin, Drehbuchautorin und Übersetzerin Edith Bruck hat mit »Das barfüßige Mädchen - Die Erinnerungen einer Überlebenden - eine Liebeserklärung an das Leben« (aus dem 🇮🇹 übersetzt von Verena von Koskull) ihr berührendes Memoir und Autobiografie geschrieben. Als Kind hat sie die Shoah überlebt und engagiert sich bis heute gegen das Vergessen. Für ihre Werke wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet, u.a. 2021 mit dem Verdienstkreuz der BRD für ihr vielfältiges Werk.

In ihrem Memoir »Das barfüßige Mädchen« erzählt die Autorin von ihrer Kindheit im ungarischen Dorf, wo sie unbeschwert und Barfuß ihre Kindheit erlebte, bis ihre jüdische Familie und nach Auschwitz deportiert werden. Sie erzählt von ihrer Jugend nach dem Überleben des Konzentrationslagers mit ihren Schwestern, wie sie versucht, sich in Israel ein neues Leben aufzubauen und einer professionellen Tanzgruppe anschließt und, wie sie ihren Weg in ihre neue Heimat Italien findet und eine neue Heimatsprache - Italienisch - findet, auf der sie bis heute all ihre Bücher geschrieben hat und schreibt.

Wie viel ihr das Schreiben und Bücher bedeuten, schildert sie ebenfalls in ihrem Buch im Dialog mit ihrer Schwester Judit:

»Du hast Bücher, aber keine Kinder«, pflegte Judit bei jedem ihrer Rombesuche zu sagen, als wären meine Bücher nichts dagegen.

Bücher sind auch Kinder«, antwortete ich und erntete ihren mitleidigen Blick.« (S.144)

Wie alle Zeitzeug:innenberichte und -Biografien von Shoah-Überlebenden finde ich dieses Buch sehr bewegend und mit jedem Zeitzeug:innenbericht lerne ich etwas Neues über diese schreckliche Zeit. In diesem Buch gibt es keine Verweise zu historischen Daten, faktenbasierte Einordnung in den historischen Kontext oder Quellverweise, was ich mir an einigen Stellen gewünscht hätte. Bei diesem Bericht steht die Autobiografie ganz klar im Vordergrund.

Ein einzigartiges Buch gegen das Vergessen 🕊️ und eine beeindruckende Biografie einer Shoah-Überlebenden.

Bewertung vom 09.02.2023
Kirmes im Kopf
Boerger, Angelina

Kirmes im Kopf


ausgezeichnet

Nach Schätzungen des Vereins ADHS Deutschland e.V. sind ca. 2,5 Millionen Erwachsene (das entspricht rund 2,8 % der deutschen Bevölkerung) sind in Deutschland von der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung - kurz AD(H)S - betroffen (S.19). Welche Symptome treten bei AD(H)S bei Erwachsenen auf? Und warum wissen wir so wenig über AD(H)S im Erwachsenenalter?

Genau das möchte die Journalistin, Autorin Angelina Boerger, die selbst erst mit Ende 20 die Diagnose AD(H)S erhielt, ändern und tut dies seit einigen Jahren mit ihrem erfolgreichen Instagramaccount @kirmesimkopf und mit ihrem neu-erschienen Buch: »Kirmes im Kopf - Wie ich als Erwachsene herausfand, dass ich AD(H)S habe«. 🧠🪩

In ihrem Buch erklärt sie in 10 Kapiteln, was AD(H)S ist, gibt u. a. einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung, erklärt, Ursachen, Auswirkungen, Symptome, Medikamentation, und auch, wie schwierig es ist, eine Diagnose im Allgemeinen und für AD(H)S im Speziellen zu erhalten. In allen Kapiteln berichtet sie neben wissenschaftlichen Informationen und dem aktuellen Stand der Forschung aus ihrem eigenen Leben und Erfahrungen. Sie appelliert an uns als Gesellschaft, Neurodiversität 🧠🎉 zu feiern und die Stigmatisierung von AD(H)S zu überwinden:

»Anstatt Unterschiede zu feiern und uns daran zu erfreuen, wie bunt und vielfältig unsere menschlichen Gehirne sind, neigen wir dazu, diese Unterschiede zu pathologisieren und häufig auch heilen zu wollen. […] Wer anders ist, wird abgewertet.« (S.255)

Ich habe in diesem Buch sehr viel über AD(H)S gelernt und viele Aspekte besser verstehen können durch die Beispiele und Annektdoten aus dem Leben der Autorin. Einziger kleiner 🤏🏼 Kritikpunkt: Ich hätte mir Quellenangaben mit Fußnoten gewünscht, aber das Quellverzeichnis am Ende ist sehr stimmig und auch die weiterführenden Empfehlungen für mehr Informationen sind sehr umfangreich. Insgesamt ist das Buch eine sehr gute Mischung zwischen wissenschaftlichen Fakten und Biografie. Ich bin sehr beeindruckt von Angelina Boerger und kann dieses Buch wirklich allen nur sehr empfehlen. Wir brauchen mehr Austausch MITeinander über genau solche Themen und sollten psychische Gesundheit und Erkrankungen endlich enttabuisieren! Und dafür braucht es mehr Informationen und fundierte Grundlage - therefore GO FOR THIS BOOK 🧠🪩💜

Bewertung vom 06.02.2023
Was du nicht siehst
Franziska Elea

Was du nicht siehst


weniger gut

Biografie einer Selfmade-Woman mit Boarderline-Erkrankung - mit viel Verbesserungspotential

In ihrem autobiografischen Buch »Was Du nicht siehst: Diagnose Borderline — zwischen Todesangst und Lebenstraum« schreibt die Influencerin Franziska Elea (gemeinsam mit Saskia Hirschberg) über ihre Borderline Diagnose, ihren Lebensweg und ihre Familie. Es ist eine persönliche Erzählung aus ihrer subjektiven Wahrnehmung.

Das dies kein Sachbuch ist, war mir natürlich klar. Dennoch bin ich überrascht über die Inhalte und die Aufarbeitung ihrer Lebensgeschichte und ihrer psychischen Erkrankung. Ich hätte mir bspw. So etwas wie ‚Infoboxen‘ (o. Ä.) mit sachlichen Informationen gewünscht, damit die Themen besser eingeordnet werden können. Die Triggerwarnungen zu Beginn der Kapitel sind grundsätzlich sinnvoll, zum Teil sind diese aber einfach nicht passend. Darüber hinaus finde ich das Buch sehr oberflächlich für die Thematik ‚Borderline‘ und insgesamt nicht ausgereift. Zudem beschreibt die Autorin sehr häufig als erstes das Äußere einer Person — und dies meist nicht zu deren Vorteil — bevor sie darüber schreibt, worum es eigentlich geht (ihre Kern-Familie ausgenommen). Ich habe dies als vor allem extrem oberflächlich wahrgenommen und zeigt, dass sie sich mit vielen viel relevanteren Dingen nicht auseinander setzt. Abgesehen davon interessiert es mich als Leserin überhaupt nicht, wie eine Therapeut:in aussieht, sondern nur, ob sie ihren Job gut macht bzw. nicht einmal das lässt sich hier sagen, sondern ob und warum bzw. warum nicht, es für die Autorin hilfreich war (und genau das, wird quasi nicht beschrieben). Darüber hinaus thematisiert sie immer wieder Beziehungen zu Menschen, die ihr nicht gut taten /tun, extrem detailliert und mit etlichen Beispielen — von Fehlverhalten etc. — , während Therapie und wirkliche Auseinandersetzung mit Borderline extrem zu kurz kommen. Stellenweise liest es sich für mich, wie eine Abrechnung mit bestimmten Personen aus ihrem Leben und auch, wenn sie an den Anfang des Buches, einen sehr persönlichen Brief an ihre Mutter voranstellt, passt das Gesamtkonzept für mich überhaupt nicht.

Ja, es ist beeindruckend, wie sie eine Selfmade-Woman geworden ist und ihr Leben mit psychischer Erkrankung gestaltet. Wie sie letztlich damit gelernt hat, umzugehen, sich selbst zu regulieren oder andere Dinge, erfährt man als Leser:in nicht. Niemand erwartet, dass so etwas Persönliches geteilt wird, aber dann braucht es auch kein Buch.

Ich persönlich kann dieses Buch nicht empfehlen und hätte mir hier deutlich mehr Sachlichkeit und Wissenschaft gewünscht und vor allem nicht so vielen Diffamierungen anderer Menschen, die definitiv nicht notwendig für die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit und Erkrankung gewesen wären.

Für den Mut, dieses Buch zu schreiben und ihre persönliche Geschichte zu teilen, sowie die Ermutigung über das Thema 'Borderline' zu sprechen, gibt es 2 Sterne von mir.

Bewertung vom 02.02.2023
Wie man einen Traum aufgibt, um ein Leben zu gewinnen
Langmann, Nico

Wie man einen Traum aufgibt, um ein Leben zu gewinnen


ausgezeichnet

Seit er mit 2 Jahren einen schweren Autounfall erlebt hat, ist Nico Langmann querschnittsgelähmt. Seine Kindheit wird stark geprägt von dem Wunsch und den daraus ergriffenen Maßnahmen (Besuche diverser Heiler, Rehabilitationsmaßnahmen, etc.) seiner Eltern, endlich wieder laufen zu können:

»Ich bin nicht behindert, sondern sozusagen nur vorübergehend gelähmt. Bis ich wieder gehen kann. Der Nico wird wieder gehen - das ist nicht nur ein Ziel, sondern ein Glaubenssatz, in unserer gesamten Familie.« (S.28)

Abseits von all den Therapie-Versuchen ist Nico ein ganz normaler Junge und macht Sport - am liebsten mit und gegen seinen älteren Bruder, wird Klassensprecher (durch Süßigkeiten-Bestechung :D) und später Schulsprecher. Mit 15 Jahren traut sich Nico seinen Eltern gegenüber auszusprechen, was er schon lange denkt und fühlt: Dass er nicht wieder gehen können wird und, dass er das auch weder anstrebt noch sein Leben weiter danach ausrichten wird (S.88).

In seiner Autobiografie »Wie man einen Traum aufgibt, um ein Leben zu gewinnen« erzählt der Profi-Tennisspieler Nico Langmann seine Lebensgeschichte - von seiner frühen Kindheit bis heute als professioneller Tennisspieler. In diesem Kontext geht er auf die große Bedeutung von Behindertensport und Paralympische Spiele ein, auf Inspiration Porn, wie er seinen Alltag gestaltet (ja, auch wie man S€x haben kann, wenn man querschnittsgelähmt ist), Inklusion (und gibt Beispiel für ein besseres Gelingen) und seine Tenniskarriere. An den richtigen Stellen äußert er Gesellschaftskritik, die uns alle den Anstoß zum Weiterdenken geben sollte:

»Ich glaube, dass es auch ein Recht auf Scheitern gibt, auf das Unperfekte. Unsere Gesellschaft lässt dafür nur leider sehr wenig Platz. Hundert Prozent sind das einzig Akzeptable. Behinderungen sind das genaue Gegenteil, der Gegenpol zum allgemeinen Zwang zur Perfektion. Mein Leben ist auf eine gewisse Art und Weise nicht vollständig, gewisse Dinge kann ich nicht tun. Bin ich damit unzufrieden oder akzeptiere ich das? Findet es die Gesellschaft okay, wenn Menschen mit Behinderung nicht alles erreichen können?« (S.170)

Mit seiner ehrlichen, witzigen, intimen und außergewöhnlichen Autobiografie macht Nico Langmann damit nicht nur Menschen mit Behinderung Mut, ihre Träume zu verfolgen, sondern auch Familien, dass jedes Kind seinen eigenen Weg finden wird. Eine

»Egal, ob mit Rollstuhl oder ohne: Du musst keine Grenzen akzeptieren, die dir jemand anderes auferlegt. Du kannst deinen eigenen Weg finden, über all die Hürden hinweg - oder unter ihnen hindurch oder an ihnen vorbei. Dafür will ich ein Beispiel geben, deswegen lasse ich Menschen an meiner Lebensgeschichte teilhaben.« (S.170)

Große Leseempfehlung von mir für diese inspirierende und Mut-machende Autobiografie!

[4.5/5 ☆]