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anushka

Bewertungen

Insgesamt 163 Bewertungen
Bewertung vom 01.08.2016
Die Frau, die allen davonrannte
Snyder, Carrie

Die Frau, die allen davonrannte


ausgezeichnet

Aganetha "Aggie" Smart wird 1908 als eines von vielen Kindern der Familie Smart auf einer Farm in Kanada geboren. Inzwischen ist sie 104 Jahre alt und lebt in einem Altenheim und nichts erinnert daran, dass sie einst eine Pionierin des Frauensports war. Nun tauchen zwei junge Leute auf und wollen sie für einen Film interviewen. Dazu bringen sie sie an den Ort ihrer Kindheit zurück und hier entfaltet sich das ganze Leben der Aganetha Smart zwischen historischen Sportereignissen und den Konventionen einer vergangenen Zeit.

Aggie wächst sehr ländlich auf und in einer eher ungewöhnlichen Familienkonstellation. Ihre Mutter ist die zweite Frau des Vaters. Bereits mit der ersten hatte er Kinder, sodass Aggie sehr viele Geschwister hat. Bereits früh entdeckt sie ihren Drang zu laufen. Mit 16 entflieht sie endlich der entlegenen Farm, mit der sie schöne, aber auch schmerzhafte Erinnerungen verbindet, und landet bei einer ihrer Schwestern in Toronto. Dort wird sie schließlich ins Trainingsteam eines Pralinenherstellers aufgenommen, mit dem sie schließlich die Olympischen Spiele 1928 erreicht und als eine der ersten Frauen die 800-Meter-Strecke läuft. Doch sie ist weiterhin von den Konventionen dazu eingeschränkt, was eine (alleinstehende) Frau darf und was nicht. Diese werden ihr ganzes Leben bestimmen.

"Die Frau, die allen davon lief" ist vor allem eine berührende Familiengeschichte, in der es um Aggie und ihre Geschwister geht. Den meisten von ihnen ist leider kein langes Leben beschieden, sodass Aggie viele Verluste verkraften muss. Zu Beginn ist der Erzählstil verwirrend. Die 104-jährige Aggie erzählt ihr Leben in Rückblenden, die leider gerade am Anfang nicht chronologisch aufeinander aufbauen, sondern sehr sprunghaft sind, sodass es auf den ersten 100 Seiten schwer fällt, die Bezüge zueinander herzustellen. Einzelne Episoden aus Aggies Kindheit sind schwer verständlich, vor allem, wenn es um das Laufen geht und wo das auf einmal herkommt. Insgesamt steht der Sport eigentlich nicht so im Fokus, wie ich es erwartet hätte. Aggie scheint zwar ein natürliches Laufbedürfnis, dafür aber wenig Ehrgeiz zu besitzen. Ihre Erfolge sind eher zufällig und für die Geschichte ist wichtiger, wie sich diese Erfolge auf ihre Freundschaften und Familienbeziehungen auswirken. Die Sportkarriere an sich ist eher eine kurze Episode in ihrem Leben. Zugegeben, die Autorin kann anhand dieser Karriere und ihren Bedingungen sehr gut darstellen wie stark benachteiligt und eingeschränkt Frauen auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch waren, doch die Dramatik und Tragik der Geschichte liegen eher in den persönlichen Entscheidungen Aggies.

Wenn man sich von den Erwartungen eines Sportromans löst, erlebt man mit diesem Roman eine emotionale Geschichte einer Frau über ein Jahrhundert hinweg, die sich auch entgegen der Konventionen ihren Weg sucht und doch immer wieder an Grenzen stoßen muss. Die Rückblenden fügen sich mit fortlaufender Seitenzahl auch immer besser zusammen und am Ende entsteht noch einmal ein Überraschungsmoment. Trotz kleiner Längen zwischendurch hat mich das Buch sehr berührt und mir gleichzeitig, wenn auch am Rande, noch etwas über den Frauensport beigebracht.

Bewertung vom 10.07.2016
Bucht der Schmuggler / Gold des Südens Bd.1-5
Schiewe, Ulf

Bucht der Schmuggler / Gold des Südens Bd.1-5


ausgezeichnet

Bereits das Cover von "Die Bucht der Schmuggler" hebt sich positiv von der Masse ab und verspricht einen Abenteuerroman. Und den bekommt man auch. Während man zwischenzeitlich immer wieder Jan auf seiner Seereise in die Karibik begleitet und die Wellen unter den Füßen spürt, befindet man sich andererseits auf den Plantagen der Kolonie, wo die Luft dünn wird für Maria und ihren Mann Don Miguel. Die Perspektiven wechseln regelmäßig zwischen dem Schiff Sophia und der Insel Hispaniola bis sich die Handlungsstränge und Personen treffen. Neben Jan und Maria rücken regelmäßig weitere Figuren in den Fokus und beleuchten unterschiedliche Aspekte wie beispielsweise den Umgang mit Sklaven, aber auch Gefangenen, auf den Plantagen. Das Leben der sogenannten Bukaniere wird beleuchtet und auch die politischen Entwicklungen in Europa wirken sich auf das Leben auf Hispaniola aus. Eine Prise Liebesgeschichte bietet dieses Buch auch. Sowohl Jans Schiffreise als auch das Leben auf Hispaniola bieten gleichermaßen (viel) Spannung, sodass man das Lesen kaum unterbrechen mag. Die Spannung lässt bis zum Schluss nicht nach.
Ulf Schiewe schreibt in einer sehr anschaulichen Sprache und die Beschreibungen sind sehr plastisch. In den Seereisepassagen gibt es viel Seemannsjargon und -fachbegriffe, die man als segelunerfahrener Leser manchmal recherchieren muss, die aber insgesamt den Lesefluss nicht stören, wenn man die Begriffe nicht kennt. Der Schreibstil ist nicht abgedroschen oder trivial und bedient keine Klischees. Die Passagen zur Behandlung der Sklaven wirken nicht moralisierend, sondern legen das Leid allein durch die Geschichte und eindringliche Schilderungen dar, sodass der Leser selbst zu einem Urteil kommt ohne dies von den Figuren des Buches in den Mund gelegt zu bekommen. Alle historischen Informationen wirken akribisch recherchiert und liebevoll ausgearbeitet. An keiner Stelle hat man das Gefühl, dass etwas nur oberflächlich dargestellt wird. Und gerade die Detailverliebtheit (beispielsweise welche Bilder an den Wänden eines Händlers hängen) versetzen den Leser direkt in das Buch, die Zeit und den Handlungsort. Alle Figuren sind lebensecht ausgearbeitet und bekommen ihre eigene Geschichte.

Ich bin absolut begeistert von diesem farbenprächtigen historischen Roman, der einen guten Hauch von "Fluch der Karibik" verströmt. Es gibt zahlreiche mögenswerte Figuren, die allesamt detailliert ausgearbeitet sind und ihre eigene Geschichte haben. Dabei werden viele Themen und Lebensumstände dargestellt ohne dass das Buch dadurch überladen wäre. Bis zum Ende hin bleibt es spannend. Ich würde mir eine Fortsetzung dieser Geschichte sehr wünschen. Bis dahin gibt es erstmal für dieses Buch eine euphorische Leseempfehlung.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.07.2016
Was ich euch nicht erzählte
Ng, Celeste

Was ich euch nicht erzählte


ausgezeichnet

Eindringliches Psychogramm einer Familie

Ohio, 1977: Die 16-jährige Lydia Lee ist tot. Das erfährt man bereits auf den ersten Seiten dieses Buches. Doch was ist passiert? War es Selbstmord? Mord? Ein Unfall? Warum schweigt Jack, der Junge, mit dem Lydia in den Monaten vor ihrem Tod sehr viel Zeit verbracht hat? Jedes einzelne der Familienmitglieder hat schwer zu kämpfen mit Lydias Tod und geht anders damit um. Aber sie alle reflektieren über die Vergangenheit und ihre Zeit mit Lydia und schon bald wird dem Leser klar: jedes Familienmitglied hat seine eigenen Geheimnisse und auch Lydia, zurückhaltende und gehorsame Tochter und gute Schülerin hat Dinge verborgen.

"Was ich euch nicht erzählte" ist kein Thriller, sondern, wie der Buchumschlag, ein Roman. Dementsprechend lebt das Buch nicht von atemberaubender Spannung, sondern zeichnet ein Psychogramm einer Familie und ihrer einzelnen Teile. Middleton in Ohio ist eine kleine Stadt und die Lees sind so ziemlich die einzige amerikanisch-chinesische Familie dort. Ende der 1970er Jahre ist das kein einfaches Los, auch wenn der Vater James bereits in der zweiten Generation in den USA lebt und ein Universitätsdozent ist. Doch so richtig wurde er nie angenommen und akzeptiert, sondern bleibt immer ein Außenseiter. Die Mutter Marilyn dagegen war auf dem besten Weg, Ärztin zu werden. Doch in den 1950ern und 1960ern wurden Frauen dafür noch belächelt. Und wenn sie dann geheiratet hatten, kam es sowieso nicht mehr in Frage.
Die Lees hatten durch die Generationen hinweg kein leichtes Leben. Sehr eindringlich schildert die Autorin, wie der Ballast der Eltern alle Familienmitglieder zu ersticken droht. James wünscht sich nichts mehr, als dass seine Kinder integriert und beliebt sind und viele Freunde haben. Marilyn dagegen legt viel Wert darauf, dass auch ein Mädchen alles sein kann, was sie möchte. Und das bedeutet für sie vor allem: Ärztin.
Die Figuren sind realistisch und glaubhaft, auch wenn sie nicht immer mögenswert sind. Sie bleiben trotz allem menschlich und ihr Handeln vor dem dargestellten Hintergrund immer nachvollziehbar. Der Familie zuzusehen, wie sie mit dem Verlust kämpft und an ihm zu brechen droht, war ergreifend und Mitgefühl erregend, obwohl die Autorin nicht "auf die Tränendrüse drückt". Vielmehr wird die Schockstarre der Familienmitglieder greifbar.
Letztendlich erfährt nur der Leser, was wirklich passiert ist und diese Wendung fand ich durchaus überraschend und "schockierend", weil es absolut realistisch war und ich mir so etwas im realen Leben auch vorstellen könnte.

Die Autorin vermag eindringlich und überzeugend darzustellen, wie leicht Missverständnisse und Fehlinterpretationen entstehen und eine Familie erschüttern können. Sie zeichnet wunderbar nach, wie der Ballast der Eltern die Kinder oder nachfolgende Generationen generell belastet. "Was ich euch nicht erzählte" ist die gelungene Sektion einer Familie hinter der Fassade, die keine Thrillerhandlung oder Rührseligkeit braucht, um spannend und ergreifend zu sein.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.06.2016
Kreuzfahrt
Zindel, Mireille

Kreuzfahrt


sehr gut

Ein ruhiges Buch über das Wesen der Liebe nach Jahren der Ehe

Im Familienurlaub unter der heißen Sonne Italiens begegnet Meret Setz Jan Andersson, einem Nachbarn aus Zürich und Vater zweier Kinder. Jans und Merets Kinder kennen sich vom Spielplatz und auch Jans Frau Romy und Merets Mann Dres kennen sich vom Spielplatz. Auf Romys Wunsch unternehmen die Familien immer mehr miteinander und Romy und Meret werden so etwas wie Freundinnen. Schließlich ziehen die Anderssons sogar in das gleiche Haus, in dem Merets Familie bereits wohnt. Auch wenn Meret von Romys Verhalten oft befremdet ist, ist sie doch froh über den engen Kontakt, da er ihr ermöglicht, mehr über Jan zu erfahren und mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Langsam kommen sich die beiden näher. In einem Brief schildert Meret Jan die Geschichte dieses einen Jahres und reflektiert dabei die möglichen Gründe aller Beteiligten. Gibt es eine Zukunft für die Ehepaare oder für Jan und Meret?

Als Ich-Erzählerin berichtet Meret die Geschichte und spricht dabei oft direkt Jan an. Trotzdem bleibt sie dabei lange distanziert und analytisch, was ich jedoch sehr glaubhaft fand, da sie dadurch weder Jan noch den Leser mit Gefühls"duselei" belastet und dadurch nicht ins Kitschige oder emotional Erpresserische abrutscht. Stattdessen kann sich sich selbst fragen, wie viel Gefühl wirklich dabei war und welcher Anteil darauf zurückgeht, dass die Gefühle in der Ehe abgeflaut sind. Meret reflektiert auch ihr Leben als Mutter. Ein extremer Pol dafür ist Romy, die vor lauter Langeweile alle paar Jahre umziehen möchte und sich so oft wie möglich von ihren Kindern zu erholen versucht. Was ist ihr Motiv, Meret einen Freifahrtschein für eine Affäre mit ihrem Mann zu geben?

"Kreuzfahrt" erzählt in ruhigen Tönen von Beziehungen, wenn der Alltag seit Jahren Einzug gehalten hat und Kinder einen Großteil der Romantik unmöglich machen. Hier wird nichts beschönigt oder romantisiert. Es gibt das Bedürfnis nach Nähe und Zufriedenheit, das nicht erfüllt wird. Es steht die Frage im Raum, ob man immer mit dem einstmals geliebten Ehemann zusammenbleiben sollte oder auch was sich tun lässt, um eine unbefriedigende Ehe zu retten. Mit Meret und Romy gibt es hier verschiedene Ansätze. Auch die Affäre mit Jan ist nicht gerade romantisiert. Sie wird teilweise so sachlich geschildert, dass sie fast emotionslos wirkt und man weder Meret noch Jan eine große Verliebtheit abnehmen würde. Merets Gefühle werden erst nach einer überraschenden Wendung deutlich. Ab hier konnte ich richtig mitfühlen. Auch der Ausgang der Geschichte war für mich überraschend, da ich mich schon fragte, wie diese 4er-Verstrickung letztlich aufgelöst wird. Mir hat die Geschichte zunehmend besser gefallen ... bis zwei Seiten vor Schluss. Diese letzten zwei Seiten hätte ich wirklich nicht gebraucht, denn diesen Kunstgriff mag ich bei Büchern generell nicht, da ich mich immer betrogen fühle. Leider kann ich nicht mehr dazu schreiben ohne zu spoilern.

Insgesamt hat mir dieses ruhige Büchlein gut gefallen, das darüber reflektiert, wie die Liebe im Familienalltag aussieht. Sicherlich ist die Züricher (Ober-?)Schicht nicht repräsentativ, aber die Figuren passen ausreichend gut auf viele gehobene deutsche Großstadtbezirke. So hat die Geschichte viel Lebensnähe, auch wenn die Probleme der Protagonisten natürlich nicht mit denen in Krisenherden oder Dritte-Welt-Ländern vergleichbar sind. Doch trifft das Buch meiner Meinung nach gut, was sicherlich viele Großstädter beschäftigt in einer Zeit, in der Spaß, Partys und Ungebundenheit bis ins mittlere Erwachsenenalter propagiert werden. Und in der immer nach dem Optimum gesucht und gestrebt wird.

Bewertung vom 15.06.2016
Der Ort, an dem die Reise endet
Owuor, Yvonne Adhiambo

Der Ort, an dem die Reise endet


sehr gut

Sprachgewaltig und gehaltvoll

Ajany kehrt aus Brasilien nach Kenia zurück, um gemeinsam mit ihrem Vater die Leiche ihres Bruders zu ihrer Farm zurückzuführen. Odidi wurde in den Straßen Nairobis erschossen. Nun bewegt sich Ajany auf den Spuren ihres Bruders, während die Mutter vor Kummer in die Wildnis geflohen ist. Zeitgleich taucht der Brite Isaiah auf, der auf der Suche nach seinem eigenen Vater auf der verfallenen Farm von Ajanys Familie landet. Alte Wunden reißen auf, die auch mit der Geschichte Kenias zusammenhängen, während langsam aber auch eine zarte Hoffnung entsteht.

"Der Ort, an dem die Reise endet" ist ein ziemlich sprachgewaltiges Buch, das leider auch die Gefahr birgt, den Leser zu überfluten. Während einige Passagen eher direkt und zielstrebig der Handlung folgen, sind andere verschachtelt, verwinkelt, voller Andeutungen und sprachlichen Bildern, die nicht immer von der Handlung klar zu trennen sind. Die Figuren schweifen in ihren Betrachtungen immer wieder ab und zwischen den Lebensabschnitten hin und her. Und generell ist das Buch nicht leicht zu lesen. Gerade die Abschnitte mit und über Ajany sind sehr poetisch und metaphorisch. Das Buch ist stark durchdrungen von Mystik und Aberglauben, gemischt mit politischen Entwicklungen. Die Handlung ist mitunter sehr bruchstückhaft und sprunghaft geschildert. Leicht weglesen lässt sich dieses Buch sicherlich nicht. Es gibt viel Unausgesprochenes, das hineininterpretiert werden will und muss. Dennoch ist das Buch beeindruckend. Denn es gibt einen interessanten Einblick in eine völlig andere Welt und bringt einem ein Stück afrikanische Geschichte nahe, die man nicht unbedingt als Allgemeinwissen hat. Es zeigt auf, welch ein Pulverfass ein Land mit verschiedenen Völkern und Stämmen sein kann und welche Narben eine Kolonialherrschaft hinterlässt. Dazu kommt die alles durchdringende Korruption. Verschiedene Bedeutungsebenen öffnen sich nach und nach, selbst noch nach Beendigung des Buches. Nicht alles allerdings erschließt sich auch komplett.

Leider ist der Klappentext irreführend, da ich lange Zeit davon ausging, dass es sich bei Ajany und Odidi um recht junge Leute in den 20ern handelt. Eine Todesanzeige Ajanys für ihren Bruder bescheinigt diesem jedoch ein Alter von über 40, was auch mit der Zeitschiene der Handlung besser passt, da der Vater bereits in den 1950ern und 60ern aktiv war. Diese Verwirrung fand ich unnötig und hat mich beim Lesen gestört. Außerdem nicht ganz überzeugend war die Tatsache, dass sich der Brite Isaiah direkt in die Mystik und Mythologie fügt und dass seine Gedankengänge in den gleichen Bahnen verlaufen, obwohl er aus einem komplett anderen Kulturkreis kommt.

Nach einer Leseprobe des Buches stand ich dem Roman eher skeptisch gegenüber, da ein Auszug des Buches ohne Kontext sehr verwirrt und die Komplexität der Sprache sehr abgeschreckt hat. Vor diesem Exzerpt steht jedoch ein Prolog, der die Geschichte von Anfang an verständlicher machen konnte. Letztlich hat das Buch eine gewisse, dunkle Magie entfalten können und hat einen Alltag zwischen Korruption, Gewalt und Wildnis greifbar gemacht. So konnte mich das Buch in weiten Teilen, abgesehen von den oben genannten Kritikpunkten, überzeugen.

Bewertung vom 06.06.2016
Die 33. Hochzeit der Donia Nour
Ilmi, Hazem

Die 33. Hochzeit der Donia Nour


sehr gut

Mittelägypten, 2048: Donia Nour lebt in Zeiten der Neo-Sharia und des Shariatainment. Die Menschen sollen so viel beten und konsumieren, wie möglich. Wer nicht genügend "Gute-Taten-Punkte", beispielsweise durch religiösen Eifer, sammelt, der muss um den Zugang zum Himmel bangen. Donia möchte Ägypten unbedingt verlassen, doch um die Schlepper zu bezahlen braucht sie ein Kilogramm Gold. Dafür geht sie immer wieder so genannte Lustehen ein: Ehen, die nur zum Sex dienen und innerhalb von 24 Stunden annuliert werden. Allerdings wollen die Kunden nur Jungfrauen und so lässt Donia diese immer wieder wiederherstellen. Die 33. Hochzeit ist die letzte, bevor Donia das Gold zusammenhat, doch dann geht alles fürchterlich schief ...
Ägypten, 1952: der Professor und Philosoph Ostaz Mukhtar, der für den nächsten Tag eine gerichtliche Vorladung wegen Blasphemie hat, wird von Außerirdischen entführt. Fast 100 Jahre später bringen sie ihn zurück, da er einer gewissen Donia Nour helfen soll.

Dieses Buch ist etwas ganz Ungewöhnliches. Es erinnert an George Orwells "1984", da die Einwohner von ihrer eigenen Regierung bespitzelt werden. Es gibt ein zentrales System, dass die Häufigkeit der Gebete erfasst und wer nicht oft genug betet, wird vorgeladen. Die allgegenwärtigen elektronischen Sittenwächter geben sofort Alarm, wenn unter einem Schleier eine Haarsträhne hervorschaut. Die Position der Frau hat sich nicht wesentlich gebessert. Mit Houllebecqs Buch teilt "Die 33. Hochzeit ..." vor allem den Gegenstand der Dystopie: den islamistischen Gottesstaat.

Dass dieses Buch gerade durch aktuelle Debatten Unbehagen auslöst, kann ich nachvollziehen. Doch ist genau dieser Punkt das, was das Buch zu etwas Besonderem macht: in der westlichen Welt sind wir längst daran gewöhnt, unsere Lebensweise kritisiert zu sehen und bislang ist die Mehrheit der bekannten Dystopien ausschließlich westlich geprägt. Warum sollte eine Dystopie nicht auch die Gefahren in anderen Kulturkreisen aufzeigen, vor allem vor der aktuellen weltpolitischen Lage? Das Streben nach einem islamischen Staat ist derzeit präsenter denn je und bedient sich derzeit genau der Methoden, die dieses Buch anprangert. Daher ist es äußerst wichtig, dass auch öffentlich die Frage gestellt wird, wie ein solcher Staat zukünftig aussehen könnte. Vor allem, wenn dies durch einen Ägypter selbst geschieht, der seinen Handlungsort und seine Religion am besten kennt.

Insgesamt präsentiert der Autor neben der Gesellschaftskritik interessante Ideen wie auch die Zukunft des Konsums aussehen könnte. Mit dem Handlungsstrang um Ostaz und die Außerirdischen bringt er etwas Leichtigkeit und Humor mit in die Geschichte. Beklemmend fand ich dagegen die zahlreichen Sex-, Gewalt- und auch vereinzelten Vergewaltigungsszenen. Das Buch ist keine seichte Unterhaltung, sondern neben der nachdenklich machenden Gesellschaftskritik von der Handlung und den Erlebnissen der Hauptfiguren her teilweise harter Tobak. Trotzdem ist es ein ganz ungewöhnliches und außergewöhnliches Buch, das viele Leser finden sollte.

Bewertung vom 28.05.2016
Das Haus der verlorenen Kinder
Winterberg, Linda

Das Haus der verlorenen Kinder


sehr gut

Ein dunkles Kapitel in der Geschichte Norwegens

Wiesbaden, 2005: Die junge Vollwaise Marie verschlägt es für ihr freiwilliges soziales Jahr nach Wiesbaden in ein Altenheim. Dort trifft sie die rüstige 84-jährige Betty, mit der sie sich anfreundet. Doch Betty driftet immer wieder in ihre Vergangenheit ab, über die sie nicht reden will.
Norwegen, 1941: Lisbet und ihre beste Freundin Oda leben behütet in Loshavn am Meer. Hier wähnen sich alle sicher vor den deutschen Besatzern, doch dann werden plötzlich überall deutsche Soldaten einquartiert. Lisbet und Oda kommen zweien von ihnen näher und riskieren damit alles. Denn Mädchen, die sich mit deutschen Soldaten einlassen, gelten als Verräterinnen und werden von ihren Landsleuten, inklusive ihrer eigenen Familienangehörigen, geächtet. Und dann stellen beide Mädchen fest, dass sie schwanger sind und ihnen bleibt keine Wahl, als sich an die Deutschen zu wenden.

"Das Haus der verlorenen Kinder" spielt auf zwei Zeitebenen. Man begleitet zum einen Marie im Jahr 2005 in Deutschland, wie sie sich mit Betty anfreundet und ihrer eigenen Familiengeschichte nachspürt während Stück für Stück auch Bettys Geschichte zutage tritt. Zum anderen spielt die Geschichte in den Jahren 1941 und 1942 und man verfolgt Lisbet in Norwegen in einer Zeit, die lange ein heikles Kapitel norwegischer Geschichte war. Das Buch widmet sich dem Umgang der Norweger mit den sogenannten Deutschenmädchen und Deutschenkindern, die lange stigmatisiert und diskriminiert wurden. Frauen, die sich mit den deutschen Besatzern einließen, bekamen den Zorn der Norweger zu spüren, noch Jahrzehnte später. (Tatsächlich entschuldigte sich die norwegische Regierung erst 1998 für die Behandlung der Frauen und Kinder, wie man dem Nachwort entnehmen kann.) Doch auch der deutsche Lebensborn-Verein hilft den betroffenen Frauen nicht aus Wohltätigkeit, sondern verfolgt ein perfides Ziel. Das Buch hat damit ein interessantes, erschreckendes und ungewöhnliches Thema aufgegriffen, Ich kannte dieses Kapitel norwegischer (und deutscher) Geschichte bislang nicht.
Den historische Handlungsstrang fand ich sehr interessant und er hat mich emotional oft berührt, Der Schreibstil liest sich einfach, schnell und flüssig. Gerade die historischen Abschnitte bergen außerdem einiges an Spannung. Probleme hatte ich dagegen mit dem Gegenwartsstrang. Hier gab es mir zu viele Zufälle und manchmal hatte ich hier das Gefühl, dass die Spannung zu gewollt erzeugt wird. Es gibt oft Andeutungen, bei denen eigentlich nur noch ein Satz fehlt, um die Situation zu erklären, es wird aber wiederholt (und von verschiedenen Figuren) ruppig abgewiegelt und das Thema gewechselt. Zudem haben wahlweise Betty oder Marie oft Tränen in den Augen, was mir ein wenig zu häufig war. Zum Ende hin war mir der Gegenwartsstrang auch in den Eigenheiten einiger Nebenfiguren ein wenig zu übertrieben.

Insgesamt hat mich das Buch oft berührt und der historische Strang war dramatisch, mitreißend und emotional berührend. Die Landschafts- und Umgebungsbeschreibungen und die Schilderung des Alltags von Lisbet konnten mich begeistern, da sie sehr detailliert und bildhaft waren. Das Buch greift ein Thema auf, das in diesem Genre innovativ (also nicht abgenutzt) ist und beim Lesen dadurch noch etwas Neues vermitteln kann. Mich konnte nur leider der Gegenwartsstrang emotional nicht ganz erreichen.

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.05.2016
Schöne Seelen
Tingler, Philipp

Schöne Seelen


weniger gut

Kein schönes Buch

Oskar Canow wird von einem Freund gebeten, an seiner Stelle die Therapie zu besuchen, die dessen Frau ihm zur Eherettung verordnet hat. Oskar ist Schriftsteller und Teil der oberen "Zehntausend" Zürichs. Einen Großteil seiner Zeit verbringt er scheinbar mit der zynischen Analyse seines schwerreichen Milieus.

Als ich dieses Buch beendet hatte, habe ich erleichtert durchgeatmet. Es war ein hartes Stück Lesearbeit. Gespickt ist das Buch sicherlich mit vielen literarischen Perlen, Gedanken und Erkenntnissen, aber in der hier dargebotenen geballten Ladung sowie dem wirklich sehr zynischen und affektierten Schreibstil war es über mehr als 300 Seiten doch immer wieder anstrengend. Dann gab es immer wieder aber auch Lichtblicke und kleine amüsante Momente, leider gibt es aber kaum eine übergeordnete stringente Handlung, die sich weiterentwickelt, fortbewegt und Spannung aufbaut. Im einzigen, potentiell spannenden Moment wird genau diese Spannung wieder durch langatmige Betrachtungen zunichte gemacht. Ich weiß nicht, ob es Selbstironie sein sollte oder einfach nur bezeichnend für den Roman ist, aber nicht einmal die Figuren verstanden sich gegenseitig.

Dieses Buch ist definitiv nicht für die breite Masse ausgelegt, sondern sucht seine Leser wohl eher in verschiedenen Nischen, was ich nicht abwertend meine, sondern was für mich erklärt, warum das Buch so viele negative Bewertungen erhält (leider auch von mir), wenn man es mittels Leseexemplaren unter die breite Lesermasse streut. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass es Leser_innen gibt, die dieses Buch und seinen Stil genießen können. Für mich bleibt aber festzuhalten, dass ich vielleicht nicht der Typ für derartige schöngeistige Literatur bin, wobei ich bei dem "geistig" noch zustimmen würde, bei "schön" allerdings eher weniger.

Ich fragte mich die meiste Zeit: Ist das wirklich die Realität oder ist der Zynismus maßlos übertrieben? Blicken "die oberen Zehntausend" wirklich so auf die Welt oder soll das lediglich ein Stilmittel sein? Jedenfalls wirken viele zwischenmenschliche Betrachtungen maßlos herablassend, wenn nicht teilweise sogar menschenverachtend. Ich habe noch nie ein derart zynisches und snobistisches Buch gelesen und konnte ihm auch nur selten einen gewissen Unterhaltungswert oder eine Botschaft abgewinnen.