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Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 185 Bewertungen
Bewertung vom 23.02.2022
Blinder Spiegel
Jamal, Salih

Blinder Spiegel


sehr gut

Der Fluglotse Lui ist ein Getriebener. Er arbeitet mal hier, mal dort, wird nirgends sesshaft. In Paris lernt er die rätselhaft schöne Elle kennen - und stürzt dadurch in eine verhängnisvolle Amour fou mit dramatischen Auswirkungen für alle Beteiligten.

Salih Jamal ist vielen Leser:innen sicherlich noch durch seinen letztjährigen wunderbaren Roman "Das perfekte Grau" ein Begriff. Nur etwas mehr als ein Jahr später legt er im Septime-Verlag sein neues Werk "Blinder Spiegel" nach. Buch und Autor scheren sich dabei herzlich wenig um Genregrenzen. Als "Roman" betitelt, könnte man es aufgrund seiner Kürze von etwas mehr als 100 Seiten auch als "Novelle" bezeichnen - oder gar als "Drama in fünf Akten", denn die Erzählstruktur aus fünf Kapiteln weist in ihrer klassischen Zuspitzung fast schon die Merkmale einer antiken Tragödie auf.

Wenn ein Buch mit den Worten "Grüne Augen sind die seltensten der Welt, und man sagt, dass sie auch die schönsten sind" beginnt, spürt man als Leser sofort eine umittelbare Intensität, die "Blinder Spiegel" auch bis zum Finale beibehalten wird. Und man ahnt, wohin die Reise geht. In eine melancholische Poesie, die bisweilen an einen französischen Film Noir erinnert, auch wenn es in dem Roman nicht immer regnet. Fast hatte ich beim Lesen das Gefühl, Ich-Erzähler Lui aus dem Off sprechen zu hören, so plastisch und intensiv sind dessen Ausführungen. Überhaupt diese Namen: Lui und Elle. Das hat auf der einen Seite etwas Existenzialistisches, auf der anderen Seite schafft es eine gewisse Distanz zwischen Leser:innen und Figuren. Eine dringend notwendige Distanz, denn die Welt, die man betritt, dürfte für die meisten Menschen fremd und abschreckend sein.

Diese fremde Welt verhinderte es letztlich auch, dass ich einen stärkeren Zugang zum Inhalt und zu den Figuren bekam. Denn während bei einem gemeinsamen Friedhofsbesuch zunächst so wunderbare Sätze wie "Ein Friedhof ist der Ort, an dem sich Schönheit und Tod umarmen" stehen, kommt es im nächsten Moment recht unvermittelt zum Oralverkehr. Was magisch und harmlos beginnt, wird zu einer obsessiven Beziehung zwischen Lui und Elle, einer Beziehung zweier verlorener Seelen voller Schmerz, Gewalt - und viel Sex. Diese expliziten Szenen störten mich bestenfalls oder stießen mich schlechtestenfalls regelrecht ab. Dennoch passen sie ins Gesamtkonzept von "Blinder Spiegel".

Wenn Salih Jamal in der zweiten Hälfte des Buches sogar eigene Gedichte in den Roman einbaut, die die Zerbrechlichkeit Luis einfangen und im nächsten Absatz von einer "schmerzenden Morgenlatte" schreibt und sich Lui vorstellen lässt, wie er Elles Ehemann "mit meinem Wasserwerfer anpisste", dann erinnert das in seiner Mischung aus Obszönität und Schönheit ein wenig an Allen Ginsberg und die Beat Generation. Und es zeigt, dass es dem Autoren nicht darauf ankommt, allen Leser:innen gefallen zu wollen, was bei dieser Thematik wohl auch nicht möglich ist.

Wegen der Drastik der Sexszenen und der dazugehörigen Gewalt konnte mich "Blinder Spiegel" im Vergleich zu "Das perfekte Grau" nicht gleichermaßen abholen, da ich beim Vorgänger einfach eine größere Wärme gespürt habe, die mich emotional stärker in die Handlung eintauchen ließ. Dennoch beweist Salih Jamal auch mit seinem neuen Werk, dass er zu den wohl aufregendsten und kompromisslosesten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gehört.

Bewertung vom 19.02.2022
In die Arme der Flut
Donovan, Gerard

In die Arme der Flut


gut

Als Luke Roy kurz vor seinem 37. Geburtstag die hohe Brücke über dem Fluss bei Ross Point im US-Bundesstaat Maine betritt, steht für ihn fest: Er wird an diesem Tag Ende Oktober seinem Leben ein Ende setzen. Doch während ein immer dichter werdender Nebel die Brücke einhüllt, hört er plötzlich Schreie. Nach einem Bootsunfall treibt der 15-jährige Paul unaufhaltsam Richtung Meer. Kurzerhand springt Luke 35 Meter tief ins Wasser und rettet den Jungen. Wie geht ein Mensch, der mit seinem Leben eigentlich abgeschlossen hatte, damit um, plötzlich von den Menschen und den Medien als Held gefeiert zu werden, obwohl er dies nicht will? Und wie schnell können Stimmungen in den sozialen Medien eigentlich kippen? Darüber schreibt Gerard Donovan in seinem neuen Roman "In die Arme der Flut".

Während der deutsche Titel des Romans grammatikalisch auf den ersten Blick etwas sperrig wirkt, drückt der englisch-sprachige Originaltitel "The Dead Lit Faintly" die morbide Todessehnsucht, die das Buch ausstrahlt, deutlich stärker aus. Man kann Gerard Donovan darin sicherlich einiges vorwerfen, aber nicht, dass er sich groß um literarische Konventionen scheren würde. Denn einige Leser:innen dürften schon innerhalb der ersten 70 Seiten Reißaus nehmen. In fast quälend langsamem Erzähltempo begleiten wir Luke bei seinem missglückten Suizidversuch, und fast glaubt man, sich in einer Oper zu wähnen, in der der Tod des Schurken oder der Helden auch häufig bis zur letzten Sekunde ausgekostet wird. Dennoch strahlt der Roman in dieser Phase eine recht hohe Intensität aus. Der Nebel wabert, Luke sinniert über Nahtoderfahrungen in seiner Jugend, der Fluss rauscht, die Landschaft Maines zieht an den Augen der Leser:innen vorbei.

Mit Einsetzen der Rettungsaktion nimmt das Erzähltempo plötzlich dramatisch zu und entwickelt sich in der Folge sehr überraschend zu einer völlig überspitzten Medien- und Gesellschaftsgroteske. Luke wird zum Helden wider Willen, kurz darauf zum Antihelden und Verfolgten. Donovan lässt einen Bürgermeister namens Donald unter der wenig subtilen Bezeichnung "der wahre Bürgermeister" lostwittern und verübt mit dem Holzhammer Kritik an den sozialen Medien, der Gesellschaft und der Politik. "Und gab es nicht mal bei Twitter einen Real Donald mit orangem Haar?", mögen spätestens jetzt einige Leser:innen denken.

In dieser Phase erinnert "In die Arme der Flut" sehr stark an den 2016 erschienenen Roman "Vor dem Fall" von Noah Hawley, in dem ein Mann nach einem Flugzeugabsturz einen kleinen Jungen rettete und von den Medien zu einem Helden hochstilisiert wurde, bevor sich auch dort das Meinungsbild drehte. Doch während bei Hawley die Spannung im Vordergrund stand, setzt Donovan eher auf eine Generalkritik und vermischt diese immer wieder mit zarten und schönen Sätzen: "Am östlichen Horizont kann er sehen, wie ein Fingerabdruck aus Licht die Sterne berührt", heißt es dort oder auch "Für Geschöpfe, die die Sonne nicht ertragen können, bietet die Nacht diesen Planeten an."

Diese wunderbaren Momente zeigen, welch großartiger Roman "In die Arme der Flut" hätte werden können, denn Gerard Donovan beweist mehr als einmal, dass er sein Fach beherrscht und die richtigen Töne treffen kann. Auch sein Mut ist ihm hoch anzurechnen. Da verschwindet völlig überraschend plötzlich eine recht zentrale Figur, und der vielleicht interessanteste Charakter des Buches wird erst im letzten Viertel eingeführt.

Dennoch überwog bei mir das Gefühl einer Unausgegorenheit. Zwischenzeitlich wähnte ich mich in einem neuen Roman, so wenig passte für mich die Mischung aus tieftraurigem Drama und schriller Satire. Und wenn der Autor gegen Ende des Buches völlig unvermittelt und langatmig den live auf Facebook übertragenen Suizid eines Kindes unkommentiert darstellt und diesen mit einer "Rattenfänger von Hameln"-Parabel gleichsetzt, waren für mich die Grenzen des guten Geschmacks in Verbindung mit dem Zynismus des Autors gegenüber seinen Figuren überschritten.

Schade,

Bewertung vom 11.02.2022
Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist
Loschütz, Gert

Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist


ausgezeichnet

Als seine Mutter den zehnjährigen Karsten im märkischen Plothow nachts aus dem Bett holt, um mit ihm einen letzten Spaziergang durch die Heimatstadt zu machen, sagt sie ihm: "Sieh hin, sieh dir alles genau an, weil du es nicht wiedersiehst." Am nächsten Morgen werden die beiden die DDR in Richtung Westen verlassen und dem Jungen wird eingeimpft: "Sieh dich nicht um", um erst gar keine Verdachtsmomente an eine Flucht aufkommen zu lassen. Doch wie geht ein Junge damit um, der von einem auf den nächsten Tag seine Heimat verliert und dem dieser Satz wie ein Damoklesschwert ein Leben lang über dem Haupt schwebt? Davon erzählt Gert Loschütz in seiner "Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist".

Der Roman wurde 1990 bereits unter dem Namen "Flucht" veröffentlicht, und offenbar im Zuge des Erfolgs des letztjährigen Loschütz-Romans "Besichtigung eines Unglücks" hat sich der Verlag Schöffling & Co. dazu entschlossen, dieses über 30 Jahre alte Werk des Autors erneut zu veröffentlichen. Es ist eine kluge und nachvollziehbare Entscheidung, denn dieses zeitlose Kunstwerk dürfte damit viel mehr Leser:innen erreichen, an denen es ansonsten wohl vorbeigegangen wäre. Wären da nicht die zahlreichen "ß", die sich wegen der alten Rechtschreibung im Text befinden, könnte man meinen, Loschütz hätte nur besonders schnell einen Nachfolger veröffentlicht, denn nichts an der "Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist" wirkt veraltet oder inaktuell.

Noch nie waren weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie 2020. Täglich endet für zahlreiche Minderjährige die Kindheit. Nicht immer durch die Flucht selbst, dennoch trägt diese Entwurzelung erheblich dazu bei. So auch damals bei Karsten Leiser, mittlerweile Reisejournalist, der sich Ende der 1980er-Jahre dem Dogma der Mutter widersetzt - und eben doch zurückblickt auf seine Kindheit und auf den besonderen Tag im Mai des Jahres 1957, an dem diese ein abruptes Ende nahm. Denn der "Tag, der nicht vorüber ist" verfolgt den Ich-Erzähler Karsten auf Schritt und Tritt. Nur ein Jahr nach der Flucht stirbt die Mutter nach langer Krankheit just an diesem Tag, und auch weniger bedeutsame Ereignisse und kleinere Unglücke ziehen sich in den kommenden Jahren wie ein roter Faden durch Karstens Leben.

Der Erzählton, den Gert Loschütz wählt, ist voller Melancholie, voller sinnlicher Intensität. In sprunghaften kleinen Szenen wechseln die Jahre und die Schauplätze von den 80er- in die 50er-Jahre und wieder zurück, von dem fiktiven Plothow ins fiktive Wildenburg in Hessen, von Irland nach Italien. Auch wenn sich die im Titel angedeutete "Ballade" als literarische Gattung nicht halten lässt, hat das dennoch etwas von Strophen, die im Verlaufe des Romans etwas länger werden. Man spürt die autobiografischen Bezüge, die Verbindungen zwischen Karstens Familie und Loschütz' Flucht von Genthin nach Dillenburg eben im Jahr 1957.

Karsten selbst entpuppt sich als unzuverlässiger Erzähler, der aber zu seinen Lügen steht und diese manchmal sogar als solche kennzeichnet. Für die Leser:innen entwickelt sich dadurch ein Spiel mit der Realität, wobei die Handlungen gern auch einmal ins Surreale abdriften. Wenn Karsten beispielsweise seinen Fluchtkoffer nach über 25 Jahren endlich wegwerfen will und dieser doch immer wieder zu ihm zurückkehrt. Oder wenn er seinen Intimfeind aus der Kinderzeit, einen Jungen namens Burckhardt, urplötzlich überall wiedertrifft und dieser vermeintlich sogar einen Anschlag auf Karsten plant. Besonders ans Herz gehen dabei die Kindheits-Episoden. So erledigt Karsten beispielsweise noch die Hausaufgaben, obwohl er seine Schule niemals wiedersehen wird. Oder er berührt eine besondere Mauerstelle an seinem Hauseingang nicht, weil seine Mutter diese als letztes vor der Verlegung ins Krankenhaus berührte.

All das untermalt Loschütz mit Erinnerungen, Farben und Gerüchen, mit einer sehr besonderen, überwiegend traurigen Tonalität, die ich schon in "Besichtigung eines Unglücks" so geschätzt habe. Vielleicht is

Bewertung vom 04.02.2022
Wir sind das Licht
Blees, Gerda

Wir sind das Licht


ausgezeichnet

Drei Frauen und ein Mann leben in einer nicht näher bezeichneten niederländischen Stadt in der Wohngruppe "Klang und Liebe" zusammen. Doch das Ziel, sich vornehmlich von Licht zu ernähren, geht fürchterlich schief: Elisabeth stirbt völlig unterernährt. Als der herbeigerufene Notarzt einen unnatürlichen Tod feststellt, geraten die drei anderen Bewohner:innen ins Visier polizeilicher Ermittlungen. Wie konnte es zu einer solchen Radikalisierung kommen und wieso konnte niemand Elisabeths Tod verhindern? Darüber schreibt Gerda Blees in ihrem Debütroman "Wir sind das Licht".

Es ist ein bemerkenswert innovativer Roman geworden, der vor allem aufgrund der Erzählperspektive aus dem Rest der zeitgenössischen Literatur heraussticht. Denn Gerda Blees traut sich unheimlich viel - und das in einem Erstling. In den 25 Kapiteln gibt es sage und schreibe 25 verschiedene Erzähler:innen, die die Leser:innen mit einem umarmenden "Wir" im jeweils ersten Satz sofort für sich einnehmen. Dabei macht die Autorin auch vor unbelebten Gegenständen oder Abstrakta keinen Halt. "Wir sind die Nacht", heißt es gleich zu Beginn, "wir sind ein Cello" an einer anderen Stelle. Manchmal geraten sie sich sogar in die nicht vorhandenen Haare, wenn man bei "Klang und Liebe" völlig anderer Auffassung über die Bewohner:innen ist - und sich trotzdem arrangieren muss.

Nichts ist erwartbar in diesem Buch, alles ist neu, alles ist aufregend. Stück für Stück sorgt die Multiperspektivität dafür, das Puzzle um die Wohngruppe zusammenzusetzen. Während der Inhalt eher langsam voranschreitet, ist dennoch für eine anhaltende Spannung gesorgt. Denn ich fragte mich immer, welche der Stimmen sich als Nächstes zu Wort meldet.

Besonders gelungen ist dies, wenn sich auch die Form des Textes dem Inhalt anpasst. Wenn die Nacht kurz vor ihrem Ende steht und schon der Morgen graut, muss das Geschehen eben mal in einer Seite ohne Punkt und Komma heruntergerattert werden. Wenn die Demenz eingreift, verschwimmen nicht nur die Inhalte des Erzählten, sondern der Text selbst verliert seine Form. Das ist genial und bewegend, und ich fühlte mich wohl noch nie den Gedankengängen einer/s Demenzkranken so nahe. Wenn dann noch die Erzählung selbst eingreift und sich über die Ideenlosigkeit ihrer eigenen Autorin beklagt, sollten auch die Letzten bemerken, in welch klugem literarischen Meisterwerk wir uns bewegen.

Dabei störte es mich nicht einmal, dass ich zu keiner der Figuren irgendeine Art von Bindung aufbauen konnte, was sonst für mich viel zur Qualität eines Romans beiträgt. Vielmehr gab ich mich uneingeschränkt diesem erzählerischen Rausch hin und konnte letztlich nur staunend konstatieren: "Wir sind die Literatur".

Bewertung vom 01.02.2022
Damenbart
Pines, Sarah

Damenbart


gut

Sie heißen Martha, Maryweather, Marlena oder Mena und es ist nicht nur derselbe Anfangsbuchstabe, der sie eint. Denn sie alle sind mittelalte bis ältere, einsame Frauen, die sowohl mit sich selbst als auch ihrem Leben nicht im Reinen zu sein scheinen. Von all diesen Frauen - und anderen verlorenen Seelen - berichtet Sarah Pines in ihrem Geschichtenband "Damenbart".

"Damenbart" ist das literarische Debüt der gebürtigen Sauerländerin und freien Journalistin, die in New York City lebt. Ihre Kurzgeschichten sind auch deshalb stark amerikanisch geprägt, ein nicht kleiner Anteil spielt in den Vereinigten Staaten. Pines setzt darin auf eine gehörige Prise Poesie und vermischt sie mit einem lakonischen, manchmal etwas spöttischen Humor zu einer bunten Mischung, die aber nur teilweise mundet.

Zunächst einmal ist der Mut der Autorin und des Verlags Schöffling & Co. zu loben, denn es gehört schon etwas dazu, mit Kurzgeschichten zu debütieren. Das oftmals zu Unrecht unterschätzte literarische Genre ist sicherlich nicht der einfachste Weg, in der Literaturszene Fuß zu fassen. Dass Sarah Pines ihr Handwerk versteht, wird dabei sehr schnell deutlich. Ganz wunderbar spielt sie mit der Sprache, setzt in ihrer Poesie auf viele Farben, Gerüche und Geräusche. "In der Ferne verschleierte Nebel die Unendlichkeit des irgendwann nahenden Sommers", heißt es zum Beispiel in "Eisvogel", und wer sich jetzt nach Kalifornien träumt, dem sei gesagt, dass diese Geschichte in Westfalen spielt. Doch diese Schönheit wird oftmals von Hoffnungslosigkeit überlagert. "Frédérique reiste in die Hässlichkeit", heißt es eindrucksvoll in derselben Erzählung - und damit ist nicht unbedingt Westfalen gemeint. Doch nicht alle Metaphern erreichen die gleiche hohe Intensität. In "Eierschalenrot" vergisst sich jemand "im klaren Würfelwurf holunderfarbener Stille", was zwar schön klingt, aber etwas bemüht poetisch wirkt.

Doch während die Sprache mich größtenteils überzeugte, waren es eher die Figurenkonstellation und der dazugehörige Inhalt, die mich seltsam kalt ließen. Ich hatte das Gefühl, dass die Autorin sich bei ihren Figuren sowohl innerlich als auch äußerlich auf die hässlichen Dinge und Eigenschaften fokussierte. Mit leichtem Spott und nur wenig Empathie begegnet sie diesen Frauen, die doch eigentlich nur gefallen wollen. Doch weder mochte ich die Protagonistinnen verspotten, noch stellte sich eine emotionale Bindung zu ihnen ein.

Hinzu kommt, dass es in 13 der 17 Erzählungen vornehmlich um dysfunktionale Beziehungen, gescheiterte Ehen und unglückliche Affären geht, in denen auch der Sex oftmals recht explizit im Vordergrund steht. Doch während bei Dr. Sommer noch die Zärtlichkeit einen großen Raum einnahm, könnte man die Thematik dieses Bandes etwas salopp eher mit "Liebe, Sex und Einsamkeit" überschreiben, denn oftmals wollen diese Frauen ihrer Einsamkeit eben durch ihre Sexualität entfliehen - was natürlich nicht gelingt.

Am gelungensten ist "Damenbart" ausgerechnet in den Momenten, in denen die Autorin aus diesem Schema ausbricht. In "Wintersonne" erleben wir die Sehnsucht eines alten Mannes, der sich mit dem Kauf von Orangen in seine Jugend zurückträumt, doch dessen körperlicher und geistiger Verfall längst nicht mehr gestoppt werden kann - tieftraurig und bewegend. Und in der wohl stärksten Geschichte des Buches "Schweiß" finden sich die Leser:innen in einem nordfranzösischen Dorf wieder, dessen bedrohliche Sommerschwüle zu einer Jungfrauen-Sichtung mit anschließenden Todesfällen führt. Mit einem verdächtigen Eismann, toten Tauben, einer merkwürdigen Schlossherrin und einer verlassenen Ruine streift Sarah Pines hier die Genregrenzen und erinnert an eine kunstvolle Mischung aus Stephen King und Schneewittchen.

Mit "Damenbart" ist Sarah Pines ein sprachlich feines und ambitioniertes Debüt gelungen, welches das Potenzial der Autorin andeutet, aber noch nicht voll erreicht. Lesenswert ist es aber allemal.

Bewertung vom 18.01.2022
Heul doch nicht, du lebst ja noch
Boie, Kirsten

Heul doch nicht, du lebst ja noch


sehr gut

Seit sechs Wochen ist der Zweite Weltkrieg vorbei, doch noch immer versteckt sich der 14-jährige Jakob in einer Wohnruine des zerbombten Hamburg. Bisher hat niemand dem jüdischen Jungen gesagt, dass Deutschland den Krieg verloren hat und er in Sicherheit ist. Derweil trauert der gleichaltrige Hermann seiner Zeit als HJ-Führer hinterher, während Traute ihre Freundinnen vermisst und in den Trümmern des Krieges Anschluss sucht...

Hinter dem etwas sperrigen Titel "Heul doch nicht, du lebst ja noch" verbirgt sich der neue Jugendroman der Hamburger Autorin Kirsten Boie. Und hätte ich nicht ihren Namen auf dem Cover entdeckt, wäre dieser Roman wohl an mir vorbeigegangen, denn angesprochen hat mich dieser Titel nicht.

Verpasst hätte ich ein abermals bewegendes und gut recherchiertes Buch, das die - allerdings auch wahrlich überragende - Qualität und Intensität des inoffiziellen Boie-Vorgängers "Dunkelnacht" jedoch nicht erreicht. Dennoch leistet Boie erneut einen wertvollen und wichtigen Beitrag gegen das Vergessen.

Besonders gelungen ist, dass die Autorin sich konsequent in die Perspektiven ihrer drei jugendlichen Protagonist:innen versetzt. Dabei schafft sie es, sich einer Bewertung zu enthalten. Denn die Figuren sind nicht schwarz-weiß gezeichnet, sondern ambivalent, sie alle machen Fehler, doch sie alle reflektieren auch ihr Verhalten. Es wäre einfach gewesen, den HJ-Jungen Hermann als Antihelden darzustellen, gerade zu Beginn des Romans verhält er sich wie ein klassisches Ekel. Doch in seinem Zuhause erkennen wir einen Jungen, der ebenfalls ein Opfer des Krieges ist. Denn während Hermann von Amerika träumt, wartet daheim ein tyrannischer Vater, der beide Beine im Krieg verloren hat und von Hermann regelmäßig auf die ein Stockwerk tiefer liegende Toilette getragen werden muss.

Doch im Mittelpunkt steht Jakob, dessen Schicksal stellvertretend für die Verfolgung jüdischer Familien in Hamburg steht, wie Boie auch im Nachwort noch einmal betont. Es ist die wahrlich traurige Geschichte eines Jungen, der vor lauter Angst vor Verfolgung nicht einmal mitbekommt, dass der Krieg längst vorbei ist. Dass nicht auch er in seiner Not einen schwerwiegenden Fehler begeht, verhindert ausgerechnet - Hermann.

Während die beiden Jungenfiguren und ihre Schicksale den Leser:innen ans Herz gehen sollten, bleibt Traute als einzige weibliche Protagonistin verhältnismäßig blass. Sie spinnt die Fäden eher im Hintergrund, wird leider nicht mehr als eine Art verbindendes Element zwischen den beiden so unterschiedlichen Jungen.

Ohne etwas über das Ende verraten zu wollen, muss ich konstatieren, dass es mich wirklich schockiert hat. Boie leitet es ein wenig knapp mit den Worten "Bis das Schreckliche passiert" ein. Gerade jüngeren Leser:innen dürfte es einigermaßen schwerfallen, dieses für eine der Figuren erdachte Finale verarbeiten und akzeptieren zu können.

Der Sprachstil der Autorin ist insgesamt gewohnt empathisch, doch hat es mich diesmal ziemlich gestört, dass sie sehr oft auf Pronomen verzichtet. "Gab ja keine mehr", heißt es dort, oder "Waren weniger und weniger geworden". Mir erschloss sich der Zweck nicht, und auch jugendliche Leser:innen könnten dies etwas seltsam finden. Zudem zieht sich dieser Tonfall durch den kompletten Roman und unterscheidet nicht zwischen den einzelnen Perspektiven der drei Protagonist:innen, wodurch die Stimmen ziemlich ähnlich klingen - auch die der Erwachsenen.

Trotz dieser kleineren Kritikpunkte ist "Heul doch nicht..." ein berührender Jugendroman geworden, der für eine Altersgruppe ab 13 Jahren empfohlen wird. Gerade auch an Hamburger Schulen kann ich ihn mir sehr gut als aufregende Lektüre vorstellen. Den Vergleich mit "Dunkelnacht" verliert er aber recht klar.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.01.2022
Das Versprechen
Galgut, Damon

Das Versprechen


ausgezeichnet

Als die Mutter der 13-jährigen Amor im Jahre 1986 stirbt, herrscht Apartheid in Südafrika. Umso überraschender ist das titelgebende Versprechen, das sich die Schwerkranke von ihrem Mann kurz vor ihrem Tode hat geben lassen: Das Angestelltenhaus auf dem Gutsbesitz der Familie Swart soll in den Besitz des langjährigen Dienstmädchens Salome übergehen. Doch Ehemann Manie nimmt es mit diesem Versprechen nicht zu genau und so ist es an Zeugin Amor, sich für dessen Einhaltung einzusetzen. Ein Kampf, der nicht nur Amor mehr als 30 Jahre beschäftigen wird...

"Das Versprechen" ist der neue Roman des südafrikanischen Autors Damon Galgut, für den er mit dem Booker-Preis 2021 ausgezeichnet wurde. Es ist ein verdienter Preis, denn "Das Versprechen" ist ein Ereignis, ein außergewöhnlicher Roman, der eine schier unglaubliche Intensität ausstrahlt.

Das liegt vor allem an der ungewöhnlichen Art des Erzählens. Wie eine kleine Erzählerdrohne schwebt dieser allwissende Erzähler zwischen den handelnden Figuren hin und her. Oft wechselt die Perspektive mehrfach innerhalb von nur einer Seite. Dabei erinnerte er mich zeitweise an den großen katalanischen Schrifsteller Jaume Cabré, der diese Erzählweise allerdings auf die Spitze treibt und im großartigen "Die Stimmen des Flusses" manchmal gar innerhalb eines einzigen Satzes etwas völlig Neues erzählt. Ganz so experimentell geht Galgut nicht vor. Dennoch gelingt es ihm wirklich fantastisch, sogar kleinste Nebenfiguren so in den Erzählfluss einzubauen, dass man ihren Anteil an der Romanhandlung erst gar nicht richtig einschätzen kann und sich das erzählerische Wunder erst nach und nach entfaltet.

Besonders gelungen ist es, dass der Autor dabei auch vor Tieren und gar Wetterphänomenen keinen Halt macht. Da gibt es zwei Schakale, die wir in einer Nacht begleiten, nur um festzustellen, wie kurz der Weg zwischen Leben und Tod sein kann. Da gibt es einen alles hinwegspülenden Regenguss, der in einer großen Szene gleich mehrere Schicksale miteinander verknüpft. Und es gibt Bob, einen Obdachlosen, der sich eigentlich nur kurz seinem kleinen Geschäft widmen wollte, doch damit die Handlung des Romans fast schon nebenbei auf beeindruckende Art und Weise vorantreibt.

Der Erzähler spielt mit den Figuren, mit den Leser:innen, spricht diese manchmal direkt an, mischt eine Prise Sarkasmus in seine Bemerkungen und verliert darüber die Familie Swart doch nie aus den Augen. Denn letztlich sind es vor allem die drei Swart-Kinder Anton, Astrid und Amor, die sich mit den Folgen des "Versprechens" auseinandersetzen müssen - und daran kläglich scheitern. So verfällt nach und nach nicht nur die Familie selbst, sondern auch ihr Haus scheint - frei nach Edgar Allan Poe - seinem Untergang geweiht.

Doch "Das Versprechen" ist mehr als ein Familienroman. Es ist eine Generalabrechnung mit Südafrika, denn egal ob 1986 oder 2018 - nahezu immer schwingt die Enttäuschung des Erzählers über sein eigenes Land mit. Selbst nach der Apartheid ist dieses Land noch weit entfernt von einer Normalität, wenn es so etwas überhaupt je geben kann. Vom rassistischen Botha über den AIDS-Leugner Mbeki bis zum korrupten Zuma bekommen gleich drei ehemalige südafrikanische Präsidenten ihr Fett weg. Anhand der weißen Familie Swart und ihrer Angestellten macht Galgut nur scheinbar oberflächlich die Auswirkungen dieser Politik deutlich.

So ist "Das Versprechen" ein brillanter Roman geworden, der mich über weite Strecken staunend zurückließ. Staunend darüber, dass es dieser so klug konstruierte Roman geschafft hat, mich gleichermaßen zu bewegen, aber auch immer wieder zum Lachen zu bringen. Staunend vor allem aber auch deshalb, weil ich mir diese enorme Intensität, die das Buch ausstrahlt, manchmal selbst gar nicht erklären konnte.

Bewertung vom 04.01.2022
Erstaunen
Powers, Richard

Erstaunen


ausgezeichnet

Der neunjährige hochbegabte Robin mit Asperger-Syndrom kommt mit der Gesellschaft nicht zurecht. In der Schule eckt er an, zuhause droht ihn die Trauer um die vor zwei Jahren verstorbene Mutter zu ersticken. Sein alleinerziehender Vater Theo bricht mit ihm zu einer gemeinsamen Reise in die Smoky Mountains auf, um ihm die Wunder der Natur zu zeigen und ihn die Welt mit anderen Augen sehen zu lassen, was jedoch nur kurzzeitig Erfolg hat. Um die Behandlung seines Sohnes mit Psychopharmaka zu verhindern, entschließt sich Ich-Erzähler und Astrobiologe Theo, seinen Sohn an einem neuronalen KI-Experiment namens "DecNef" teilnehmen zu lassen - mit schier unglaublichen Folgen für alle Beteiligten...

"Erstaunen" ist der neue Roman des Pulitzer-Preisträgers Richard Powers. Es ist ein in allen Belangen bemerkenswerter, ja erstaunlicher Roman geworden. Zunächst ist da das ungewöhnliche Vater-Sohn-Verhältnis, das vor allem in der ersten Hälfte des Buches eine fast schon spürbare Wärme ausstrahlt. Die Dialoge zwischen Robin, genannt Robbie, und seinem Vater sind klug und man erkennt in jeder Zeile die gegenseitige bedingungslose Liebe, das Vertrauen, aber auch den Respekt voreinander und eine erstaunliche Ernsthaftigkeit. Powers hebt Robbies Sprachbeiträge kursiv vom Rest des Romans ab und erzeugt dadurch nicht nur eine gewisse Intensität, sondern schafft es durch den kleinen Kniff auch, dass man gar nicht erst das Gefühl hat, zu viele Dialoge zu lesen. Liebenswert und originell sind auch die zahlreichen Reisen, die die beiden auf fremde, von Theo ausgedachte Planeten unternehmen. Denn schnell wird klar: Robbie versucht auf seinen schmalen Schultern, das Leid und die Krisen der ganzen Erde auf sich zu nehmen - eine Last, unter der der kluge kleine Junge förmlich zusammenbrechen wird, wenn man diese Welt nicht zumindest in der Fantasie für ein paar Momente verlassen kann.

Als Robbies Probleme auch in der Schule immer größer werden, entschließt sich Theo, seinen Sohn zu einer Art Psychotherapie in KI-Form zu schicken. Beim "neuronalen Feedback" werden dem Jungen die Empfindungen anderer Menschen übertragen, die zuvor an diesem Experiment teilnahmen, darunter ausgerechnet Robbies verstorbene Mutter Aly. Ab diesem Moment wandelt sich "Erstaunen" von einem Vater-Sohn-Roman in einen aktuellen Gesellschaftsroman, in dem Powers sich auf einen US-Präsidenten bezieht, der zwar namentlich nie genannt wird, aber sehr nah an Donald Trump angelehnt ist. Und die "berühmteste 14-Jährige der Welt" heißt zwar nicht Greta Thunberg, sondern Inga Alder, ist der schwedischen Klimaaktivistin aber ansonsten in allen Belangen wie aus dem Gesicht geschnitten. Auch Robbie entwickelt sich - wie seine Mutter - zu einem Tierrechtsaktivisten und Klimaschützer.

In dieser zweiten Hälfte des Romans wirkt "Erstaunen" bisweilen ein wenig zu didaktisch. Die Grundhaltung Robbies und Theos zu den Menschen ist zudem so pessimistisch, dass man sich zumindest sicher sein kann, dass die beiden nie "Im Grunde gut" von Rutger Bregman gelesen haben. Und auch die Emotionalität schwindet ein wenig, denn Robbie wird durch die Behandlung zwar glücklicher, doch eben auch ein Stück weit abgeklärter.

Umso gelungener ist das Finale des Romans, in dem Richard Powers den Kreis zum abermaligen gemeinsamen Vater-Sohn-Ausflug in die Smoky Mountains schließt. Insbesondere in den Naturbeschreibungen des Nationalparks beweist Powers auch stilistisch sein großes Können. Ohne inhaltlich etwas zu verraten, sollte man sich als Leser:in dieses Finale aber vielleicht nicht gerade direkt vor dem Schlafengehen zu Gemüte führen, wie ich es fälschlicherweise tat. Denn "Erstaunen" lässt einen tief bewegt und aufgerüttelt zurück...

Mit "Erstaunen" hat Richard Powers einen Roman veröffentlicht, der wegen seiner Emotionalität lange nachwirkt. Mit Theo und dem ungemein liebenswerten Robbie hat er zudem zwei unvergessliche Protagonisten der amerikanischen Gegenwartsliteratur erschaffen, die die Leser:in

Bewertung vom 29.12.2021
Albwachen
Flarer, Christoph

Albwachen


sehr gut

Seit frühester Kindheit leidet Thomas unter dem Zwang, seine Träume in Realität zu verwandeln. Was noch relativ harmlos mit dem abgerissenen Bein einer Puppe beginnt, entwickelt sich mit zunehmendem Alter zu einem wirklich gewordenen Albtraum...

Der kleine Septime-Verlag hat in den letzten Jahren vermehrt sein glückliches Händchen bei der Auswahl seiner (nicht nur) deutschsprachigen Autor:innen bewiesen. Ob Tobias Sommers geniales "Jagen 135" oder Salih Jamals berauschendes "Das perfekte Grau" - stets zeichnet die Verlagstitel eine gewisse Kompromisslosigkeit, gar Radikalität aus.

In allen Belangen kompromisslos ist auch Christoph Flarers zweiter Roman "Albwachen" geraten. Wobei ich nicht behaupten kann, dieses Buch gern gelesen zu haben. Doch darauf setzt Flarer auch gar nicht.

Mit aller Konsequenz versetzt der Autor seine Leser:innen in die kranken Gedanken eines Neurotikers. Der erste, durchaus bemerkenswerte Satz des Romans lautet: "Thomas stoppte das Metronom und schaltete das Licht aus." Es ist der einzige Satz des kompletten Romans, den wir nicht aus dem Munde des Ich-Erzählers Thomas hören. Denn mit dem Ausschalten des Lichts sind wir auch schon mitten drin in Thomas' Kopf - und werden ihn auf den nächsten knapp 250 Seiten nicht mehr verlassen.

Literarisch wagt Flarer ungemein viel und wird dabei nicht nur auf breite Zustimmung stoßen. Thomas' Sätze brechen schon mal abrupt ab, manchmal heißen sie nur "Ich." Weil es dem Erzähler in diesem Moment einfach nicht möglich ist, seine Gedanken zu ordnen, sie auszuformulieren. Zu furchtbar sind diese, zu albtraumhaft. Diese Unrast überträgt sich durchaus auf den Leser. Manchmal vermischen sich die Buchstaben auch einfach, oder ein irres "Tschack.Tschack.Tschack" platzt aus Thomas heraus. Tagebucheinträge sind nicht nur wegen der Daten unsortiert, auch die Zuordnung von Tagen und Daten stimmen nicht. Auf direkte Rede verzichtet der Autor nahezu konsequent.

Es gelingt auch (anfangs) schwerlich bis (gegen Ende) überhaupt nicht, eine Bindung zum Protagonisten aufzubauen. In den Kindheits- und Jugendszenen verspürte ich noch ein gewisses Mitgefühl mit diesem Jungen, der von so furchtbaren Zwängen und Angstzuständen geplagt ist. Doch mit zunehmender Romandauer ließ dies bei mir nach, weil Thomas ein ganz schrecklicher Egomane ist. "Ich, ich, ich", tönt es aus allen Seiten. Dabei wüsste man gern so viel mehr über Björn beispielsweise, seinen besten Freund, der wohl als Einziger von seinem (Alb-)Traum-Geheimnis weiß und immer zu Thomas steht. Warum auch immer.

An einigen Stellen wusste ich nicht mehr, was Lüge und was Wahrheit ist, weil Thomas es mit letzterer auch nicht so genau nimmt. Mal deckt er seine Lügen im nächsten Moment zwar auf, anderes bleibt aber einfach so stehen und man zögert. Das ging bei mir so weit, dass ich sogar an der Existenz gewisser Figuren zweifelte. Und auch die immer drastischer werdenden Ereignisse hoffte ich als Unwahrheiten abhaken zu können.

In einer besonders bemerkenswerten Szene versucht es Thomas mithilfe seiner Freunde, von denen er erstaunlicherweise einige hat, wenn man ihm glauben darf, mit einem tagelangen Schlafentzug, um anschließend in einen tiefen, traumlosen Schlaf fallen zu können. Hier entwickelt der Text eine immense Intensität, fast eine Art Rausch und die Buchstaben tanzen hin und her.

Im letzten Drittel des Buches war die Lektüre für mich schwer aushaltbar. Zahlreiche explizite Grausamkeiten reihen sich dort aneinander, auf die ich gerade in ihrer Häufigkeit doch hätte verzichten können. Spätestens hier wird bei den Leser:innen wohl auch das letzte Fünkchen Empathie erlöschen. Dennoch gestaltet sich das Finale so rasant und spannend, dass man doch wieder mit Thomas auf ein gutes Ende hofft. Ob sich diese Hoffnung erfüllt, lasse ich natürlich offen. Fest steht aber, dass der letzte Satz mindestens genauso bemerkenswert ist wie der erste...

Christoph Flarers "Albwachen" ist ein Roman, den ich im Grunde nicht

Bewertung vom 26.12.2021
Die Brücke der Ewigkeit / Die Baumeister Bd.1
Hector, Wolf

Die Brücke der Ewigkeit / Die Baumeister Bd.1


sehr gut

Als der zwölfjährige Jan Otlin 1342 im mittelalterlichen Prag in letzter Sekunde seine Mutter nach einem Brückeneinsturz aus den Fluten der Moldau reißen kann, schwört er zu Gott, er werde eine neue Brücke bauen, die ewig halten solle. 15 Jahre später bekommt er die Möglichkeit, diesen Schwur einzulösen. Allerdings ist es nicht nur die Moldau, die ihm bei der Erfüllung Steine in den Weg legt...

"Die Brücke der Ewigkeit" ist der neue Historische Roman von Thomas Ziebula, den er diesmal unter dem Pseudonym Wolf Hector veröffentlicht hat.

Schon der Prolog lässt die Leser:innen stutzen, denn Hector betitelt ihn mal eben "Das Ende" und lässt darin den Protagonisten Jan Otlin im Jahre 1367 zurückblicken auf die Ereignisse der letzten 25 Jahre. Ein gewagter Kniff des Autoren, der zu Beginn der eigentlichen vier Teile des Romans jeweils zu diesem Prolog zurückkehrt und darin seine Figuren nicht nur Geschehnisse der Handlung zusammenfassen lässt, sondern auch schon andeutet, auf was sich die Leser:innen einstellen können. Ich hatte zunächst meine Zweifel, ob diese Vorgehensweise funktioniert, da ich befürchtete, schon zu viel über die Romanhandlung zu erfahren. Im Laufe der Lektüre hat sich diese Art des Erzählens in meinen Augen tatsächlich aber als großes Plus erwiesen. Denn sie ermöglicht es Wolf Hector nicht nur, den mit 600 Seiten ohnehin schon ein wenig zu langen Roman zumindest etwas zu straffen, sondern baut zusätzlich eine so große Spannung auf, dass ich unbedingt wissen wollte, wie es zu den ungeheuerlichen Ereignissen kam, über die ich hier natürlich kein Wort verlieren werde.

Als äußerst gelungen habe ich zudem die Figurenkonstellation empfunden. Mit Jan Otlin, seiner späteren Ehefrau Maria-Magdalena und seinem Gegenspieler Rudolph von Straßburg präsentiert uns Hector drei nahezu ebenbürtige Protagonist:innen, aus deren Perspektiven die Leser:innen immer wieder neue Blickwinkel auf die Handlung erhaschen. Positiv ist dabei die Ambivalenz der Figuren hervorzuheben. Jan Otlin entwickelt sich vom kindlichen Lebensretter zum traumatisierten Zauderer und kurz darauf zurück zum Lebensretter. Trotz dieser Extreme und der auch im weiteren Verlauf zahlreichen Fehler und Verfehlungen, die Jan begeht, nahm mich die Figur für sich ein. In der Figur der Maria-Magdalena schimmern fast noch größere Themen durch, obwohl der Charakter sich selbst gar nicht so sehr entwickelt wie Jan Otlin. Fast beiläufig geht es bei Maria-Magdalena um Themen wie sexuelle Identität und Liebesbeziehungen mit Menschen mit psychischen Erkrankungen. Erstaunlich und ungewöhnlich für einen Historischen Roman. Und auch Antagonist Rudolph von Straßburg ist Hector gelungen. Die Figur vereint zwar viele der sieben biblischen Todsünden auf sich, doch trotzdem habe ich in ihm durchweg einen eher tragischen Charakter erkannt, dessen Handlungen ich zwar selten gutheißen, aber zumindest immer nachvollziehen konnte.

Schillernd sind auch die Nebenfiguren des Romans, von denen vor allem die historische Figur des Predigers Militsch von Kremsier und die fiktive Heilerin, Wahrsagerin und Freudenhaus-Chefin Ricarda Scorpio herausragen. Letztere kann fast alles - außer richtige Voraussagen zu treffen. Nicht die beste Voraussetzung für ihre Tätigkeit, die nicht nur dadurch irgendwann den Zorn so ziemlich jeder anderen Figur auf sich zieht.

Insgesamt ist "Die Brücke der Ewigkeit" vielleicht 50 bis 100 Seiten zu lang geraten. So hätte ich beispielsweise nicht nur auf die zahlreichen Liebesszenen verzichten können, in denen es sehr oft um irgendwelche "lodernden Leidenschaften" geht. Ohnehin wäre Hector auch mit weniger Adjektiven ausgekommen, als er sie verwendet.

In der zweiten Hälfte des Romans war ich der zahlreichen doch sehr gewalttätigen Schilderungen irgendwann überdrüssig. Da wird gemordet, vergewaltigt, enthauptet und gefoltert ohne Unterlass. Zudem entwickelt sich ein gewisses Intrigantenstadl, bei dem ich irgendwann nicht mehr ganz folgen konnte, wer sich