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sleepwalker

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Insgesamt 501 Bewertungen
Bewertung vom 20.03.2023
Gequält / Rachejagd Bd.1
Stevens, Nica;Suchanek, Andreas

Gequält / Rachejagd Bd.1


ausgezeichnet

Andreas Suchanek war für mich bislang immer eher der Garant für unterhaltsame Kinder-Fantasy-Geschichten (ich mag seine Flüsterwald-Reihe sehr). Jetzt hat er allerdings im Duett mit Nica Stevens mit „Rachejagd – Gequält“ einen atemberaubend spannenden Krimi vorgelegt. Das Buch ist der erste Teil einer in rascher Abfolge erschienenen Trilogie, die beiden weiteren Teile sind ebenfalls schon veröffentlicht. Im Mittelpunkt stehen neben sehr viel blutiger Gewalt die Journalistin Anna Jones und ihr ehemaliger Freund und FBI-Agent Nick Coleman, die sich im Zentrum einer wilden Racheaktion befinden, deren Initiator sie selbst nicht einmal kennen, von seinen Gründen ganz zu schweigen. Mit dem ersten Teil beginnt eine rasante Jagd-Flucht-Geschichte, denn Anna und Nick sind sowohl die Gejagten als auch die Jäger.
Aber von vorn.
Drei Jahre ist es her, dass die Journalistin Anna Jones zusammen mit ihrer besten Freundin Natalie Walsh entführt wurde. Beide wurden während ihrer Gefangenschaft von ihrem Entführer Edward Harris gequält und gefoltert, bevor Anna die Flucht gelang. Bevor sie Natalie retten konnte, brachte ihr Peiniger sie um. Anna überlebt, wird aber von Schuldgefühlen geplagt. Und jetzt, drei Jahre später, scheint Harris aus seinem Versteck gekrochen zu sein, denn Anna erhält anonyme Briefe, in denen Dinge stehen, die nur sie und ihr Entführer kennen. Zudem schickt er ihr Gegenstände mit Bezug auf die Entführung, aber auch Dinge aus ihrem jetzigen Leben, die ihr klarmachen, dass er stets in ihrer Nähe ist. Annas Jugendliebe, FBI-Agent Nick Coleman lässt sich für den Fall abordnen und versucht, gemeinsam mit ihr, ihrem Kollegen Zane Newton, der Profilerin Lynette McKenzie herauszufinden, was Harris vorhat. Eine wilde Jagd beginnt, bei der immer neue Verdächtige auftauchen und als sie merken, dass sie besser niemandem vertrauen sollten, ist die Lage für alle lebensgefährlich.
Wow. Was für ein Buch! Der Krimi hat mich durch seine actionreiche Handlung, aber auch durch die düstere, fast klaustrophobische Atmosphäre direkt gepackt. Der Spannungsbogen ist von Anfang an fast konstant sehr hoch. Die vielen Cliffhanger an den Kapitel-Enden, die rasante Erzählweise, die Perspektivwechsel, die knackig-prägnante Sprache – das alles trieb für mich die Spannung in Fingernägel-Abknabber-Höhen. Die Sprache ist bildhaft, bei den vielen Szenen voller Blut und Gewalt vielleicht für manche zu bildhaft. Die Charaktere sind gut und gründlich ausgearbeitet. Das Handlungsgerüst ist zwar nicht immer hundertprozentig logisch gestrickt, aber dennoch gekonnt konstruiert und besticht durch rasante Action und eine hervorragend eingearbeitete psychologische Komponente. So spielen in der Geschichte unter anderem Trauma, Schuldgefühle, panische Angst und tiefsitzende Rachegelüste große Rollen, das Autoren-Duo spielt aber auch mit der Leserschaft und den Ur-Ängsten der Menschen. Ich zumindest bekam bei der Lektüre durchaus eine Art Verfolgungswahn und Beklemmungen. Hinter jeder Tür rechnet man mit dem psychopathischen Entführer und man kann die Angst der Protagonistin fast körperlich spüren. Was allerdings tatsächlich ein bisschen kurz kommt, ist wirkliche Polizeiarbeit. Von Seiten der Ermittler erfolgen fast ausschließlich Reaktionen auf Aktionen des Täters, was hauptsächlich in wilden Verfolgungsjagden gipfelt und manchmal hilft ihnen auch der Zufall auf die Sprünge.
Natürlich hat das Autoren-Duo Stevens& Suchanek das Rad nicht neu erfunden, die Geschichte hat jeder Thriller-Fan so oder so ähnlich schon Dutzende Male gelesen. Aber sei’s drum. Alles in allem hat mich das Buch gefesselt und begeistert. Jetzt freue ich mich auf den nächsten Band, denn der erste Teil der Serie hat zwar ein (für mich sehr überraschendes) Ende, aber keinen wirklichen Schluss und macht mit einem Cliffhanger Lust auf mehr. Von mir daher fünf Sterne und eine Lese-Empfehlung für alle, die rasante, actionreiche und blutige Thriller mit viel Gewalt mögen.

Bewertung vom 06.03.2023
Der kleine Buddha auf der Reise nach Hause
Mikosch, Claus

Der kleine Buddha auf der Reise nach Hause


gut

„Der kleine Buddha auf der Reise nach Hause“ war mein erstes Buch, oder besser gesagt, Büchlein, von Claus Mikosch. Da mich das Thema persönlich stark beschäftigt, war ich wirklich gespannt, wie der Autor es aufarbeitet. Tatsächlich bin ich ein bisschen zwiegespalten, denn im Endeffekt mäandert das Buch für mich zwischen Kalendersprüchen, Küchentisch-Philosophie und einigen wenigen echten philosophischen Gedankengängen hin und her. Allerdings hat es mich sehr kurzweilig und gut unterhalten.
Aber von vorn.
Den keinen Buddha beschäftigt die Frage nach Heimat. Wo ist man Zuhause und ist es etwas anderes, sich zuhause zu fühlen? Er macht sich auf die Reise, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Dabei begegnet er einigen sehr unterschiedlichen Personen und bekommt durch sie einen sehr differenzierten Einblick. So trifft er auf seiner Reise zur Insel, auf der die Schriftstellerin lebt, die er sucht, unter anderem ein junges, sehr verliebtes Paar auf der Hochzeitsreise, eine herzliche Gewürzhändlerin und einen tauben Leuchtturmwärter. Durch die Begegnungen mit dem Menschen, die ihm ihre Geschichten, aber Parabeln, erzählen, sieht der kleine Buddha immer mehr Facetten der Heimat und kommt zum für sich einzig möglichen Schluss: Wenn er sich vollkommen zuhause fühlen wollte, musste er mit ganzem Herzen den gegenwärtigen Moment lieben.
Es ist sehr interessant, wie und wo man sich zu Hause finden kann. Diese Aspekte beleuchtet der Autor gut, wenn auch nicht so gut, wie ich es mir erhofft hatte. Woran liegt das? Einerseits lag mir die sprachliche Umsetzung der Geschichte nicht hundertprozentig. Sie ist einfach gehalten, was das Buch zwar sehr schnell und leicht lesbar macht, dem Ganzen aber einen kindlich-naiven Duktus gibt und alles ständig Gefahr läuft, ins Seichte und Platte abzurutschen. Da ich den kleinen Buddha vorher nicht kannte, fand ich ihn etwas schwierig. Ihm fehlte für mich die buddhistische Ruhe und Gelassenheit, er „menschelt“ sehr, vor allem seine Gedanken über das verliebte Paar fand ich zwar teilweise nachvollziehbar aber irgendwie störend.
So kommt das Buch leider nicht an Geschichten wie etwa „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry heran, obwohl die Gedanken dahinter sicherlich ähnlich sein dürften. Dafür fehlte mir aber die Dichte und im Endeffekt auch die Weisheit. Stellenweise plätschert die Erzählung in den kurzen Kapiteln vor sich hin und wirkt etwas langatmig. Und der Schluss, so philosophisch angehaucht er auch sein mag, ist keine Überraschung: Heimat ist für jeden etwas anderes. Für den einen die Gegenwart und Umarmung des geliebten Menschen, für andere das Meer oder gar, wie für die Schriftstellerin, ein leeres Blatt Papier.
Für mich selbst konnte ich aus dem Buch für die Suche nach meinem Zuhause nicht viel mitnehmen, da hilft es nur insofern weiter, als dass man selbst eines finden muss und nicht auf andere hören soll. Denn das EINE Zuhause gibt es nicht. Oder um es mit den Worten des dänischen Musikers Michael Falch zu sagen: „Det at føle sig hjemme er et andet ord for kærlighed“ (sich zu Hause zu fühlen ist ein anderes Wort für Liebe) – Liebe zu einem Ort, einem Menschen, einem Gegenstand oder gar einer Jahreszeit. DIE Heimat gibt es nicht, sie ist nicht an einen Ort gebunden, sondern ein Gefühl und sie kann heute etwas anderes sein als sie es gestern war oder morgen sein wird.
Leider fand ich das Buch zu schwach und mir fehlte der Tiefgang. Daher kommt es für mich über ein „ganz nett“ und „unterhaltsam“ nicht hinaus. Drei Punkte.

Bewertung vom 22.02.2023
Enna Andersen und die verlorene Zeit
Johannsen, Anna

Enna Andersen und die verlorene Zeit


sehr gut

„Meine Eltern wurden vor vierundzwanzig Jahren brutal ermordet. Ein Mann ist dafür verurteilt worden und saß lange im Gefängnis. Inzwischen gibt es erhebliche Zweifel, dass er tatsächlich der Täter war. Ich suche jetzt den wahren Mörder.“ Darum dreht sich der fünfte Teil von Anna Johannsens Serie um Hauptkommissarin Enna Andersen. „Enna Andersen und die verlorene Zeit“ heißt das Buch und nimmt die Leserschaft mit auf eine wilde Achterbahnfahrt und entdeckt Geheimnisse, die sie (und auch ich als Leser) nicht erwartet hätte.
Aber von vorn.
Seit Aaron Bernard in Ennas Leben getreten ist, zweifelt Enna Andersen an der Schuld des wegen des Mordes an ihren Eltern verurteilten Ronald Grothe. Aaron ist nicht nur inzwischen ihr Lebensgefährte geworden, sondern vertritt Grothe nach wie vor in seinem Kampf um ein Wiederaufnahmeverfahren, denn der Mann bestreitet seine Schuld vehement. Enna nimmt sich drei Wochen frei und ermittelt auf eigene Faust, heimlich unterstützt von Kollegen und Privatermittlern. Die Spuren führen sie in alle möglichen Richtungen, allerdings scheinen die meisten Fäden beim ehemaligen Arbeitgeber ihres Vaters, einer Hamburger Anwaltskanzlei, zusammenzulaufen. Und als Enna und ihre Mitstreiter dahinterkommen, wer welchen Dreck am Stecken hat, ist es schon fast zu spät.
Wow. Das ist ja mal ein Chaos aus Spuren und Verdächtigen, das Anna Johannsen ihrer Leserschaft präsentiert! Tatsächlich kann ich es nicht empfehlen, mit diesem Buch in die Serie einzusteigen. Zwar gibt sich die Autorin redlich Mühe, alles Wissenswerte und Notwendige noch einmal aufzugreifen, aber hätte ich die anderen Teile nicht gelesen, hätte ich vermutlich größere Verständnisprobleme gehabt. So war das Buch für mich aber trotz der Vielzahl an Charakteren und der vielen Ausflüge ins Privatleben aller Ermittler gelungen, wenn auch nicht so gut wie erwartet. Insgesamt ist der Spannungsbogen stellenweise leider nur mäßig hoch, die Auflösung war für mich einerseits stimmig, andererseits fand ich ihn etwas an den Haaren herbeigezogen. Der historische Hintergrund (leider kann ich aus Spoiler-Gründen darauf nicht näher eingehen) ist allerdings wirklich gut eingearbeitet und logisch verknüpft.
Das Pärchengedöns zwischen Enna und Aaron, Pia und Alina und Paulsen und Katja ist zwar nett aber unspannend und bringt dem Krimi an sich keinen Mehrwert. Wer die anderen Teile der Serie kennt, kann aber die Entwicklung der Charaktere nachvollziehen, vor allem auch die Umstände, wie die jeweiligen Paare zueinander fanden, hatte ich immer vor Augen. Die vielen Verdächtigen und Spuren machten das Buch für mich manchmal ein bisschen unübersichtlich und überladen. Ab und zu beschlich mich das Gefühl, dass die Autorin das Buch gewollt in die Länge zieht, um die Seiten zu füllen. Den Epilog fand ich sehr gelungen und wichtig, denn darin wird der komplette Fall inklusive aller Verdächtigen noch einmal rekapituliert. So erfährt die Leserschaft auch, wie es mit den jeweiligen Personen weiterging.
Sprachlich ist das Buch wie gewohnt ansprechend. Es ist leicht zu lesen, die Sprache ist alltagsnah und kommt ohne übermäßige Kraft- und Fäkalausdrücke aus. Das ist heutzutage nicht selbstverständlich und eine Wohltat. Ich habe das Buch auf jeden Fall sehr gerne gelesen und vergebe vier Sterne.

Bewertung vom 21.02.2023
Amerikas Gotteskrieger
Brockschmidt, Annika

Amerikas Gotteskrieger


ausgezeichnet

Selten hat ein Buch mich so lange beschäftigt, wie Annika Brockschmidts „Amerikas Gotteskrieger“ – und dabei meine ich sowohl formal als auch inhaltlich. Es ist ein Buch voller Informationen, untermauert mit Quellen und Zitaten, überladen mit Namen und Fakten. Ein Buch voller erschreckender Tatsachen, zusammengetragen und historisch eingeordnet. Für mich ein Buch voller realer und realgewordener Alpträume.
Aber von vorn.
Religion ist in den USA ein wichtiges Thema. „In god we trust“ ist seit einigen Jahrzehnten das Credo. Was aber sich hinter Glauben, Frömmigkeit und Gottesfürchtigkeit verbirgt, zeigt ein ganz anderes Bild. Nicht erst seit Donald Trump gibt es eine breite Schnittmenge zwischen den gläubigen Christen aller möglicher Konfessionen (Evangelikale, Protestanten, Katholiken und andere Glaubensrichtungen) und radikalen Nationalisten. Rassismus ist das, was die beiden Gruppen verbindet. Und Homophobie, Transphobie, die Ablehnung der biologischen Evolutionslehre, und so weiter und so fort, schlicht all das, was mit ihrem Glaubensverständnis nicht vereinbar ist. Durch Großspender, die Brüder im Geiste und im Glauben sind, verfügt die Bewegung über schier unbegrenzte finanzielle Mittel und schafft es, immer mehr Bereiche des täglichen Lebens zu durchdringen. Schulen, Universitäten und Firmen sind nur ein Teil, in dem die religiösen Fundamentalisten vielfach schon Fuß gefasst haben. Bibliotheken verbieten Bücher, Schulen nehmen Lehrplaninhalte aus dem Unterricht und natürlich gibt es auch die dazu passenden Medien. Der Glaube hat in den USA schon lange die Kirchen verlassen und sich in Politik und Alltag verankert. Eine Trennung von Staat und Religion ist für die Religiösen Rechten unerwünscht und muss aufgehoben werden. Notfalls mit Gewalt.
Die Gewalt, an die wir uns wohl alle erinnern, ist der Sturm auf das Kapitol nach Donald Trumps verlorener Wahl. Da wurde versucht, Demokratie durch Gewalt zu ersetzen und ein Land, das sich selbst als das demokratischste überhaupt sieht, war so gespalten wie selten zuvor. Ein Teil befürwortete es und der andere war angewidert und entsetzt. Die Zeit wird zeigen, ob Amerika künftig in der Lage sein wird, eine Demokratie durchzusetzen, zumal das System mit dem im Land gewählt und regiert wird, nicht einfach zu verstehen ist. Klar ist aber jetzt schon, dass Donald Trump eine Wiederwahl anstrebt und eine große Anhängerschaft hinter sich versammeln konnte, die seine Vorstellungen teilt. Und wenn was nicht passt, wird es passend gemacht. Geschichte wird neu gedeutet, umgeschrieben oder ignoriert. Wahrheiten werden verdreht, Fake News salonfähig gemacht. Manchmal fühlt man sich ins Mittelalter zurückversetzt, als eine elitäre Minderheit lesen und schreiben konnte und daher dem illiteraten Volk die Bibel vorlesen und erklären musste – ganz nach dem eigenen Gutdünken und zum Erreichen eigener Ziele.
„Amerikas Gotteskrieger“ ist ein schrecklich-gutes Buch. Es ist hervorragend recherchiert und gut geschrieben, auch wenn einen die Fülle an Quellen und Fußnoten manchmal etwas überfordern mag. Diejenigen, die es erreichen kann, wird es zum Nachdenken bringen. Die anderen wird es kalt lassen und sie werden es für ihre Zwecke nutzen und laut „Bashing“ und „Fake News“ rufen. Diejenigen sind aber oftmals ein Teil der Blase, die sich selbst als etwas Besseres sieht, einer Gruppe von „White Supremacy“, die mit ihrem Slogan MAGA (Make America Great Again) allen anderen die Friedfertigkeit und die Gottesfurcht gleich der Kreuzzügler mit Gewalt beibringen möchte. Trump war der Anfang, wie es weitergehen wird, wird die Zeit zeigen. Das Buch zeigt eine einigermaßen düstere Zukunft. Wer die neuere Geschichte der USA und die kommenden Auseinandersetzungen verstehen möchte, dem sei Annika Brockschmidts Buch ans Herz gelegt. Von mir fünf Sterne.

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Bewertung vom 13.02.2023
Als die Welt zerbrach
Boyne, John

Als die Welt zerbrach


ausgezeichnet

Vor einigen Jahren habe ich John Boynes „Der Junge im gestreiften Pyjama“ gelesen. Jetzt erschien mit „Als die Welt zerbrach“ eine Art Fortsetzung, die ich als Hörbuch gehört habe. Für mich ein Werk, das mich zwiegespalten zurücklässt. Einerseits finde ich das Thema Schuld/Schuldgefühl sehr gut bearbeitet, andererseits ist der Schluss ein Paukenschlag, der für mich vieles ad absurdum führt.
Aber von vorn. Gretel Fernsby ist eine äußerst rüstige Dame über 90, verwitwet, hat einen über 60jährigen Sohn und mehrere Ex-Schwiegertöchter. In direkter Nähe zum Hyde Park lebt sie ein beschauliches Leben in finanzieller Sicherheit, ihre Tage drehen sich um Spaziergänge, Bücher und ihre leicht demente Nachbarin Heidi. Nachdem der Nachbar in der Wohnung unter ihr verstirbt, zieht eine Familie mit elfjährigem Sohn ein. Gretel freundet sich mit Henry an und nimmt ihm gegenüber eine Art Großmutter-Rolle an. Seine Mutter Madelyn, eine sehr hübsche ehemalige Schauspielerin scheint in ihrer Ehe mit dem Filmproduzenten Alex nicht glücklich zu sein und auch Henry ist kein unbeschwertes Kind. Bei Gretel schrillen Alarmglocken, spätestens, als sie bei dem Jungen erst einen gebrochenen Arm und später blaue Flecke sieht.
Soweit könnte das Buch ein Krimi sein. Oder ein Familiendrama. Aber weit gefehlt. Denn Gretel lebt mit einem dunklen Geheimnis. Gretel – die war sie schon immer gewesen. Der Rest ihrer Vita ist allerdings eine Lüge, ihren Mädchennamen und ihren Lebenslauf hat sie sich ausgedacht. Ihr Vater war seinerzeit Kommandant in Auschwitz gewesen, die Familie hatte in unmittelbarer Nähe zum Lager gelebt (wer „Der Junge im gestreiften Pyjama“ kennt, weiß das). Gretel blickt auf ihr Leben zurück. In Gedanken durchlebt sie die Zeit der Flucht vor den Alliierten und ihr gemeinsames Leben mit ihrer Mutter in Frankreich. Sie denkt an ihren Umzug nach Australien, wo sie ausgerechnet auf Kurt, ihren Jugendschwarm und grausamen Nazi traf. In England fasste sie schließlich Fuß, traf ihren Ehemann und wurde Mutter. Und damit treffen die beiden Erzählstränge aufeinander. Denn das Zusammentreffen Gretels mit Henry, der sie so sehr an ihren im Konzentrationslager verschwundenen Bruder Bruno erinnert, weckt bei ihr die alten Erinnerungen und stellt ihr Leben auf den Kopf. So gerne hätte sie das alles, was vor über 70 Jahren passiert war, vergessen. Oder es weiterhin verdrängt und so getan, als würde sie das alles nicht betreffen.
Aber das gelingt ihr nicht mehr. Und dem Autor gelingt ein Buch über Schuld und Schuldgefühle, Verdrängen und Vergessen und ob man manche Verbrechen jemals vergeben können sollte. Und er zwingt sein Publikum zum Nachdenken. Denn nichts an der Geschichte ist einfach – so sehr Gretel sich das auch wünschen würde. Ob sie zu menschlich und ihre Rolle im Holocaust zu harmlos dargestellt werden? Ich kann es nicht sagen. Was ich aber sagen kann, ist, dass es ein Buch ist, das lange und heftig nachhallt und das man, wie auch „Der Junge im gestreiften Pyjama“ oft nur schwer ertragen kann. Zu präsent sind (zumindest bei mir) auch die Gedanken an die eigenen Großeltern, die etwa in Gretels Alter wären und auch die Frage, wie ich selbst an ihrer oder Gretels Stelle gehandelt hätte. Ein schwieriges Buch, das einem viel abverlangt. Der Schluss ist allerdings für mich zwar eine Mischung aus an den Haaren herbeigezogen und Paukenschlag (näher kann ich aus Spoiler-Gründen nicht darauf eingehen), aber er ist stimmig. Elisabeth Günther liest das Buch hervorragend, einfühlsam und gekonnt fängt sie die alte Dame aus 2022 genauso ein wie die junge Frau um 1950.
Mich hat das Buch auf jeden Fall tief berührt. So viel abgrundtief Böses und so schreckliche Geheimnisse hinter harmlosen Fassaden – das alles hat mich sehr nachdenklich gemacht. Ich vergebe fünf Sterne.

Bewertung vom 13.02.2023
Brecht und die Frauen
Hörner, Unda

Brecht und die Frauen


ausgezeichnet

Bert Brecht und ich, das ist eine eher spezielle Geschichte, die mit einem verkorksten Deutsch Leistungskurs endete. Aber „Brecht und die Frauen“ von Unda Hörner hat ihn mir nähergebracht, wobei ich sagen muss, dass er mir nicht übermäßig sympathisch wurde. 2023 wäre der Schriftsteller 125 Jahre alt geworden und in diesem Buch stehen die Frauen in seinem Leben (und davon gab es zahlreiche) im Mittelpunkt. Frauen, ohne die er ganz sicher nicht der geworden wäre, der er war, oder wie die Autorin es ausdrückt: „Der Anteil all dieser Frauen an Brechts Lebenswerk ist kaum zu überschätzen.“

Aber von vorn.
Eugen Berthold Friedrich Brecht war eigentlich rein optisch kein Frauentyp, ich denke, so viel kann man getrost sagen. Und dennoch hatte er eine anziehende Wirkung auf das weibliche Geschlecht. So war er zwar nur zweimal verheiratet (mit Marianne Zoff und mit Helene Weigel), aber er fuhr beziehungstechnisch meist mehrgleisig, schwängerte mal die eine, mal die andere – mehrere Kinder entstanden, es gab aber auch Fehlgeburten und Abtreibungen. Brecht will keine der Frauen aufgeben und wenn schon heiraten, dann am liebsten alle. Eine bürgerliche Konvention wie Monogamie lehnte er offenbar ab („Polygamie in der Beziehung ist für sie kein Grund zur Aufregung“ – das erwartete er offenbar auch von den Frauen). Die Frauen spielten das Spiel mit. Dabei waren sie keine farblosen Mäuschen und Heimchen am Herd. Einzig seine Jugendliebe Paula Banholzer, genannt Bi, ergriff den bürgerlichen Beruf der Erzieherin. Die anderen Damen in Brechts Leben kamen aus der Künstlerszene: Helene Weigel, Marianne Zoff und Ruth Berlau waren bekannte Schauspielerinnen, Elisabeth Hauptmann und Margarete Steffin Schriftstellerinnen. Viele von Brechts Werken wären ohne die Frauen in seinem Leben inhaltlich und technisch gar nicht möglich gewesen.
Sie waren ihm Musen und hielten ihm den Rücken frei, organisierten seinen Schreibkram, seine Notizen und sein Leben. Vermutlich wäre auch sein Leben im Exil (er ging erst in die Schweiz, dann nach Dänemark, Schweden und Finnland und zuletzt in die USA) nicht so möglich gewesen, hätten sie es ihm nicht möglich gemacht. Und sie nahmen es hin, für ihn nie DIE Einzige zu sein, selbst neben den im Buch erwähnten Damen gab es sicher noch weitere Liebschaften in Brechts Leben.

Eingeordnet in das allgemeine Zeitgeschehen schreibt Unda Hörner also über Vielecksbeziehungen im Hause Brecht, niemals wertend, immer biografisch-neutral. Wie man als Leser:in dieses Leben finden mag, sei jedem selbst überlassen. Ich fand es interessant, wie dieser „spindeldürre kleine Mann“ so einen Erfolg bei den Damen haben konnte und wie devot diese sich teilweise seinen Lebensvorstellungen unterwarfen. Nur durch sie konnte er das Leben des Lebemannes führen und sie waren diejenigen, die seinen Erfolg erst möglich machten. Alles in allem für mich ein interessantes und informatives Buch, sprachlich ansprechend geschrieben und sehr gut zu lesen. Von mir daher fünf Sterne.

Bewertung vom 23.01.2023
Der Mondmann - Blutiges Eis (eBook, ePUB)
Haskin, Fynn

Der Mondmann - Blutiges Eis (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ausgerechnet nach Grönland wird der dänische Profiler Jens Lerby in Fynn Haskins Thriller „Der Mondmann – Blutiges Eis“ strafversetzt. Er, der Eis und Schnee hasst, landet in der eisigen und schneebedeckten Einöde der (fiktiven) Gemeinde Illokarfiq. Das Setting allein hat ja schon enormes Potenzial. Und die drei Morde, in denen er ermitteln soll, bringen nicht nur Spannung mit sich, sondern auch eine Menge Informationen über Leben und vor allem Traditionen und Glauben der Inuit. Und diese Kombination ist es, die das Buch für mich zwar nicht einzigartig, aber dennoch sehr besonders macht.
Aber von vorn.
Drei Tote werden in einem verlassenen Wohncontainer gefunden, getötet durch Perforation mit „einem konisch geformten Gegenstand von etwa vierzig Zentimetern Länge und wenigstens fünf Zentimetern Durchmesser.“ Unter den Einheimischen verbreitet sich schnell das Gerücht, ein Amarok sei der Täter. Fallanalytiker Lerby weigert sich allerdings, dieses mythische Mischwesen aus Walross und Wolf als Täter zu sehen und beginnt seine Ermittlungen in der Gemeinde an der Südostküste der Insel. Er lehnt Grönland und die Einheimischen mindestens genauso sehr ab, wie diese ihn und hat es daher schwer, Unterstützung bei seiner Arbeit zu finden. Die junge Ethnologin Pally, die Enkelin des örtlichen Schamanen, ist eine der wenigen, die ihm freundlich gegenüberstehen und hilft ihm, die Sitten und Gebräuche besser zu verstehen. Und nach und nach wird allen klar, dass sich hinter dem mystischen Wesen kein Dämon verbirgt, sondern ein Killer aus Fleisch und Blut. Aber da ist es auch schon fast zu spät.
„Der Mondmann“ ist nicht mein erster Grönland-Thriller (wer Thriller dieser Art mag, dem seien an dieser Stelle auch die Bücher von Mads Peder Nordbo ans Herz gelegt), aber er kann auf jeden Fall mit den anderen problemlos mithalten. Klar, der Autor hat das Rad nicht neu erfunden. Die Geschichte wurde so oder so ähnlich schon oft erzählt, aber das macht nichts, denn Fynn Haskin versteht sein Handwerk hervorragend und schaffte es schnell, mich zu fesseln. Die Spannung braucht zwar eine Weile, bis sie sich aufbaut, aber erstmal in Fahrt gekommen, ist der Spannungsbogen sehr hoch. Der Schreibstil ist locker und flüssig zu lesen, weshalb ich das Buch praktisch in einem Rutsch durchgelesen habe.
Die Charaktere, die Fynn Haskin seiner Leserschaft serviert, sind gut ausgearbeitet. Auf der einen Seite ist der unangepasste, unbequeme und raue Ermittler, mit 50 Jahren mitten in der Midlife-Crisis mit Eheproblemen und einer tiefsitzenden Abneigung gegen Eis und Kälte (er mag nicht mal Eis im alkoholischen Getränk). Auf der anderen Seite sind die frisch verlassene junge Ethnologin Pally und, vor allem, der herrische und traditionelle Schamane. Ich hatte von allen direkt ein Bild vor Augen. Aber wirklich gepackt hat mich die Beschreibung des Settings. Die Landschaft ist so dicht und atmosphärisch geschildert, dass man die Kälte fast körperlich fühlen kann. Und auch der Klimawandel und die Einheimischen und die Probleme, die ihnen die Kolonialisierung durch Dänemark gebracht hat, kommen nicht zu kurz. Angesprochen werden sowohl die hohen Selbstmordraten und die vielen Menschen mit Alkoholproblemen, viele kämpfen also mit ganz anderen, sehr viel realeren Dämonen, als einem Tupilaq oder Amarok. Aber die grönländische Mythologie, der Glaube der Ureinwohner und der Versuch, wieder eine eigene Identität zu finden, sind sehr spannende Themen, die Fynn Haskins Buch für einen Thriller sehr gut und sensibel beschreibt.
Alles in allem war „Der Mondmann – Blutiges Eis“ ein hochspannender Thriller, der so viele Nebenthemen anpackt, dass die Ermittlungen fast zur Nebensache wurden und der Schluss für mich vorhersehbar und fast Beiwerk war. Aber ich habe das Buch praktisch verschlungen und hoffe vom Autor auf weitere Bücher dieser Art. Von mir eine klare Lese-Empfehlung und fünf Sterne.

Bewertung vom 16.01.2023
Was wir verbergen / River Delta Bd.2
Tuominen, Arttu

Was wir verbergen / River Delta Bd.2


ausgezeichnet

Nach „Was wir verschweigen“ ist „Was wir verbergen“ der zweite Teil der Delta-Reihe des finnischen Autors Arttu Tuominen. Das Buch behandelt mit einem homophob motivierten Anschlag auf einen Nachtclub ein völlig anderes Thema (Band 1 handelte von einem Mord aus Rache), ist aber nicht minder spannend und auch in diesem Teil kommt die psychologische Komponente nicht zu kurz. Man kann das Buch lesen, ohne den ersten Teil zu kennen. Aber warum sollte man? Sie sind beide echte Pageturner.
Aber von vorn.
Im Club „Venus“, einem bei Homosexuellen beliebten Nachtclub explodieren zwei Handgranaten. Fünf Menschen sterben, viele werden teils schwer verletzt. Ein Bekennervideo zeigt einen selbsternannten „Gesandten“, der für die Tat religiöse Motive angibt. Kommissar Henrik Oksman von der Kripo in Pori übernimmt zusammen mit seinen Kollegen die Ermittlungen und bringt sich in eine Bredouille: er war selbst kurz vor dem Anschlag in dem Club. Da er aber ungeoutet lebt, darf davon niemand wissen, zumal er mit blonder Perücke und einem roten Kleid dort war. Die Ermittlungen führen ihn und die Kollegen in verschiedene Richtungen, zumal die Granaten aus dem Bestand der finnischen Armee stammen. In den Fokus rückt schnell die Neonazi-Organisation White Order deren Mitglieder den Anschlag feiern („Ich kann tatsächlich nicht behaupten, dass es mich besonders mitnimmt, wenn ein paar Schw***teln abkratzen. Ehrlich gesagt hat mich seit Langem nichts so gefreut.“). Der Anschlag spaltet die Bevölkerung in diejenigen, die ihn verurteilen auf solche, die ihn gutheißen, ja sogar befürworten. Und als dann noch ein Vater und sein Sohn als vermisst gemeldet werden, die die Zeitschriften der Zeugen Jehovas verteilen wollten, in deren aktuellen Ausgaben lange Artikel über Homosexualität enthalten sind, sieht Oksman als einziger einen möglichen Zusammenhang. Langsam läuft den Ermittlern die Zeit davon.
Wie gesagt, das Buch hat mich gefesselt und ich habe es innerhalb kürzester Zeit durchgelesen, mit der traurigen Erkenntnis am Schluss, dass ich nun eine ganze Weile auf die Fortsetzung warten muss. Sei’s drum. Sprachlich topp, Übersetzung gelungen. Konzeptionell hervorragend und rasant spannend. Die beiden Erzählebenen beinhalten sowohl die Ermittlungen als auch die Perspektive des „Gesandten“, in Gegenwart und in Vergangenheit. Man lernt ihn besser kennen und erkennt die Motive hinter seiner Tat, erfährt aber erst am Schluss, wer er ist. Die Charaktere (dieses Mal steht mit Henrik Oksman ein anderer Polizeibeamter im Mittelpunkt als in Teil 1) sind sauber ausgearbeitet, ebenso das Setting in der eigentlich ruhigen Hafenstadt, die plötzlich von einer Welle aus Gewalt und Gegengewalt überrollt wird. Wie schon in „Was wir verschweigen“ gelingt es Arttu Tuominen nicht nur, einen packenden Krimi zu konstruieren, er schafft es auch, ein aktuelles Thema darin so zu verarbeiten, dass es ein politischer Krimi wird, ohne zu politisieren. Er nimmt auch die Gesellschaft unter die Lupe: die Frömmler, die Neonazis und die aus anderen Gründen Homophoben. Am Beispiel von Pfarrer Mikael Fredriksson zeigt er, dass nicht alle Pfarrer Homosexualität verurteilen. Außerdem legt er ein Augenmerk auf die Scheinheiligkeit derer, die sich auf die Bibelstelle „Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel“ beziehen, denen aber „du sollst nicht töten“ egal ist. Während Hendrik Oksmans Doppelleben (ob er nun Crossdresser oder Transvestit ist, wird nicht aufgeklärt) ein essenzieller Teil der Handlung ist, sind Ausflüge in Jari Paloviitas Privatleben eher Verschnaufpausen fürs Publikum.
Vielleicht bin ich als ebenso wie Hendrik Oksman Betroffener voreingenommen. Mich hat das Buch tief ins Herz getroffen und es wird noch lange nachhallen. Was Erziehung, Fanatismus und Hass anrichten können, ist erschreckend und mir „ein Gräuel“. Das Buch ist für mich ein echtes Highlight und eine klare Lese-Empfehlung. Fünf Sterne.

Bewertung vom 16.01.2023
Kuckuckskinder / Erica Falck & Patrik Hedström Bd.11
Läckberg, Camilla

Kuckuckskinder / Erica Falck & Patrik Hedström Bd.11


sehr gut

Interfamiliäres Drama kostet auch noch Jahrzehnte später die Leben Unschuldiger. So würde ich Camilla Läckbergs neues, lange erwartetes Buch „Kuckuckskinder“ kurz zusammenfassen. Fünf Jahre nach „Die Eishexe“ hat sie den elften Teil ihrer Fjällbacka-Serie um Autorin Erica Falck und ihren Mann, den Polizisten Patrik Hedström, vorgelegt. Obwohl ich ein großer Fan der Serie bin, muss ich sagen, dass mich das Buch etwas zwiegespalten zurücklässt. Es ist wie eine Achterbahnfahrt mit (zu) langen flachen Passagen, die gegen Ende rasant spannend wird.
Aber von vorn.
In Fjällbacka laden Henning Bauer und seine Frau Elisabeth zur Feier ihrer goldenen Hochzeit ein. Ein rauschendes Fest mit viel Alkohol und Tanz – das Paar ist ja nicht irgendwer. Henning ist ein berühmter Autor und als möglicher Literaturnobelpreisträger im Gespräch und Elisabeth ist eine erfolgreiche Verlegerin. Noch während die Gesellschaft feiert, wird in der Stadt ein Freund des Paares, der Fotograf Rolf Stenklo, in seiner Galerie ermordet. Er war dabei, eine Ausstellung vorzubereiten, die eine Reise in die Vergangenheit darstellen sollte. Während Patrik und seine Kollegen in dem Mordfall ermitteln, stößt Erica auf einen mysteriösen Todesfall in Rolf Stenklos Vergangenheit und stellt ihre eigenen Recherchen für ein neues Buch an. „Lola“ ist der Name, der immer wieder auftaucht, eine trans Frau und Mutter, die 1980 zu Tode kam. Während sie erschossen wurde, kam ihre sechsjährige Tochter Julia, genannt Pytte, bei einem Feuer in der Wohnung ums Leben. Wie Lola und Rolf, aber auch Henning und Elisabeth zusammengehören, ist für Erica lange ein Rätsel. Während sie entwirrt, wie die Fäden bei „Blanche“, einem elitären „Kulturverein“ zusammenlaufen, passieren in Fjällbacka weitere schreckliche Morde und Patrik stößt an seine Grenzen.
Die Idee hinter dem Buch ist gut, sprachlich ist es (bis auf einen ärgerlichen Rechtschreibfehler auf der letzten Seite) ebenfalls gut und sehr leicht zu lesen. Der Spannungsbogen verläuft allerdings wie exponentiell: er steigt sehr langsam und schleppend, ist er aber dann mal in Fahrt, dann steigt er stark an, das Buch wird packend und man möchte es nicht mehr aus der Hand legen. Die Themen, die Camilla Läckberg aufgreift, sind unter anderem Familientragödien und LGBTQ+. Verarbeitet werden diese sensibel, vor allem das Thema trans Frau als Mutter, aber alles in allem für meinen Geschmack ein wenig zu stereotyp. Leider war der Schluss für mich zu vorhersehbar und das Buch wurde insgesamt nicht zu dem Highlight, das ich mir gewünscht hätte.
Alles andere ist, wie man es aus den anderen zehn Teilen der Serie gewohnt ist: Patrik zeigt in den Ermittlungen wieder Kompetenz und Überblick und ist der ruhende Pol unter den Kollegen. Erica recherchiert für ihr neues Buch so, wie sie es sonst auch macht. Etwas planlos, impulsiv und – wie immer erfolgreich. Wer die Serie kennt, freut sich unter anderem über ein Wiedersehen mit Polizeichef Bertil Mellberg und seiner Lebensgefährtin Rita (sie müssen mit Ritas Krebsdiagnose klarkommen), den Polizisten Gösta Flygare, Paula Morales, Martin Molin und Ericas Schwester Anna. Ebenso ist die Leserschaft auch parallel erzählte Handlungsstränge von der Autorin gewöhnt, die zum Schluss stimmig verflochten werden. Da bildet auch dieses Buch keine Ausnahme. Die Langatmigkeit der Erzählung kannte ich von der Autorin jedoch nicht. Für mich brauchte die Geschichte zu viel Zeit, um in Fahrt zu kommen. Der Umgang mit dem Thema trans Menschen ist meiner Meinung nach gelungen.
Insgesamt hat das Buch zu viele Längen, die aber durch die spannenden Passagen und den sensiblen Umgang mit dem Thema trans Menschen und dem hohen Spannungslevel gegen Ende wettgemacht werden. Ich empfehle, die anderen Bände (oder wenigstens ein paar davon) vorher zu lesen um ein paar Vorkenntnisse bezüglich der Ermittler und ihres Umfelds zu haben. Aber natürlich ist das Buch auch ohne diese lesenswert und verständlich. Von mir gibt es vier Sterne.

Bewertung vom 11.01.2023
Was wir verschweigen / River Delta Bd.1
Tuominen, Arttu

Was wir verschweigen / River Delta Bd.1


ausgezeichnet

„Was wir verschweigen“ ist der erste Teil von Arttu Tuominens auf sechs Teile angelegte Delta-Reihe. Das Buch wurde 2020, meiner Meinung nach völlig zu Recht, als bester Kriminalroman Finnlands ausgezeichnet. „Kriminalroman“ steht auf dem Cover, aber es ist so viel mehr als ein reiner Krimi. Natürlich geht es um einen Mord, aber im Hintergrund beinhaltet das Buch noch eine psycho-soziale Komponente, die für mich die Mordermittlungen fast zur Nebensache gemacht hat. Die ethisch-moralischen Fragen „Wie weit würdest du gehen, um ein Leben zu retten. Was würdest du um einer alten Freundschaft Willen tun?“ sind ein elementarer Teil des Buchs und machten es für mich zu einem absoluten Pageturner.

Aber von vorn.

In einem Wochenendhaus im finnischen Küstenort Pori trifft sich eine Gruppe Menschen zu einem ausufernden Saufgelage. Am Ende ist einer der Teilnehmer tot. Erstochen mit mindestens sechs Messerstichen in Rücken und Hals. Nach unbefriedigenden Befragungen möglicher Augenzeugen (sie können sich nicht erinnern, sind verkatert und unkooperativ, sogar beleidigend), finden die Ermittler mit Antti Mielonen einen Verdächtigen mit blutiger Kleidung im Wald. Der vorübergehende Leiter der Mordkommission Kommissar Jari Paloviita übernimmt die Ermittlungen eher widerwillig. Er ist in seiner neuen Position nicht glücklich und noch dazu kriselt es in seiner Ehe. Als er dann noch feststellt, dass der einzige Verdächtige im Fall sein bester Freund aus der Schulzeit ist, sieht er sich in einem Dilemma: wie weit darf seine Loyalität gehen, schließlich hat er Antti vor gut 30 Jahren ewige Freundschaft geschworen. Und schließlich ist auch das Opfer Rami Nieminen für ihn kein Unbekannter.

Da Finnisch wirklich nicht meine Sprache ist, tue ich mich zugegebenermaßen mit den Namen im Roman ein bisschen schwer. Generell brauche ich bei finnischen Büchern etwas länger, um mich „einzulesen“, auch wenn die Übersetzung sehr gut ist. Dennoch kann ich bei „Was wir verschweigen“ nur sagen, dass mich das Buch schlichtweg gefesselt hat. Die Spannung baut sich kontinuierlich auf und wird nur durch die Ausflüge ins Privatleben der Ermittler unterbrochen. Wobei die schwierige Ehe von Jari Paloviita und das exzessive Sportprogramm von Hendrik Oksman zu keiner Zeit Langeweile aufkommen lassen, eher willkommene „Verschnaufpausen“ sind. Die Charaktere Jari Paloviita, Linda Toivinen und Hendrik Oksman fand ich gut ausgearbeitet und die Geschichte hervorragend konzipiert. Die beiden Zeitebenen, auf denen der Autor sie erzählt, sind klar voneinander abgegrenzt, man weiß als Leser:in immer, wo man sich befindet.

Was mich neben dem angenehm ruhigen, fast sachlichen Schreibstil des Autors aber wirklich beeindruckt hat, ist die Tiefe, mit der er die ethischen Fragen von Schuld, Freundschaft und Loyalität behandelt. Die Zwickmühle, in der sich Jari Paloviita befindet, war für mich fast körperlich fühlbar. Seine Zerriebenheit zwischen Pflichterfüllung seinem Arbeitgeber gegenüber und Verbundenheit mit dem Freund aus Kindertagen brachte mich immer wieder zum Nachdenken und zur Frage „Was hätte ich an seiner Stelle gemacht“. Dazu kommen noch weitere Aspekte, die dem Buch noch mehr Facetten verleihen, wie beispielsweise die unterschiedlichen soziale Schichten, aus denen Protagonisten kommen. Jari kommt aus einer Akademikerfamilie und lebt auch jetzt in vermeintlichem Wohlstand. Antti hingegen kommt aus einem gewalttätigen Elternhaus mit einem sehr aggressiven Vater und wurde als Jugendlicher aus der Familie genommen, womit auch die Freundschaft zu Jari endete.

Trotz der Vielzahl der Themen schafft Arttu Tuominen es, das Buch zu einem stimmigen Ganzen zu verarbeiten, einem Buch, das Lust auf mehr macht. Von mir ganz klare fünf Sterne und eine Lese-Empfehlung für alle, die Krimis mit einem gewissen Extra mögen.