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amara5

Bewertungen

Insgesamt 126 Bewertungen
Bewertung vom 02.08.2020
After the Fire - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2021
Hill, Will

After the Fire - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2021


sehr gut

Vor und nach dem Erwachen
Schwer traumatisiert und verletzt erwacht die 17-jährige Moonbeam nach stundenlangem Schlaf im Krankenhaus und startet mit einem Erinnerungsprolog der letzten Nacht - ihr Zuhause, das Lager der Legion Gottes rund um Anführer Father John, liegt nach einem brutalen Kampf mit der Polizei in Schutt und Asche. Waffen und ein heftiges Feuer haben den Großteil ihrer Mitanhänger getötet. Doch durch Moonbeams Hilfe konnte eine Tür zu Kindern geöffnet und diese gerettet werden.

Konsequent in den zeitlichen Handlungssträngen "Davor" und "Danach" gegliedert, lässt der Autor Will Hill die intelligente und sensible Moonbeam die schrecklichen Ereignisse, Gehirnwäsche, Manipulationen und Folterungen in der Sekte recht nüchtern Revue passieren. Und gerade diese Nüchternheit sorgt für große Betroffenheit beim Leser. Das "Danach" ist geprägt von den Behandlungen in einer psychiatrischen Jugendklinik und der Hilfe von einem Psychologen und einem FBI-Agenten. Hier ist Moonbeams innerer Kampf hervorragend herausgearbeitet - die Stimme des Anführers ist so präsent in ihrem Kopf, seine Warnungen vor den Dienern der Schlange, dass ich als Leser selbst argwöhnisch den Helfern gegenüber wurde. Moonbeam kämpft darum, die Wahrheit ans Licht zu bringen und von den indoktrinierten sowie wahnhaften Glaubensvorstellungen loszukommen, birgt aber selbst ein Geheimnis, das sie zu zerbrechen droht und bis zum Ende für Spannung sorgt.

Der Autor versteht es, sofort einen emotionalen und authentischen Zugang zu Moonbeam und ihrer Entwicklung herzustellen und mit einer Wucht, die hier zwar fiktiven Ereignisse innerhalb einer Sekte darzulegen, die meiner Meinung nach aber genauso passieren (können). Dieser Wahn und Fanatismus, diese Gewalt und Manipulation, denen sich ein mutiges und cleveres Mädchen entgegenstellt, auch wenn die Therapie, Aufarbeitung und Ablösung von alten Wahrheiten schmerzhaft sind.

Will Hill hat ein faszinierendes, spannendes, aufrüttelndes und psychologisch sehr gut ausgearbeitetes Jugendbuch geschrieben, das lehrreich und flüssig geschrieben ist und lange nachhallt.

"Sei stark und blicke der Wirklichkeit ins Auge, nicht den Lügen, die man dir erzählt hat.“ (S. 210)

Bewertung vom 21.07.2020
Das Gartenzimmer
Schäfer, Andreas

Das Gartenzimmer


sehr gut

Im Sog der Villa

Andreas Schäfer spannt in „Das Gartenzimmer“ einen zeitlich weiten und fiktiven Bogen um die 1909 von Max Taubert entworfene „Villa Rosen“. Architektonisch ein kleines neoklassizistisches Meisterwerk in Berlin-Dahlem, bewohnten es zuerst der Professor Adam und seine Frau Elsa Rosen. Viel später ziehen Frieder und Hannah Lekebusch mit ihrem Sohn Luis in das denkmalgeschützte und renovierungsbedürftige Kleinod ein. Kostenaufwändig in den Originalzustand versetzt, lernt der Leser die Familie Anfang der 2000er-Jahre in der Villa kennen. Das Haus scheint einen sirenenhaften Sog zu besitzen, denn schon zu Zeiten der Rosens gingen hohe Persönlichkeiten ein und aus, was die spätere Gästeliste beweist.

Doch neben den detailreichen und sehr bildhaften architektonischen und landschaftlichen Beschreibungen legt Schäfer den Augenmerk auf die Schicksale der Bewohner dieser divenhaften Villa. Adam und Elsa haben ihren jugendlichen Sohn bei einem Schwimmunfall verloren – Elsa ist seitdem traumatisiert von uniformten Männern, haben damals Polizisten ihren toten Sohn auch noch malträtiert. Frieder und Hannah kämpfen mit Eheproblemen – während sie perfektionistisch das Haus vermarktet, Ausstellungen darin organisiert und Hausführungen durchführt, malt er lieber Bäume und wird später eine andere, jüngere Frau heiraten und das Haus bewohnen. Sohn Luis ist die Villa suspekt, er hat Ängste und spürt unterschwellig Böses in den Räumen. Er wird mit der hübschen Tochter der Haushälterin eine Beziehung eingehen und außerhalb der Villa sein Leben als Antiquitätenverkäufer meistern. Bis ihn die Trennung von Ana mit seinen Urängsten konfrontiert. Und er scheint unterschwellig die feinste Ader zu besitzen, denn im Gartenzimmer der Villa wurden im Zweiten Weltkrieg Räume beschlagnahmt und von Nationalsozialisten zu abscheulichen „Rassebestimmungen“ und Menschenexperimenten an Kindern zweckentfremdet.
Nach und nach legt Andreas Schäfer in Zeitsprüngen die Geschehnisse in der Villa dar –Tragödien, aber auch subtile, zwischenmenschliche Schwingungen, Liebschaften, Sehnsüchte und Verhaltensweisen in unterschiedlichen, geschichtlichen Zeiten. Elsa Rosen hatte im Krieg unter Bombenbeschuss und Hausbesetzung ganz andere Probleme als die Familie Lekebusch und trotzdem verbindet sie die Zeit in dem Haus und später aufgefundene Briefe. Der Architekt Max Taubert sollte später noch zu Ruhm gelangen, nach seiner Planung der Villa ereilen aber auch ihn berufliche und private Probleme.

Auflösen werden sich diese Probleme und Tragödien am Ende des Buches nicht – doch der Leser war Teil einer Bewohnerschaft zu unterschiedlichen Zeiten, die sich dem „Fluch und dem Segen“ dieser traumhaften, fast schwebenden Villa nicht entziehen konnten und ihren Anteil zu lernen hatten. Das alles schafft Schäfer mit viel feinfühligem Gespür für Atmosphäre und Ausschweifendes für Nebengeschichten. Hier hat mir am besten gegen Ende des Romans die Geschichte von Luis und Ana gefallen – zart und poetisch beschreibt Schäfer das Scheitern der Beziehung, aber auch das Wiederannähern von Vater und Sohn.

Ein sehr schön und flüssig geschriebener Roman und fast schon voyeuristischer Einblick hinter die Mauern einer Diva, in das Leben anderer und in gut recherchierte Zeitgeschichte, Politik und Kultur. Am liebsten würde ich weiterlesen und weiterhin zuschauen.

Bewertung vom 15.07.2020
Pandatage
Gould-Bourn, James

Pandatage


sehr gut

Tragikomischer Tanz des Pandas
Danny ist das, was man heute leider als Loser bezeichnet: chronisch pleite, perspektivlos, ohne richtige Ausbildung und als ihm nach dem Jobverlust der Vermieter mit einem Hammer nach Geld droht, vor dem Existenzverlust. Doch noch schlimmer knabbert an ihm das Verhältnis zu seinem elfjährigen Sohn Will - dieser ist nach dem Unfalltod seiner Mutter Liz traumatisiert und spricht kein einziges Wort mehr. Auch Ärzte können nicht weiterhelfen. Als Danny Straßenkünstler im Londoner Hyde Park sieht, kommt ihm eine Idee - er kauft sich ein ausrangiertes Pandakostüm und probiert als Tanzbär im Park Geld zu sammeln. Doch seine Tanzkünste sind miserabel - da trifft er die resolute und sehr freche Bartänzerin Krystal, die ihm Tanzunterricht gibt. Das zeigt Früchte, aber noch besser ist, dass Will anfängt, mit dem Panda zu reden - nichts ahnend, dass sein Vater unter dem Tierkostüm steckt. Schritt für Schritt nähern sich die beiden wieder an, bauen Brücken über Verletzungen und beide finden einigermaßen zurück ins Leben.

James Gould-Bourn lässt in seinem filmreifen Debüt "Pandatage" Tragik mit Komik, Trauer mit Humor tanzen und oftmals ist dies auch zu lachen und besonders die Vater-Sohn-Annäherung sind die emotional stärksten Stellen im Buch. Auch werden Werte wie Mut und vor allem Freundschaft groß geschrieben - Danny hat seinen ukrainischen Hünen Ivan mit großem Herz zur Seite und Will seinen Mo, der selbst eine Behinderung hat. Doch der Wert eines freundlichen Miteinanders fehlt an vielen Stellen - so gingen mir Krystals Sprüche oftmals zu weit und der schwarze britische Humor konnte mich nicht erreichen. Manche Figuren sind so plakativ geraten, dass sie für mich die Situationskomik nicht mehr ganz rund gemacht haben.

Das Hörbuch wird präzise, professionell und mit stimmlicher Variation sehr unterhaltsam von Hendrik Duryn gesprochen, was der Geschichte nochmal mehr Farbe und Unterhaltungswert verleiht. Fazit: Eine emotional mitreißende Geschichte, für mich leider mit kleinen Schwächen in Logik und Figurenzeichnung. Weniger Paukenschläge hätten an der einen oder anderen Stelle vielleicht noch mehr Wirkung und Nähe erzeugt.

Bewertung vom 15.07.2020
Das wirkliche Leben
Dieudonné, Adeline

Das wirkliche Leben


sehr gut

Jäger und Gejagte

Das wirkliche Leben der namenlosen, 10jährigen Ich-Erzählerin ist kaum zu ertragen. Der sadistische Vater und Großwildjäger misshandelt die Mutter psychisch und physisch, trinkt und guckt Fernsehen. Die Mutter gleicht einer Amöbe, hält sich so gut es geht aus allem raus und kümmert sich aufopferungsvoll um ihre Ziegen, während im Keller im Kadaverzimmer die ausgestopften Tiere des Vaters hängen.

Wie in einem Pulverfass nehmen die erschreckenden, brutalen und quälenden Ereignisse in einer sich konstant aufbauenden Thriller- und Angststimmung ihren Lauf. Bei einem schrecklichen Unfall müssen die Protagonistin und ihr vier Jahre jüngere Bruder Gilles mitansehen, wie der Eismann ihres Viertels in seinem Wagen explodiert. Die beiden sind schwer traumatisiert und erhalten zuhause keine Hilfe - im Gegenteil. Gilles verliert sein Lächeln und fängt an, Tiere bestialisch zu quälen, während der Vater immer mehr die Kinder als Zielscheibe seiner Misshandlung entdeckt. Das fantasievolle, empfindsame und von Schuldgefühlen geplagte Mädchen hegt von nun an den Wunsch, eine Zeitmaschine zu bauen, um wieder in die Vergangenheit vor den Unfall zu reisen. Sie beginnt sich bei einem alten Professor in Physik unterrichten zu lassen, kommt in die Pubertät und schwärmt für einen älteren Nachbarn. Je mehr ihre weiblichen Formen zunehmen, desto rasender wird der Vater, der sie eines Nachts als Beute für seine Treibjagd benutzen wird. Doch die unbändige Widerstandskraft des Mädchens ist nicht zu bremsen und erwacht da erst recht zum vollen Leben.

Adeline Dieudonné ist mit ihrem Debütroman ein faszinierender und ambivalenter Wurf gelungen - Grobheit trifft auf Zartheit, Beklemmung und Angst auf Lebensmut. Mit einer präzisen, filmischen Sprache, die trotz Gewalt und Blut mit poetischen, außergewöhnlichen Sprachbildern glänzt, katapultiert sie den Leser direkt in das scheinbar aussichtslose Leben des Mädchens und ihrem unbändigen Willen, sich daraus zu befreien, um keine Beute mehr zu sein. Und sie gibt den Leser erst wieder frei, wenn er die Geschichte zu Ende gelesen hat - abgeschreckt aufgerüttelt, hypnotisiert durchgeschüttelt und die brachialen Schläge noch im Nacken, die der Vater verteilt hat. Das entsetzt, wirkt lange nach und muss verdaut werden.

Bewertung vom 13.07.2020
Vegan! Das Goldene von GU

Vegan! Das Goldene von GU


sehr gut

Goldene Klassiker, pfiffige Neuheiten
„Das Goldene von GU“ bietet auf 400 Seiten eine große Vielfältigkeit über veganes Essen und stellt über 300 vegane Rezepte vor - sehr strukturiert und optisch hochwertig aufbereitet.
Nach einem kleinen Workshop, wie man vegane Basics wie Nussmilch, Hafersahne, Cashewjoghurt und Co. selbst herstellen kann, geht es los mit klassischen (Porridge) und recht außergewöhnlichen (Haferbirnensuppe) Frühstücksideen. Auf Anhieb ein Augenfang neben den großen, sehr gut in Szene gestellten Bildern sind die treffsicheren und lustigen Beschreibungen der Gerichte nach dem Titel wie "Morning-Aufpepper in Quietschgrün" oder "Unverwüstliche Kindheitserinnerung".

Im Folgkapitel „To go und Zwischendurch“ gibt es viele nützliche Tipps, um gesund und vegan durch die Mittagspause oder unterwegs zu kommen - mit Salaten, Snacks und Fingerfood. Insgesamt ein starker Abschnitt mit tollen Salaten, Dressings und anderen Köstlichkeiten wie vegane vietnamesische Sommerrollen und Sushi sowie Wraps, Aufstriche und Falafel.

Auch das folgende Kapitel „One-Pot-Seelenfutter“ mit vielen Suppen, Eintöpfen und Currys hat mich überzeugt, denn das ist die Ernährung mit viel Gemüse, die ich schätze und täglich koche. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass sich alles recht unkompliziert und ohne große Zutatensuche nachkochen lässt. Bei „Hauptgerichte für jeden Tag“ gibt es auch viel Gemüse und dazu Pasta, Pizza und Hülsenfrüchte, Ofengemüse, Gemüsepuffer und Co.

Einzig und alleine der recht großzügige Abschnitt mit "Tut so wie Fleisch"-Rezepte bei den veganen Küchenklassikern war nicht so ganz mein Geschmack - zuviel Tofu und und ähnlicher „Fleischersatz“ . Aber das ist Geschmackssache.

Sehr gut gelöst wird nach dem umfangreichen und sehr ansprechenden Teil über Süßspeisen das Inhaltsregister, denn es wird auch nach Zutaten sortiert - so kann man die vielen übrigen Möhren bestimmt schnell in ein passendes Rezept integrieren.

Ein insgesamt sehr ansprechendes Kochbuch und besser als erwartet - mit goldenen, bodenständigen Klassikern wie Wirsingtopf und Röstkartoffeln sowie pfiffigen Rezepten aus indischer oder asiatischer Küche. Ein gut gelungenes, buntes Potpourri an veganen Köstlichkeiten, gespickt mit Küchenpraxis-Infos, aus dem man immer wieder aufs Neue schöpfen kann.

Bewertung vom 07.07.2020
Die Marschallin
Del Buono, Zora;Del Buono, Zora

Die Marschallin


sehr gut

Geballte Fäuste für die Freiheit

Die Slowenin Zora del Buono, geborene Ostan, ist die gleichnamige Großmutter der Autorin, die ihr mit „Die Marschallin“ eine literarische Erinnerung geschaffen hat. Sie ist schlau, scharf analysierend, temperamentvoll, strenge Majorin über ihren von Männern dominierten Familienclan und – glühende Kommunistin.
Zora entführt uns in die Zeitspanne von 1919 bis zu ihrem triumphalen Resümee im Jahre 1980. Kriege beuteln und verändern ihr Land immer wieder schwer aufs Neue. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs lernt sie ihren Mann, den angesehenen Radiologen Pietro del Buono kennen, mit dem sie drei Söhne bekommen und in einer von ihr entworfenen, noblen Villa in Bari wohnen und viele feudale Gäste empfangen wird. Gemeinsam stehen sie ideologisch gegen den Faschismus von Mussolini und für Tito. Zora ist im Herzen Trotzkistin, hat sich zwar mit ihrer Mutterschaft „abgefunden“, doch würde lieber für die Freiheit als Partisanin an der Front kämpfen – als Macherin oder Majorin Dinge umwälzen, Gesellschaften verändern, Neues fließen lassen.

Geografisch und zeitlich in der Überschrift des jeweiligen Kapitels verortet, stellt uns die Autorin eine multiperspektivische Biografie mit (vermutlich) teils fiktiven und stets realen historischen Begebenheiten in Italien und dem ehemaligen Jugoslawien vor. Die Gewalt der Kriege und des Faschismus, die eigenen Ideologien und Lebenswünsche, aber vor allem auch viele bildgewaltige zwischenmenschliche Geschehnisse wie Familie, Liebe, Träume und Dramen machen den Roman aus und lesenswert.
Del Buono schreibt sehr flüssig, gut recherchiert und kein Wort ist zu viel – der Lesefluss ist nie gestört. Fasziniert hat mich die fulminante Abschlussrede der alten Zora im Altersheim, immer noch unnachgiebig, aber auch trauernd um ihre vielen schicksalshaft verstorbenen Lieben. Die harte Schale immer noch fest, doch auch dankbar für ihre lange Ehe – und immer noch geballte Fäuste für ihre Art zu Denken und zu Herrschen.

Ein größtenteils sehr poetischer, menschlicher, dynamischer und magischer Roman, der den Leser bildgewaltig in wichtige historische Ereignisse, aber auch in ein ganz persönliches Leben voller Schicksale und Sehnsüchte eintauchen lässt!