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MarcoL
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Füssen

Bewertungen

Insgesamt 203 Bewertungen
Bewertung vom 27.10.2023
One for the Rock
Major, Kevin

One for the Rock


ausgezeichnet

Neufundländische Idylle und ein perfider Mord. Dazu etwas Whiskykunde!

Sebastian Synard lebt in Neufundland. Er mag seine Heimat, liebt Bücher und Whisky über alles. Er betreibt sogar einen Blog, der zu einer Buchbesprechung gleich den passenden Whisky anpreist. Seinen Fans gefällt es; - und nach dem Lesen dieses Buches bin ich nun ebenfalls bestens darüber informiert. Aber diese „Passion“ ist nur eine Randnotiz im Krimi. Denn es gibt eine Leiche. Allerdings ist man sich nicht so schlüssig, ob es vielleicht doch ein Unfall war. Erst als Synard selbst etwas auf den Pelz gerückt wird, scheint die Sachlage klarer. Und er wird irgendwie Ermittler wider Willen, darf Opfer und Köder gleichzeitig spielen. Die bittere Note dabei: Inspektor Olsen ist der neue Partner seiner Ex-Frau. Könnte bessere Konstellationen geben. Auch Synards Sohn ist nicht sehr begeistert von diesem Olsen, und will am liebsten bei Synard einziehen. Nachdem das nicht so einfach ist, und sein Sohn einen Hund möchte, natürlich entgegen den Interessen dessen Mutter … und das Geld knapp ist … und sein Sightseeing – Unternehmen erst gerade anläuft …
Denn gerade während einer geführten Tour mit einigen teilweise schon betagteren Touristen passierte eben jenes Unglück, das zuerst weder als Eigen- noch Fremdverschulden betitelt werden konnte. Und so schlitterte Synard hinein in die Geschichte.
Es ist ein amüsanter, kurzweiliger Krimi, hält die ein oder andere Überraschung parat. Als Leser ist man sich nie sicher, wohin die Reise führen wird. Zudem wird man mitgenommen auf Wanderungen an die Küste Neufundlands oder ein paar Sehenswürdigkeiten im Hauptort. Und dann eben immer wieder etwas Whiskykunde …
Die Sprache ist lässig locker, für meinen Geschmack zu Beginn etwas zu derb, aber das legte sich gleich mal. So kann ich diesen Krimi gerne als kurzweilige Lektüre empfehlen, perfekt zum Entspannen und den Tag ausklingen zu lassen. Man muss auch nicht unbedingt ein Freund der destillierten Getreidemaische sein, um das Buch zu mögen.
Und noch was: dieser Roman ist der Auftakt zu einer Serie rund um den Helden mit seinem Tourismusunternehmen „On the Rock(s)“.

Bewertung vom 24.10.2023
Die Erinnerungsfotografen
Hiiragi, Sanaka

Die Erinnerungsfotografen


ausgezeichnet

Herr Hirasaka betreibt ein ganz besonderes Foto-Atelier. Die Personen, welche zu ihm kommen, tun das nicht freiwillig. Ihr Schicksal weht sie zu ihm, denn sie stehen an der Schwelle zum Tod – sie sind quasi in der Welt zwischen Diesseits und Jenseits. Sie sollen dort Fotos aussuchen. Fotos, von jedem Tag ihres Lebens. Und nur ein Foto pro Lebensjahr dürfen sie dann auswählen, damit Herr Hirasaka diese dann in eine Drehlaterne montieren kann.
So zieht dann das Leben an den Verstorbenen vorbei, und sie dürfen „gehen“. Ein schöne Idee, finde ich.
Manchmal sind Fotos unscharf, abgegriffen, und es ist nur sehr schwer erkennbar, was sie darstellen sollen. In diesem Fall dürfen sich die Atelierbesucher eine Kamera aussuchen, und Hirasaka verbringt mit ihnen jenen einen Tag nochmals, damit sie im richtigen Moment das Foto machen können.
Sanaka Hiiragi erzählt die Geschichten von drei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein können. Diese plaudern dann an jenem Tag von sich, lassen uns an ihrem Leben teilhaben.
Leicht, typisch japanisch würde ich beinahe sagen, kommen die Episoden daher. Sie erzählen von einer alten Dame nach einem erfüllten Leben als Kindergärtnerin. Oder von einem Ganoven, der es mit dem Gesetz nicht immer sehr genau nahm, dennoch einen gewissen Rest an Anstand bewahrt hatte. Er war nicht sonderlich über seinen gewaltsamen Tod überrascht.
Die dritte Person war ein Kind, ein Mädchen, welches alles andere als ein schönes Leben und liebevolle Eltern hatte. Während es ihm Fotostudie war, passierte noch einiges (mehr wird nicht verraten).
Über Herrn Hirasaka erfahren wir so gut wie gar nichts. Denn er selbst hatte keine Erinnerungen an sein früheres Leben. Es war gerade so, als ob diese allesamt ausgelöscht wurden.
Erst am Ende dieses bezaubernden Romans erfahren wir mehr über sein Schicksal, welches in gewisser Weise mit dem armen Mädchen zu tun hatte.
Der Sprachstil ist sehr angenehm, sanft, fast schon nüchtern. Und dennoch verströmt er einen angenehmen Leseeindruck, wie es für die japanische Literatur so typisch ist, frei von überflüssigen Einzelheiten, dennoch auf eine gewisse Art und Weise poetisch. Auf diesen nicht mal 180 Seiten kommt vieles zur Sprache, Eindrücke der japanischen Lebensart, die Nöte nach dem großen Krieg, oder Einblicke in die Bandenkriminalität.
Die Zeilen plätschern dahin, nehmen einen mit in diese Welten, und am Ende wünscht man sich, es könne doch noch mehr solche Episoden geben.
Sehr gerne gebe ich für diesen hinreißenden Roman eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 22.10.2023
Albanische Schwestern
Arapi, Lindita

Albanische Schwestern


ausgezeichnet

Eine schonungsloser Roman über die Unterdrückung der Frauen in Albanien

S.26: „In einem gottverlassenen Nest, wo zu dieser Zeit der einzige Wandel das Knospen und Welken der Blätter war, je nach Jahreszeit. Wo es sich für junge Frauen nicht gehörte, laut zu lachen, wo die Geburt eines Mädchens dessen Schicksal als minderwertiges Wesen besiegelte, ein Bewusstsein, das mit der Muttermilch eingesogen wurde und fortbestand als Existenz unter der Allmacht der Angst.“

Dies ist eines jener versteckten Schätze in Buchform, die wesentlich mehr Aufmerksamkeit bekommen müssten.
Lindita Arapi, eine der bekanntesten Albanischen Autorinnen, erzählt über das Leben von Alba, einer jungen Frau aus einer Provinzstadt in Albanien. Sie geht schonungslos mit den bestehenden Strukturen von blinder Parteitreue zum Kommunismus und dem mehr als vorherrschenden Patriarchat ins Gericht. Ungeschönt, erbarmungslos wirft sie uns in den albanischen Alltag, beherrscht von großer Armut und dem unsäglichen System. Selbst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bleibt ein Teil der Bevölkerung in der Indoktrination hängen.
Alba und ihre Schwester, welche vor dem „Mauerfall“ aufwuchsen, erfahren am eigenen Leib, wie es ist, sich auch nur im Ansatz gewissen Regeln zu widersetzen. Die Liebe der Eltern gilt dem Staat, aber nicht dem Nachwuchs, vor allem, wenn es nur Töchter sind. Für Pranvera, Albas ältere Schwester, war es noch ein wenig leichter. Aber Alba bekam immer zu spüren, wie unerwünscht sie war, weil sie nicht als der erhoffte Sohn das Licht der Welt erblickt hatte.
Unschöne Szenen (Triggerwarnung: Darstellung von körperlicher und seelischer Gewalt) aus ihrer Kindheit und Jugend hatten Alba traumatisiert.
S.103: „Prügel waren eine Erziehungsmethode. Wer dich liebt, schlägt dich, war die Rechtfertigung. Damit du als Mädchen noch braver wirst.“
Aus diesen inneren Kämpfen kam sie auch später nicht heraus. Sie verließ zwar ihre Heimat, ging nach Wien und heiratete. Aber die Schatten der Vergangenheit krochen immer wieder hervor, dimmten ihr eigenes Licht derart, dass sie sich immer mehr und mehr zurückzog und von ihrem Ehemann entfernte.
Ihr einziger Halt war die starke Verbindung zu ihrer Schwester. Das war in Albanien so, und auch, als Alba im Westen war. Dennoch drifteten irgendwann die Ansichten der beiden auseinander.
Als Albas Vater starb, ging sie zurück nach Albanien. Sie fand nur mehr alte Menschen und Verwahrlosung wieder, vom Leben zerstört.
Der Roman ist eine knallharte Abrechnung mit dem Regime, dem kommunistischen Fanatismus und vor allem dem vorherrschenden Patriarchat. Die Sprache ist geradlinig, die Szenen kommen in Rückblenden daher, und machen es einfacher, in Albas Welt einzutauchen. Die geballte Ladung an den frauenfeindlichen Strukturen kommen so Schritt für Schritt daher. Nichts wird beschönigt, ganz im Gegenteil.
Für mich war die Lektüre ein ergreifendes Erlebnis. Bisher wusste ich nicht viel von dem Land, und so nimmt Alba die Leser:Innen an die Hand und führt sie durch die unbarmherzige Geschichte einer der letzten Bastionen des europäischen Kommunismus.
Absolute Leseempfehlung für diesen tief schürfenden Roman – traut euch, kauft das Buch und lest es. Es lohnt sich allemal.
Was ich noch anmerken möchte: das Werk wurde durch Traduki gefördert. Ohne dieses Netzwerk wäre die literarische Vielfalt aus dem südosteuropäischen Raum wohl ziemlich eingeschränkt. Besonders Indie-Verlage schaffen es so, diese schriftstellerischen Kostbarkeiten uns näher zu bringen, und leisten aus meiner Sicht einen wertvollen kulturellen Beitrag.

Bewertung vom 08.10.2023
Birobidschan
Dotan-Dreyfus, Tomer

Birobidschan


ausgezeichnet

Eine eigene Welt, fern ab, und dennoch nah. Erzähl- und Fabulierkunst vom Feinsten!

Birobidschan, ein jüdisch-sozialistisches Schtetl in Sibirien an der Grenze zu China. Die Stadt in der Jüdisch Autonomen Oblast wurde vor ca. 100 Jahren gegründet, von Stalin zu Stadt erhoben, ein Versuch, wie es damals hieß.
Scheinbar von der Zeit vergessen birgt sie einen ganz eigenen Kosmos aus ersten Einwohnern, Zugezogenen oder Vertriebenen. Die geschichtlichen Hintergründe und historischen Begebenheit lässt der Autor gekonnt außen vor. Es dreht sich vielmehr um die kleine Welt, um ein paar Menschen, die dieses kleine Universum auf ihre eigene Art und Weise mit Leben füllen. Und so setzt der Autor gekonnt das Experiment in seiner Art fort, gestaltet aus der Vergangenheit die Zukunft (die Realität war alles andere als schön, wer Interesse hat, das Netz bietet genug Infos hierfür).
Es fühlt sich an, als wäre die Stadt (heute ca. 75000 Einwohner) aus der Zeit gefallen, und befindet sich in einer märchenhaften Blase. Aber die Geister ruhen nicht, treiben um, zeigen sich in zwei realen, mit Geheimnissen umgebenden Männern, die plötzlich erscheinen. Sie geben nur an, sich für Kragenbären zu interessieren, welche es wohl nur in China gibt. Oder ein kleines Mädchen, stumm, welches auftaucht wie ein Geist, und Menschen Dinge tun lässt, aus Verantwortung geboren, entgegen jeder Räson.
Rachel und Alex kennen sich seit Kindheitstagen. Sind zusammen, irgendwie, doch die Blick über den Tellerrand gibt es noch, wenn Rachel mit Joel, Alex' Bruder, …
Was bedeuted Liebe? Was bedeuted Zeit? Wenn doch eh alles vergänglich ist.
Wölfe tauchen auf an Dmitrijs Horizont, weshalb er auch ein Gewehr besitzt, obwohl es weit und breit keine Wölfe gibt. Aber sie heulen. Metapherreich.
Der liebenswerte Boris, ein Urgestein in der Stadt, wird tot aufgefunden. Von Bären zerfetzt oder durch einen Schuss getötet?
Erinnerung fliegen durch die Zeit der Erzählung, mal im hier, mal im damals. Die Sehnsucht nach Flucht, vor der Stadt, vor sich selbst. Vor den eigenen Depressionen wie sie Greogory hat, und sich mit Sascha auf einen Road-Trip begibt.
Die Ereignisse verschwimmen rund um die Protagonist:Innen, aber ihre Leben und Handlungen bleiben etwas Greifbares in dieser sibirischen Oblast, man möchte noch mehr von ihnen erfahren, Teil ihrer Welt werden, in welcher sich Realität und Mystik die Hand geben.
Es mag alles ein wenig verwirrend klingen, aber die große erzählerische Leistung des Autors besteht darin, stets den Überblick zu haben und seine Leser:Innen gekonnt an der Hand durch den Roman zu führen. Er erzählt uns von einer anderen, unbekannten Welt, welche voll ist mit Menschlichkeit in all ihren Facetten. Die historischen Hintergründe benötigt es dazu nicht. Esprit und eine Portion Humor runden diesen herrlichen Roman ab, meines Erachtens völlig zurecht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2023.
Ganz große Leseempfehlung für diesen wahren literarischen Genuss.

Bewertung vom 04.10.2023
Südfall
Knöppler, Florian

Südfall


sehr gut

Ein ruhiger, gefühlvoller Roman über schicksalhafte Begegnungen im Jahr 1944

1944 stürzt der britische Soldat Dave über dem Nordfriesischen Wattenmeer ab. Als einziger Überlebender findet er sich von Schlick und Wasser, mitten im Dunkeln, wieder. Das Rauschen scheint näher zu kommen, die Lage von Minute zu Minute aussichtsloser. Er macht sich auf das Schlimmste gefasst, als sich der Nebel lichtet, die Sicht besser wird, und plötzlich eine Frauenstimme ertönt.
Im richtigen Leben ist er Tierarzt, und spricht deutsch. Rettung, so seine Hoffnung. Er hat Glück, trifft auf gute Menschen, und so kann er sich von der Hallig Südfall aus nach Norden durchschlagen, um von Dänemark aus zurück in seine Heimat zu kommen. Ob es gelingt?
Dies ist soweit der grobe Rahmen dieses einfühlsamen Romans. In Wahrheit geht es aber um die Begegnungen, welche Dave auf seiner kleinen Odyssee macht. Die Erzählungen rund um seine Retter:Innen ist der eigentliche Kern dieses Buches.
Sehr detailreich, in einer ruhigen und besonnenen Art versteht es Knöppler, seine handelnden Personen zu zeichnen und uns näher zu bringen.
Anna, die ihm hilft sich zu verstecken, sehnt sich schmerzlich nach ihrem Mann, der an der Front kämpfen muss. Und dennoch erreichen sie Gedanken an eine mögliche Zukunft, was sie ohne ihren Mann später tun würde. Oder der junge Paul, der seinen Weg noch sucht, im Zwiespalt zwischen HJ und seinen eigenen Bedürfnissen. Auf der einen Seite erweckt die Propaganda in ihm eine gewisses Pflichtbewusstsein, auf der anderen Seite erwacht seine empfindsame Seite gegen die Gräuel des Krieges.
Die fünfzehnjährige Cecilie, mitten im Erwachen zu einer Frau, schüchtern mag man meinen, und dennoch aufgeschlossen genug, um ihren Wunsch, zu studieren, auf ihren Lippen trägt.
Letztendlich ist es auch der alte Simon, vom Krebs gezeichnet, den nur noch ein kleines Wunder von seinem letzten Gang, mit dem er sich schon abgefunden hat, retten kann, der sich nahtlos in den Reigen der guten Menschen einfügt..
Diese und andere Personen begegnet Dave, bekommt Hilfe in einer wirklich schlimmen Zeit.
Wie schon erwähnt, die Charaktere sind sehr fein stilisiert. Der ruhige Schreibstil bildet einen Gegenpol zu jener wirren Zeit, selbst die Hektik einer Flucht scheint zwischen den Zeilen ihre Bedeutung zu verlieren.
Manchmal allerdings kommt mir der Roman schon zu „soft“ daher. Die Menschen im kriegsgebeutelten Land scheinen mir manchmal zu unbekümmert, auch dürfte es ihnen an nicht Vielem fehlen. Insofern ist dieser genannte Gegenpol zum Krieg für mein (erstes) Befinden möglicherweise zu sanft gestaltet. Wie ein glatter See, der noch nie von einem Sturm gebeutelt wurde. Und trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, spielt dieser Roman mit der Hoffnung, dass es das Gute in den Menschen gibt (oder geben kann).
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für diesen berührenden Roman.

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Bewertung vom 27.09.2023
Der große Wunsch
Fatah, Sherko

Der große Wunsch


sehr gut

Die Suche eines Mannes nach seiner verschollenen Tochter im Islamischen Staat

Murad ist im im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien. Er streift umher, oft ohne Ziel, schlägt Nächte und Tage tot, nur um auf weitere Informationen zu warten.
Er begab sich von Deutschland aus in das Land seiner Väter. Ein Land, mit dem er abgeschlossen hatte und sich in Deutschland angekommen fühlte. Sein Leben war dennoch nicht erfüllt. Die Ehe zerbrochen, seine Tochter Naima von ihm entfernt. Die Distanz war groß, geographisch wie emotional. Naima hatte sich einem „Bruder“, einem Glaubenskrieger, angeschlossen, wahrscheinlich aus Liebe, und ging nach Syrien. Der Kontakt nach Hause riss komplett ab, und so machte sich Murad auf die Suche nach ihr. Mit Hilfe von Schleusern, die ihn nur spärlich mit Informationen (gegen viel Geld) versorgten, lässt er sich im kurdischen Grenzgebiet nieder. Das Warten wurde zur Qual, die aufgezwungene Untätigkeit zur Nervenprobe. Auf sich allein gestellt reflektierte Murad viel über sich selbst nach. Als die ersten Voice-Mails mit der Stimme einer Frau, welche anscheinend seine Tochter ist, ihn erreichten, begannen Zweifel und Hoffnung einen Kampf in ihm, welcher sprachlich sehr gekonnt den Leser:Innen dargeboten wird.
In diesen Audiofiles erfuhr Murad viel über das Leben dieser Frau in der Syrischen Stadt Rakka, über ihren Alltag, die Kämpfe, Grausamkeiten, den Krieg und den drohenden Angriff auf die Stadt. Weiterhin wurde Murad nur spärlich mit Informationen gefüttert, seine Ungeduld nahezu greifbar, und die Vergangenheit aus der neuen Heimat Deutschland holte ihn ein … besonders als sich sein Freund Aziz meldete …
Es ist ein sehr vielschichtiger Roman, trotz der oftmals sehr überzeichneten Tristesse, den Ausflügen durch das trockene Land, stecken viele Botschaften und Wahrheiten im Text, welche sich manchmal wirklich mühsam erlesen werden müssen. Fatah scheint mit der Ungeduld von Murad zu spielen, verwebt diese derart im Text, dass dieses Gefühlt aus den Zeilen heraus lebendig zu werden scheint.
Es war für mich keine leichte Lektüre, gegen Mitte des Buches war ich dem aufgeben nahe, und nun froh, durchgehalten zu haben. Der Roman hallt nach – und erst Tage nach Beendigung scheint sich vieles zu setzen und der ganze Nebel des Erzählten sich zu lichten und Klarheit zu schaffen. Insofern ist dies eine ganz große Erzählkunst – mensch muss sich nur darüber trauen. Und so bin ich der Meinung, dass dieses Buch sehr wohl seine Berechtigung auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis hat.
Gerne gebe ich (trotz allem) eine Leseempfehlung ab, vor allem für jene, die sich aus der Komfortzone des Lesens herauswagen und mutig und neugierig sind.

Bewertung vom 20.09.2023
Männer töten
Reisinger, Eva

Männer töten


ausgezeichnet

Ein doppeldeutiger Titel für diesen wichtigen, wunderbar feministischen Roman

Der Titel – Ziel bereits vieler Diskussionen – kann sehr wohl, nein, er muss sogar zweideutig verstanden werden. Zum einen ist die Zahl der Femizide und Gewalt an Frauen in Österreich in der EU auf dem tragischen ersten Platz. Zum anderen setzen sich die Frauen in diesem herrlichen Roman zur Wehr … das ist zumindest ein praktisches Mittel zum Zweck. Kann aber dann auch mal etwas kompliziert, wenn nicht sogar problematisch werden. Dennoch: „In Engelhartskirchen (harte Engel? Anm.) gibt es keine Fälle von häuslicher Gewalt, keine Sexualdelikte, keine Frauenmorde [...]“ - und überraschender Weise scheinen Männer immer wieder mal zu verschwinden, und vieles ist in Frauenhand, so z. B. auch die Pfarrei.
Anna Maria, Wienerin, lebt in Berlin, befindet sich in einer toxischen Beziehung mit Friedrich. Der Zufall spült sie ins oberösterreichische Engelhartskirchen zu Hannes. Der betreibt den Hof seiner Eltern, ist Vollblutlandwirt, und die Beziehung der beiden läuft angenehm und harmonisch. So allmählich wird Anna Maria in die weibliche Dorfgemeinschaft eingeführt, manches „Geheimnis“ ihr anvertraut. Und auch gewisse „Praktiken“ bleiben nicht unerwähnt.
Aber die Vergangenheit lässt nicht locker. Ihre besten Freundinnen aus Berlin tauchen auf. Während sich die eine sehr bald auf das Dorfleben einlassen kann, zögert die andere. Als dann Friedrich auch noch auftaucht: „Ja habe die Ehre ...“ Mehr möchte ich nicht verraten.
Das klingt jetzt vielleicht alles nach Dorfidylle, einem feinen ländlichen Leben (und Stoff für eine Bollywoodschmonzette). Doch der Friede ist hart erkämpft – und es gibt immer wieder gewisse Männer, die daran zu rütteln versuchen.
Die Autorin beschreibt die Tatsachen beinhart in ihrem Roman. Gleich zu Beginn gibt es eine Triggerwarnung – denn es würden Männer sterben.

S. 130: „Die Polizei rät Frauen selbstbewusster zu sein, dann würden sie nicht vergewaltigt. Was nach Satire klingt, ist in Österreich viel zu oft Realität.“

Auf diesem Hintergrund baut Reisinger ihren Roman auf. Teils sarkastisch, makaber, doppelzüngig, und mit der gewissen Prise Humor, wie es meines Erachtens nur österreichische Autorinnen beherrschen, huschen wir von Seite zu Seite, fiebern und leiden mit den Protagonistinnen mit. Natürlich ist manches überspitzt dargestellt, aber in Anbetracht der traurigen alltäglichen Realität ist so ein Inhalt mehr als Gebot der Stunde. Die Gesellschaft ist nach wie vor im Würgegriff von alten weißen, sexistischen Männern und deren Patriarchat. Der Roman zeigt dies auf seine besondere Weise auf, so wie auch die Lösung zwar ein Ansatz sein mag, aber vielleicht doch nicht unbedingt nachahmenswert.
Ich bin vom Buch schlichtweg begeistert, inhaltlich wie sprachlich eine wahres Lesehighlight. Da kann mensch nur hoffen, dass es von Eva Reisinger in Zukunft noch vieles zum Lesen gibt.
Absolute und allerhöchste Leseempfehlung und zu recht auf der Shortlist–Debüt des Österreichischen Buchpreises 2023.

Bewertung vom 17.09.2023
Sinkende Sterne
Hettche, Thomas

Sinkende Sterne


sehr gut

Biographie und Phantastik vermengen sich zu einem tiefgründenden Roman über die Kunst des Erzählens

In seinem neuesten Roman entführt uns der Autor in eine Mischwelt aus Autobiographie, Phantastik und gelebte Mythen im Wallis/Schweiz.
Die Eltern des Autors sind verstorben, und er erhält vom Kanton Wallis eine Vorladung. Er reist in den Schweizer Kanton, um die Angelegenheit zu richten, und das Chalet zu verkaufen. Allein die Anreise verwischt sich zu einem kleinen Strudel aus Biographie und Fiktion. Das Wallis ist nur mehr über die Pässe zu erreichen, denn ein mächtiger Felssturz hat die Rhone aufgestaut, den Tunnel und einige Ortschaften geflutet. Er wird von Soldaten mit Maschinengewehren in Empfang genommen, und so nach und nach kristallisiert sich heraus, dass der Karton mit seinen Dörfern zu einer Eigenständigkeit mit einem mächtigen Kastlan (und Bannherr der Sieben Zenden) an der Spitze zurückgekehrt ist. Alte Familienstämme haben wieder das Sagen, und nichts geht ohne die Bischöfin. Viele Orte sind verlassen, oder nur mehr mit einer Fähre zu erreichen.
Im Haus angekommen, überwältigen Hettche seine Kindheitserinnerungen. Und auch die Begegnung mit seiner Freundin Marietta aus Kindestagen nimmt unerwartete Wendungen. So wird aus einem geplanten Verkauf der Wunsch, in diese Welt und Natur, welche in gewissen Maße zu einer Ursprünglichkeit zurück gezwungen wurde, zu bleiben. Er hilft Marietta auf der Alm so gut er kann, aber die Zeit, sein Ultimatum, läuft ab.
Im Prinzip ist das nur ein grober Rahmen, denn der Autor beschäftigt sich sehr viel mit der Literatur. Was kann, soll, und darf der Schreibbetrieb wirklich? Wo liegt auch hier die Essenz, das Wesentliche. Es wird Rilke zitiert, welcher im Wallis seine letzte Ruhestätte fand. Und es folgen viele Streifzüge durch Homers Odyssee, versucht Parallelen zu Sindbads Abenteuer in den Geschichten aus Tausend und einer Nacht zu finden. Es wird ein Strudel aus Hettches Gedankenwelt, und auch die Walliser Sagenwelt mit dem „Zug der Toten Seelen“ finden Einklang in seinen Überlegungen.

S.91: „Die Alpe fällt nur für wenige Monate im Jahr in das Recht der Menschen. Wenn wir im Herbst wieder hinabgehen ins Tal, beziehen Geister die verlassenen Hütten. Im Winter sollte man nicht hier sein. Wer trotzdem hochkommt, kann ihnen begegnen.“

Der Roman überzeugt sprachlich voll, denn das Schreiben beherrscht der Autor. Auf den Inhalt muss man sich tatsächlich sehr einlassen können. Besonders die vielen gedanklichen Einflüsse und Zitate setzen einen wachen Geist während der Lektüre voraus. Aber nichts desto trotz birgt der Roman ein sehr interessantes Lesevergnügen über das Leben im Allgemeinen, die Literatur im Besonderen. Insofern verschwimmen auch hier die Grenzen. In diesem Fall zwischen Roman und Lang-Essay.
Der Satz im Klappentext: „Ein schwebend abgründiger Roman über den Zauber der Literatur“ bringt es auf den Punkt.

Bewertung vom 14.09.2023
Gittersee
Gneuß, Charlotte

Gittersee


ausgezeichnet

ComingofAge in der ehem. DDR – einfühlsam, meisterhaft erzählt

Gittersee, ein Vorort von Dresden, 1976. Die 16-jährige Karin plaudert von sich und ihrer Familie. Das sind Mutter, Vater, die strenge Oma, und das Nesthäckchen – ein Nachzügler, um den sich Karin, so hat es den Anschein, mehr kümmern muss als die Mutter. Die Szenen typisch DDR, die Eltern gehen arbeiten, Karin zur Schule. Es wird geträumt und in der Schule stramm gestanden. Das System rollt.
Karin hat auch ein Privatleben, mit ihrer besten Freundin Marie, die genau weiß, was sie einmal werden will, und auch mit Paul, in den sie verliebt ist. Eines Tages fragt er sie, ob sie „Lust auf ein Abenteuer“ hätte, er wolle rüber zu den Tschechen, Kletterzeugs kaufen. Karin traut sich nicht, und ist sich schließlich auch sicher, dass es ihr Vater nicht erlauben würde.
Und dann ist Paul weg, hat es in den Westen geschafft, hinterlässt Freunde und Karin. Sie sind enttäuscht, von Paul, und ein wenig auch auf sich.
Sehr bald tritt die Stasi auf den Plan. Freundlich, aber mit den nötigen Druck, gibt es Befragungen. Schließlich redet Karin ein wenig mehr, als ihr lieb ist … mehr verrate ich nicht.
Zwischen diesem Grundgerüst spielt sich aber das wahre Leben der Bewohner der DDR ab. Mit viel Feingefühl zeichnet die Autorin ihre Protagonistinnen. Sie erzählt uns über das zwischenmenschliche in jener Zeit. Über den Spagat zwischen Unschuld und schlechtem Gewissen. Über den ewig lauernde Staat im Rücken, der für alles sorgt und das eigenständige Denken der Bevölkerung ausblenden will. Über die immer währende Drohung der Denunziationen, die über den Köpfen lauert wie dunkle Gewitterwolken, ständig bereit, sich zu entladen.
Über den ganzen Roman scheint eine gewisse Dunkelheit zu schweben, eine graue Tristesse, nicht greifbar. Vielmehr wird man mit Ahnungen zum Lesen weiter getrieben – denn da muss doch noch was kommen. Absolut klug geschrieben – und das tolle: die Autorin schreibt zwar so, als hätte sie in der ehemaligen DDR gelebt, ist aber erst nach dem Mauerfall geboren. Das ist ganz große Erzählkunst, und zurecht ist Gneuß mit ihrem Debütroman auf der Longlist zum deutschen Buchpreis. Ganz klare Leseempfehlung!

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.09.2023
A Haunting in Venice
Christie, Agatha

A Haunting in Venice


ausgezeichnet

Dieser Roman, ursprünglich „Die Halloween-Party“, ist die Vorlage für den Kinofilm „A haunting in Venice“. Es ist die neueste Christie-Verfilmung mit Kenneth Branagh (Poirot und Regie).

Hercule Poirot wird von seiner Bekannten Mrs. Oliver, eine erfolgreiche Krimiautorin, in das kleine Dorf Woodleigh Common gerufen, denn Polizei und alle Beteiligten stehen am Ende ihrer Weisheit. Während einer von Mrs. Drake perfekt organisierten Kinderparty zu Halloween wird die junge Joyce ermordet. Kein Täter war gesehen worden, es scheint alles sehr mysteriös.
Während des Festes behauptete Joyce, schon einmal, unbewusst, Zeugin eines Mordes gewesen zu sein. Aber es glaubte ihr niemand, wurde nur belächelt. Mit Grund, denn das Mädchen war nicht besonders beliebt und bekannt dafür, sich mit erfundenen Geschichten ins Rampenlicht zu stellen.
Hercule Poirot, in seiner charmanten wie leicht narzistischen Art wie eh und je, führt Befragungen durch, schließt sich mit einem ehemaligen Polizisten kurz, sammelt Daten und Fakten. Aber selbst er kommt nicht richtig im Fall weiter – bis dann zum richtigen Zeitpunkt das richtige Wort gesprochen wird. Und die Lösung scheint nun für ihn sehr greifbar. Der Fall haltet die Leser:Innen bis zum Schluss in Atem, denn der Mordfall würde nicht aus der Feder von Christie stammen, würden wir die Lösung schon vorher erahnen.
Der Schreibstil ist für Agatha Christie Fans wie gewohnt – straight, ohne viele Schnörkel, die Atmospähre oftmals very british.
Ich fühlte mich im Roman sehr gut aufgehoben, war spannend bis zum Schluss und ein wahrer #Pageturner. Nun bin ich richtig auf den Film gespannt, welcher wohl ziemlich anders sein wird, als das Buch, und am 14.9. seine Premiere hat. Ganz klare #Leseempfehlung für alle Krimifans und Freunde von #Spannungsliteratur.