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amara5

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Insgesamt 130 Bewertungen
Bewertung vom 25.01.2021
Vati
Helfer, Monika

Vati


sehr gut

Ein verschwommener Mensch
Monikas Helfers Erinnerungsroman „Vati“ drängt sich mit seiner klaren Prosa nicht auf – er entfaltet zart und reduziert etwas Faszinierendes zwischen dem Erzählten. Lakonisch, bruchstückhaft und in Zeitsprüngen versucht die Autorin anhand von ihren und der Erinnerungen der Stiefmutter halb fiktional, halb autobiografisch den rätselhaften und schwer zu durchschauenden Menschen, der ihr Vater war, einzufangen.

In der Schule blitzgescheit, fast das Matura in der Tasche, wird er in den Zweiten Weltkrieg eingezogen und verlor in Russland nicht nur ein Bein – das Kriegstrauma hat ihn auch seelisch verändert. Halt sucht er in seinen Büchern, die ihm alles bedeuten und heilig sind. Als Verwalter des Kriegsopfer-Erholungsheims auf der Tschengla, dem Hochplateau in Vorarlberg, ist er auch Herr über die umfangreiche Bibliothek. Monika erlebt dort mit ihren Geschwistern eine soweit idyllische Kindheit in den Bergen – doch die Mutter verstirbt früh und der Vater wird nach diesem Verlust noch abwesender. Die Kinder werden bei unterschiedlichen Verwandten untergebracht.

Nach ihrem erfolgreichen Roman „Die Bagage“ ordnet Monika Helfer nun weiter klug, sensibel und in ihrer ganz eigenen Atmosphäre ihre Familiengeschichte – dabei erschafft sie episodenhaft sehr plastische Menschen und poetisch bildhafte Umgebungen in einer Nachkriegswelt. Schönes trifft auf Trauriges, ohne rührselig zu werden – Helfer beschreibt ohne zu urteilen. Auch der Tod der eigenen Tochter Paula wird thematisiert.

„Wieder tagträume ich und sehe die Farben der Tschengla, das Lilienweiß, Enzianblau, Erdbeerrot. Jeden Tag gehe ich über den Berg, der Schlossberg heißt, von dem meine Tochter gefallen ist, sie war einundzwanzig.“

Eine eindringliche, subtil arrangierte Konstruktion in faszinierenden Bruchstücken, die als Ganzes den Vati nicht komplett klar werden lässt, aber in der zwischen den Zeilen mit wenigen präzisen Worten viel berührendes, existenzielles Zwischenmenschliches steckt. Es ist auch eine gelungene, pathosfreie Hommage an das Erinnern und das Erkennen, das dieses nicht immer wahrheitsgetreu ist.

Bewertung vom 04.01.2021
Miss Bensons Reise
Joyce, Rachel

Miss Bensons Reise


sehr gut

Zwei Paar Flügel
Frustriert vom Hauswirtschaft-Lehrerdasein im tristen Nachkriegs-London, beschließt Margery eines Tages, ihren Lebenstraum zu erfüllen: Sie will den Goldenen Käfer in Neukaledonien finden – eine Erinnerung an ihren verstorbenen Vater, der ihr diesen Käfer in einem Naturkundebuch gezeigt hat. Seit jeher ist Margery begeisterte Hobby-Koleopterologin und ihr gehen die magischen Kreaturen nicht mehr aus dem Kopf. Aber im Jahre 1950 als Frau zu einer Inselgruppe im südlichen Pazifik zur Insektenjagd zu reisen, verspricht ein sehr großes, verwegenes und wildes Abenteuer. Als aus Anzeigen auserwählte Assistentin begleitet sie die gegensätzliche und schrille Enid Pretty, die von Wissenschaft keine Ahnung hat und lieber endlich ein Baby möchte. Gemeinsam reisen sie auf der RMS Orion ihren Träumen entgegen, aber auch mit schmerzhafter Vergangenheit und dem ominösen Stalker Mr. Mundic im Gepäck. In der Wildnis Neukaledoniens treffen Margery, Enid, der goldene Käfer und Mundic zwar komödiantisch, aber auch tragisch aufeinander.

Rachel Joyce hat einen sehr atmosphärischen, tief humorvollen und szenisch filmreifen Abenteuer- und Freundschaftsroman geschaffen, der sich sehr flüssig liest und zum Träumen einlädt. Wie sich zwei Frauen in einer schwierigen Nachkriegszeit anfreunden, ihren Träumen frönen und das Leben auskosten, ist berührend und lustig zugleich. Auch wie sie miteinander kämpfen und harren, sich dann wieder dem Abenteuer und sich selbst stellen, hat etwas sehr Kraft- und Hoffnungsvolles in sich. Diese unwahrscheinliche Frauen-Freundschaft, die beiden Flügel, Mut und Eigenständigkeit verleiht, aus dem grauen London in eine üppige Südsee-Landschaft auf Expedition und Pilgerreise zu segeln und sich dem Leben zu stellen. Nicht alles an bunten Szenen und überraschenden Wendungen in diesem Roman ist realistisch, aber sehr stimmig und unterhaltsam von Joyce inszeniert.

„Du darfst nie wieder aufgeben. (...) Was uns zugestoßen ist, macht nicht das aus, was wir sind. Wir können sein, was wir sein möchten.“

Bewertung vom 27.12.2020
Annette, ein Heldinnenepos
Weber, Anne

Annette, ein Heldinnenepos


ausgezeichnet

Ein Leben für die Gerechtigkeit

Ein ungewöhnlich experimentierfreudiger und gelungener Roman über eine noch außergewöhnlichere Frau – Anne Weber hat der Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir ein geschriebenes Denkmal voller Originalität und sprachlich einzigartiger Finessen gewidmet; ein fast schon gesungenes, modernes und rhythmisches Epos ohne Mystifizierung oder politisch-moralischem Zeigefinger und mit viel subtilem Humor sowie umwerfenden Sprachbildern.

Mit 16 tritt die in einem bretonischen Fischerdörfchen geborene Anne, genannt Annette, in die Résistance ein, versteckt und rettet jüdische Kinder vor den Nationalsozialisten in Frankreich, wird Kommunistin und in den 50er-Jahren Kofferträgerin der algerischen Befreiungsbewegung FLN. Getrieben im Einsatz für eine gerechte, freie und gleiche Welt, muss die gelernte Neurophysiologin und Ehefrau auch ihre drei Kinder hinter sich lassen – sie wird zu einer 10-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt und lebt nach der Flucht im Exil.

Anne Weber erzählt Annettes bewegende und spannende Biografie mit großartiger Erzählkunst abseits des Gängigen in melodischen Versen und mit vielen sprachlichen Spielereien auf hohem Niveau – und Sprecherin Christina Puciata setzt der großen Kunst mit ihrer Intonation und dem präzisen Einsatz ihrer zauberhaften Stimme noch eins drauf. Es ist ein Vergnügen, den Lebenspassagen Annettes, eingebettet in großen historischen Weltereignissen in Versform zu lauschen – Puciata spricht als Eposerzählerin die Zuhörer gewitzt an und nimmt sie sogartig mit auf eine biografische Reise, jeder Vers, französischer Ausdruck oder eingeschobene Zitate von Camus treffsicher betont. Grausame Gräueltaten gewinnen durch eine feine, subtile Ironie an Distanziertheit und in den kleinen Pausen kann der Hörer in Annettes Innenleben, Gedankenwelt und Zwiegespräche voller Poesie tauchen.

Anne Weber hat mit „Annette, ein Heldinnenepos“ trotz heldenhafter und entschlossener Taten keine Hagiografie geschaffen, sondern den außergewöhnlichen Lebensweg einer Frau erzählt, der auch Freiraum zum kritischen Hinterfragen lässt - zahlreiche unschuldige Opfer gehen beispielsweise auf das Konto der FLN.

Ein hochwertiger Hörgenuss mit ergreifender Stimme und Sprache - von Anfang bis zum Ende!

Bewertung vom 17.12.2020
Bären füttern verboten
Elliott, Rachel

Bären füttern verboten


sehr gut

Dem Leben neu begegnen
Es gibt Traumata, die brauchen eine längere Anlaufzeit und besondere Menschen, um zu heilen. Freerunnerin und Cartoonistin Sydney Smith gibt sich schon jahrzehntelang unterbewusst die Schuld am Tod ihrer Mutter – und hat bisher den Unglücks- und Urlaubsort St. Ives gemieden. Auch der Vater und der Bruder leiden noch an dem Tod der geliebten Mutter. An ihrem 47. Geburtstag (an Geburtstagen möchte sie immer alleine sein, zum Leidwesen ihrer Lebensgefährtin Ruth) springt sie über ihren Schatten und über die Dächer der südenglischen Küstenstadt St. Ives – sie stellt sich dem Ort ihrer schmerzvollen Vergangenheit. Mit ihren waghalsigen Freerunning-Einlagen inklusive einem Absturz im Städtchen erweckt sie das Aufsehen der Bewohner und freundet sich mit einigen intensiv an.

Die britische Autorin und Psychotherapeutin Rachel Elliott lässt in ihrem humorvollen und subtilen Roman viele skurrile Figuren in chronologisch wechselnden Perspektiven miteinfließen – obwohl es um sehr schmerzvolle Themen wie Tod, Trauer und Loslassen geht, wird es durch die vielen bunten Charaktere, die dem Leser sofort ans Herz wachsen, nie traurig trotz melancholischer Grundstimmung. Jeder von ihnen hat sein Päckchen zu tragen, das die Autorin psychologisch tiefgründig sowie liebevoll auslotet und jedem seine Eigenwilligkeit eingesteht. Gerade dass die Menschen etwas abseits der gesellschaftlichen Norm leben, macht sie alle so seelenwärmend und sympathisch. Denn was ist schon normal?

Viele feinfühlige und originelle Sichtweisen wie die eines Hundes oder Notizblocks umkreisen die Protagonistin Sydney und bilden am Ende ein großes, verwobenes Ganzes, in dem unterschiedlichste Lebenslinien zusammengeführt werden.

Am Ende des berührenden, bildgewaltigen und multiperspektivischen Romans hat sich für Sydney und einige ihrer Wegbegleiter das Leben verändert – sie konnten Dämonen aus der Vergangenheit hinter sich lassen, indem sie erkannt haben, dass der Sinn des Lebens eine Gemeinschaft ist.

Äußerst liebenswert sind auch die witzigen und fantasievollen Überschriften wie „Es tut gut, im Dunkeln das Meer zu hören“ oder „Es könnte mich überfordern“ und die vor schönen Sprachbildern und Wortspielereien gesäumte Sprache der Autorin.
Ein authentisches und unkonventionelles Buch, das Mut und Hoffnung macht, sich so anzunehmen wie man ist, wieder Nähe zuzulassen und zu erkennen, was wirklich wichtig ist im Leben. Hoffentlich findet es ein breites Publikum.

„Sie findet es bemerkenswert, dass jemand, mit dem man seit Jahren verbandelt ist, einem wie ein Fremder vorkommen kann, während ein Fremder, dem man erst vor wenigen Tagen kennengelernt hat, einem das Gefühl geben kann, in der Welt zu Hause und nicht nur ihm, sonder auch allen anderen näher zu sein.“ (S. 265)

Bewertung vom 19.11.2020
Kreuzberg Blues / Georg Dengler Bd.10
Schorlau, Wolfgang

Kreuzberg Blues / Georg Dengler Bd.10


sehr gut

Brisant-gefährlicher Häuserkampf
Im zehnten Dengler-Fall nimmt Wolfgang Schorlau wieder hochaktuelle und brisante Schieflagen in unserer Gesellschaft auf: den Kampf ums bezahlbare Wohnen innerhalb korrupter Immobilienunternehmen. Und dann holen Georg Dengler und Olga auch noch das Corona-Virus, rechtspopulistische Machenschaften, politische Korruption, Kleinkriminelle und Verschwörungstheoretiker ein. Die Gefahr kommt aus allen erdenklichen Richtungen.

Hackerin Olga wird von ihrer Freundin aus Berlin-Kreuzberg angerufen: eine hochaggressive Ratte hat ihrer Tochter in der Wohnung die Fingerkuppe abgebissen. Schnell wird klar: die Ratte war nicht normal und wurde extra ausgesetzt, denn der Wohnblock soll entmietet werden – die Fäden hält der Bauunternehmer Kröger in der Hand. Olga und Dengler reisen an und Georg heftet sich als verdeckter Ermittler an Kröger, getarnt mit einem Job.

Schnell spitzt sich die Gefahrenlage bei den Ermittlungen im Berliner Häuserkampf ernsthaft zu, die kurzen Kapitel wechseln rasant die Handlungsorte, denn es tauchen verschiedene Interessenslager und so einige Psychopathen auf. Schorlau geht bei seinen Recherchen ins Detail, mischt harte reelle Fakten mit fiktiven Elementen, erläutert Hintergründe und baut Charaktere detailreich auf – so manches mal schwankt der Leser zwischen Sachbuch und knallhartem Krimi. Aber es bleibt immer sehr spannend und brisant, auch wenn manches zu lehrerhaft an den Leser herangetragen wird und der politische Krimi insgesamt an verschiedenen Themen zu überfrachtet scheint.

Fazit: Ein hochaktueller Krimi mit reellen Fakten rund um Gentrifizierung und Häuserkampf mit viel Berliner Flair. Ein etwas weniger erhobener Zeigefinger und zwei Randthemen weniger, hätten den Plot für mich noch runder gemacht. Trotzdem sehr lesenswert und filmisch inszenierte Top-Unterhaltung, die unter die Haut geht.

Bewertung vom 28.10.2020
Das Buch eines Sommers
Kast, Bas

Das Buch eines Sommers


sehr gut

Der Endlichkeit bewusst werden
Der junge Familienvater Nicolas steckt im Hamsterrad und in der Rush Hour seines Arbeitsalltags. Nach dem Tod seines Vaters hat er seine Bedürfnisse nach Schriftstellertum abgehakt und das Pharmazieunternehmen übernommen. Das Methusalem-Projekt soll menschliches Altern verzögern, zieht aber auch mit einer 60-Stunden-Woche jegliche Energie aus Nicolas. Er entfremdet sich zusehends von seiner Frau Valerie und dem kleinen Julian.

Als sein Lieblingsmensch und philosophischer „Spinner“-Onkel Valentin stirbt und ihm die Villa im Süden vererbt, wird sich Nicolas Leben ändern. Er denkt zurück an den Sommer nach dem Abitur, den er mit großem Liebeskummer und Schmerz mit Valentin auf seinem Anwesen verbracht hat. Der Onkel, selbst Schriftsteller, hat Nicolas als ganzen Menschen wahrgenommen, inklusive seiner Gefühle und Herzenswünsche. Valentin der Lebenskünstler mit viel Sprezzatura, der mit seiner "Christopher"-Reihe mit Lebensweisheiten Erfolge feiern konnte und die Ratschläge über den Tod hinaus für seinen Neffen bewahren wollte.

Nicolas organisiert seine Beerdigung und fährt mit der Familie zur Villa in den Süden. Noch fällt es ihm schwer, sich von seiner Arbeit gedanklich zu lösen oder sich auf die Bedürfnisse anderer einzulassen – bis ihm eine Gestalt im Traum die Augen öffnet: Hinter einer Wand zur Geheimbibliothek stößt er auf Christopher am Klavier – die Romanfigur und zugleich ein Alter Ego Valentins. Er klärt ihm auf, sie führen leicht philosophische Gespräche über den inneren Kern des Wesens und über die Endlichkeit des Lebens, der wir alle ins Auge blicken sollten, um den Augenblick im Jetzt wahrnehmen und genießen zu können. Und dass wir uns von allerhand indoktrinierten Idealen im Kopf befreien müssen, um auf unseren Kern zu stoßen, der uns leitet.

„Schließlich müssen wir uns bei diesem Blick nach innen durch das Dickicht all jener Ideale kämpfen, die sich im Laufe des Lebens in uns eingenistet haben. Wir müssen uns gewissermaßen durch die Ideale in unserem Kopf hindurcharbeiten, um bis zu unserem wahren Kern vorzudringen.“

Nicolas lenkt um – er beginnt, sich Notizen zu machen, Geschichten zu erfinden und vor allem, seine Familie wieder wirklich wahrzunehmen. Sie alle genießen die Zeit in der Villa, Nicolas macht sich in der Firma den Rücken frei und er scheint, einen Ausweg aus dem Hamsterrad gefunden zu haben. Alles etwas vorhersehbar und mit einem recht glatten Happy End.

„Das Buch eines Sommers“ gibt Anregungen, den eigenen Weg zu überdenken und eventuell umzulenken – und ist federleicht und flüssig geschrieben, ohne Schnörkel oder übergreifendem Tiefgang. Bas Kast schreibt aus der Ich-Perspektive und vielleicht stecken biografische Elemente in seinem Buch. Die philosophische Ansätze sind ebenso leicht und hat man auch schon gehört. Trotzdem hinterlässt der Roman ein positives Allgemeingefühl beim Leser und regt zum weiteren Nachdenken an. Mit welchen Idealen haben wir unseren wahren Kern überdeckt und wie können wir ihn wieder aufdecken? Bin ich meiner Endlichkeit bewusst?

Antworten muss der Leser selbst finden oder wie es der Autor ausdrückt: „Das Buch ist ein Angebot, in den Dialog mit sich selbst zu kommen: Was will ich wirklich?“ Eine leichte, schnell zu lesende Lektüre, die zwar nicht lange nachhallt, aber kalte Winterabende mit Wärme füllt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.10.2020
Die Krieger / Nick Marzek ermittelt Bd.1
Maurer, Martin

Die Krieger / Nick Marzek ermittelt Bd.1


sehr gut

Ein ungleiches Ermittlerteam
Nach dem Tod seiner Frau fällt Kommissar Nick Marzek in eine Lebenskrise und lässt sich von Berlin in das Münchner Morddezernat versetzen. Doch 1984 ist es mit der erhofften bayerischen Gemütlichkeit vorbei, denn ein brutaler Brandanschlag auf die Diskothek Liverpool erschüttert die Stadt. Was anfangs noch nach Revierkämpfen und Bandenkriminalität mit Balkan-Machenschaften im Rotlichtmilieu aussieht, entpuppt sich nach einem italienischen Bekennerschreiben als ein brisanter Fall mit politischer Schlagkraft, denn die fanatische und terroristische Gruppe LUDWIG bekennt sich zu dem Anschlag.

In „Die Krieger“ schickt Martin Maurer den neuen Ermittler Nick nun nach in Italien, wo das Terrornetzwerk die Menschen in Atem hält und schon mehrere bestialische Morde zu verbuchen hat. Zusammen mit der Putzfrau Graziella, die ad hoc als Übersetzerin einspringt, versucht Marzek in Italien das Puzzle der LUDWIG-Gruppe zusammenzufügen. Das ungleiche Ermittlerpaar hat anfängliche Schwierigkeiten miteinander, doch Graziella entpuppt sich als kluge und vor allem ortsnahe Terrainführerin und die beiden manövrieren sich durch Akten, Zeugenaussagen und Ermittlungen in Norditalien – bis zum spannenden Showdown.

„Die Krieger“ ist ein atmosphärischer, klug durchdachter Thriller, der wahre Begebenheiten um die Gruppe LUDWIG mit Fiktionalem ausschmückt und dadurch wichtige Zeitgeschichte wieder zum Leben erweckt. Der ernste Kern wird mit etwas Humor aufgelockert und durch die verschiedenen Handlungsstränge und das 80er-Jahre-Flair nie langweilig. Nach und nach deckt er das kranke Weltbild der radikalen Gruppe auf, die Menschen ermorden, die von ihrer „Weltanschauung“ abschweifen - aber auch mit offenem Strang, denn nicht alles kann - wie auch in der Realität - gelöst werden. Martin Maurer spricht im Nachwort von seinem Anlass für den Thriller - waren die Täter Abel und Furlan alleine oder stand hinter ihnen ein komplexes Netzwerk, das bis heute im Dunkeln liegt? Das ist erschreckend und zugleich von aktueller Brisanz. Mich hat "Die Krieger" dazu bewegt, mehr über die LUDWIG-Machenschaften zu recherchieren und hoffentlich gibt es eine Fortsetzung rund um Nick Marzek.

„Vorausgesetzt, es gibt den Serienmörder LUDWIG wirklich, also eine oder mehrere Personen aus Fleisch und Blut, die sowohl sämtliche Morde begangen als auch die Bekennschreiben verfasst haben, wie müssen wir uns solche Täter dann vorstellen?“ S. 270

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.10.2020
Uri Buri - meine Küche
Jeremias, Uri;Mangold, Matthias F.

Uri Buri - meine Küche


sehr gut

Menschen verbinden & verwöhnen
Dies ist mehr als eine Rezeptesammlung von Israels legendärem Fischkoch Uri Jeremias - "Meine Küche" ist eine Hommage an die Weltoffenheit, der Koexistenz von Kulturen und an die kulinarischen Schätze, die das Meer uns bietet. Niemand kommt in der Altstadt Akko an seinem weit über die Landesgrenzen berühmten Restaurant vorbei - hier verbindet der Genussmensch Juden mit Arabern und gibt jungen Menschen ohne Ausbildung, aber mit leuchtenden Augen eine Chance in seiner Küche - mit Erfolg. Das absolut hochwertige Kochbuch widmet dem sympathischen und hyperaktiven Uri fast 60 Seiten über seine faszinierende Welt - und die lohnen sich, denn Uri hat schon einiges in seinem Leben erlebt und auf die Beine gestellt. Hervorzuheben sind auf den knapp 290 Seiten die wunderschönen Fotografien von Vivi D'Angelo - hochwertig, mediterran, stimmig im Bildaufbau, ein optischer Hochgenuss.

Nach dem umfangreichen Küchenpraxisteil über das Kaufen von frischem Fisch und Seafood, die Verarbeitung und die Grundlagen der verschiedenen Zubereitungsarten kommt der große Teil von Uris Rezepten. Uris Kernkonzept lautet: die Gerichte schmecken Uri selbst, alles auf dem Teller mit maximal neun superfrischen Zutaten ist essbar, die Teller sind flach und ästhetisch arrangiert sowie nicht überladen. Anstatt zuviel Salz wird viel mit Gewürzen gearbeitet.

Neben den fantastischen Fischgerichten kommen auch Beilagen und Vor-/Nachspeisen nicht zu kurz, was mich sehr gefreut hat - klassischer Hummus, Falafel, Spinatsalat, gelber Reis, Bruschetta-Variationen, Blumenkohl-Taboulé, Pilzcreme- sowie Kiwisuppe etc. Sehr ansprechend sind bei allen Rezepten die kurzen Einleitungssätze und Erläuterungen zur Tradition und Tipps&Tricks zum Gericht.

Fazit: Ein fesselnd schönes und authentisches Kochbuch eines außergewöhnlichen Menschens, dem die Liebe zum Beruf, der Respekt vor Menschen und Speisen auf jeder Seite anzusehen sind. Eine gelunge Expedition in ein Land, in kulinarische Genüsse und in Uris vielseitige und liebenswürdige Persönlichkeit. Falls ich mal in Akko sein sollte, wäre es mir ein Vergnügen, den Menschen und eines der besten Fisch-Restaurants Israels kennenzulernen!

Bewertung vom 12.10.2020
Capitana
Love, Melissa Scrivner

Capitana


sehr gut

Harte Anführerin mit Grips
Lola Vasquez ist zwar klein, aber sie zeigt skrupellose Größe, wenn es darum geht, ihr aufgebautes Drogengeschäft im südlichen Los Angeles am Laufen zu halten. Als Anführerin der Crenshaw Six-Bande ist sie Herrin über das florierende Heroingeschäft in ihrem Bezirk - eine Einnahme, die ihr und ihrer Adoptivtocher Lucy ein sorgenfreies Leben sichert. Und sie hat mit der Staatsanwältin Andrea eine neue Partnerin im Drogenhandel gefunden. Lola kümmert sich um ihre Nachbarn und hat ein Herz für misshandelte Frauen und Kinder - eine sensible Geste, die aus ihrer schwierigen Kindheit stammt. Doch gerade eine dieser Hilfsaktionen zettelt einen großen Bandenkrieg an, denn unwissend hat sie sich mit einem mexikanischen Kartell angelegt. Nun gehts für Lola um alles, was sie sich aufgebaut hat und um vieles mehr - denn Verrat im engsten Umfeld liegt in der Luft.

Melissa Scrivner Love hat eine hartgesottene, treibende und originelle Fortsetzung ihrer Narco-Reihe rund um die klug-nervöse Lola entworfen - dichte Story, prägnante Dialoge, harte Sprache und ein rasantes Tempo bis zum obligatorischen Showdown. Die Tochter eines Polizisten und einer Gerichtsstenografin wechselt in "Capitana" gekonnt die Perspektive, denn der Leser findet eine Frau symphatisch, die eine Verbrecherin ist und die wir eigentlich aus der Strafverfolgungsseite sehen sollten. Mit Härte, aber auch mit Mitgefühl und Verstand setzt sich Lola in einer von Männern und Machos, in einer von sozialer Ungleichheit und extremen Gewalt dominierten Welt durch. Als Leser muss man in dieser wendungsreichen und düsteren Welt voller Machtkämpfe immer aufmerksam sein - es lohnt sich!

"Hatte sie in dieser eingebildeten Zukunft Schüsse gehört, oder hatte ihr Wunschbild das Viertel in eine Gegend verwandelt, in dem Kinder vor Vergnügen schrien statt vor Schmerz, in dem ihr Blut aus Kratzern und Schrammen vom Spielen stammte und die Narben der Kindheit nicht von Gewalt und Missbrauch herrührten?" S. 108

Bewertung vom 10.09.2020
Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
Ferrante, Elena

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen


sehr gut

Suche nach Wahrheit und Identität
„Sie kommt nun ganz nach Vittoria.“ - Ein Satz, der die rückblickende Ich-Erzählerin Giovanna mit 13 Jahren, mitten in der Pubertät, in eine Identitätskrise stürzt. Ansonsten wohlbehütet in einer intellektuellen Lehrerfamilie in Neapels besserem und höchsten Viertel Rione Alto aufgewachsen, möchte sie nun wissen, wie diese verstoßene Schwester Vittoria ihres Vaters lebt. Diese ist derb, sagt was sie denkt, lebt wie sie will und arbeitet als Putzfrau im niederen Viertel Neapels – wo sich einst auch Giovannas Vater herausgearbeitet hat und ins Bildungsbürgertum aufgestiegen ist.
Giovanna steht nicht zu ihrem sich verändernden Körper und möchte nicht so werden wie ihre scheinheilige Familie. Sie sucht Vittoria auf, die in ihrer Familie als Inbegriff von Verdorbenheit gilt und nimmt bei den Aufeinandertreffen immer mehr Eigenarten von ihr an. Sie entdeckt eine Welt mit Extrem-Emotionen, Sex, Dialekt und Anzüglichkeit. Aber auch einer mit mystischen wie religiösen Erscheinungen. Giovanna pendelt nun zwischen ihrer Familie, in der es viel Scheinmoral und Lügen gibt (der Vater geht fremd) und der schmutzigen Gegend unterhalb des Vomero. Vittoria ist hart und dramatisch, erzählt ihr vom wilden Sex. Giovanna ist fasziniert, analysiert anhand von Tonlagen ihre Gegenüber und macht eigene sexuelle Erfahrungen, die nicht immer gewaltfrei sind. Später wird sie in einem jungen Theologen eine neue Bezugsperson und Liebschaft finden und die Tante hinter sich lassen. Ihre Familie dagegen driftet auseinander, die schöne Fassade des Bildungsbürgertums blättert langsam ab, aber um die vielen Lügen und Abgründe herum versucht jeder, seine Identität und sein Leben als das Wahre herauszustellen.

So hat die Bestseller-Autorin Elena Ferrante gleich mehrere Themen in ihrem neuen Werk clever und sprachgewaltig verstrickt: das Zerbrechen einer Familienfassade, eine feinfühlige und intensive „Coming-of-Age“ einer Frau und die gesellschaftlichen Schichtenunterschiede mit ihren jeweiligen Mustern, Wahrheiten und Lügen. Sehr schön sind viele literarische Bezüge eingewoben – Giovanna liest viel und lässt ihre Gedanken aus den Büchern in das Setting miteinfließen und reflektiert sich dabei ständig selbst, lotet ihre Grenzen aus. Kraftvoll, sinnlich und ehrlich lässt uns Ferrante tief in die Gefühle und Entwicklungen einer Frau gleiten – mit scharfer psychologischer Beobachtung von Mensch und angeblicher Moral. Hoffentlich gibt es eine Fortsetzung.