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Insgesamt 164 Bewertungen
Bewertung vom 16.11.2019
Die Zeuginnen
Atwood, Margaret

Die Zeuginnen


ausgezeichnet

Vive la sororité!

Im Nachwort beschreibt Margaret Atwood, warum sie ihn geschrieben hat. Vielleicht spoilert dieses Zitat ein wenig, aber jeder, der „Der Report der Magd“ gelesen hat, vermutet dieses Tatsache ohnehin:

„Eine Frage zum Report der Magd wurde immer wieder gestellt: Wie kam es zum Sturz vom Gilead? Die Zeuginnen wurde als Antwort auf diese Frage geschrieben.“

Heimkehr nach Gilead
Tatsächlich fühlt sich das Buch ein Bisschen wie eine Heimkehr an Gilead an. Schwestern von Gilead, wir lassen euch nicht im Stich: Vive la sororité! (wie ich als Response auf meine Rezension zu „Der Report der Magd bekommen habe, die ihr hier findet.) Diesmal können wir sogar den Gedanken von gleich drei Gilead-Frauen folgen. Und auch hier ist wieder eine starke Identifikation da, die Atwood erzeugt: Während es aber bei „Der Report der Magd“ noch die mit der Magd war, die den Umschwung von der liberalen zur repressiven Gesellschaft zunächst nicht wahrhaben wollte, schafft Atwood nun bei „Die Zeuginnen“, dass ich mich mit einer sehr unkomfortablen Figur identifiziere: Mit einer derjenigen, die das System stützt, mit einer Tante.
Wie man von Opfer zur Täterin wird, das ist das Eindrucksvolle an „Die Zeuginnen“. Ich denke, die meisten von uns möchten in so einer Situation gerne Held*innen sein oder zumindest nicht zu Mitläufern verkommen. Täter*in, absolut unvorstellbar! Aber erst, wenn man das erlebt, zeigt sich, ob man zu seinen Werten steht oder einem das eigene kleine Bisschen leben nicht doch näher liegt. Oder das der Kinder, Enkel, Liebespartner.
Das ist die Stärke dieses Buches, wie wir an Tante Lydia herankommen und wir sie trotzdem noch immer verabscheuen können. Verständnis, nicht Vergebung, auch, wenn sie sich mit ihren Zeilen anderes erhoffen mag.

Drei Gilead-Frauen
Mir gefiel die klare Trennung der drei Erzählerinnenstimmen. Die Entscheidung für die klaren Embleme, die den jeweiligen Verfasserinnen vorangestellt werden. Diese Embleme sind so ikonografisch, dass sie sogar meinem 7,5-jährigen Sohn aufgefallen sind und er mich gefragt hat, was das Cover und die Icons bedeuten sollen.
Als dann alle Fäden zusammenlaufen, bekam das Ende eine Zwangsläufigkeit für mich, bei der schon fast alles zu glatt läuft. Und es wurde recht schnell abgehandelt.
Ein moralisches Dilemma wurde recht ausgeblendet, bewusst, um es drastischer zu machen, aber gleichzeitig fand ich das schade.

Vergleich zum „Report“
„Die Zeuginnen“ kann vielleicht nicht an „Der Report der Magd“ heranreichen. Aber das Buch gibt Hoffnung, wovon beim Report noch wenig zu spüren war. Hoffnung kann trügerisch sein und oftmals lassen wir uns von ihr viel zu schnell davon einlullen. Aber ganz ohne Hoffnung kann keine*r von uns gegen die Ungerechtigkeit und für eine bessere Welt kämpfen.
Daher finde ich, dass „Die Zeuginnen“ eine wichtige Aktualisierung und Ergänzung zu „Der Report der Magd“ darstellt. Leider werden Frauen sowie marginalisierte Gruppen leider immer noch mit höheren Maßstäben gemessen als Männer. Atwood wurde als Anwärterin auf den Literaturnobelpreis 2019 gehandelt, bekommen hat die Auszeichnung schließlich ein weißer alter Mann, der nicht nur eine Exfreundin misshandelt hat, sich lachend am Ort eines Massakers fotografieren ließ, sondern auch noch mit den rechtsradikalen Kräften Europas auf Du-und-Du steht. Da möchte ich dann einfach nicht mehr so einen Vorwurf hören, dass eine Autorin wie Atwood zu zahm sei, wie ich es im Feuilleton gelesen habe. Denn sie bleibt schmerzhaft, erst recht, wenn sie erzählt, dass Revolutionen auch gerne mal ihre Töchter fressen.

Fazit
Atwood gibt hier Hoffnung, wovon in „Der Report der Magd“ noch nichts zu spüren war. Wir brauchen Hoffnung, gerade, wenn die Zustände vielerorts beängstigender werden. Ich vergebe eine Leseempfehlung und runde meine 4,5 Sterne auf 5 auf.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.11.2019
Mein Mauerfall
Breinl, Juliane

Mein Mauerfall


ausgezeichnet

Der Mauerfall im großen Kontext für Kinder spannend erzählt

„Mein Mauerfall“ leistet für ein Kindersachbuch etwas sehr Außergewöhnliches. Juliane Breinl zeigt darin, dass der Mauerfall kein isoliertes geschichtliches Ereignis war, sondern vom Davor ebenso maßgelblich beeinflusst war – wie er in die Zukunft wirkt. Denn Geschichte ist niemals monokausal, auch, wenn sie häufig so konstruiert wird. Die Autorin ist sich dessen bewusst und vermittelt mit ihrer Erzählweise diese wichtige Tatsache auch den jungen Leser*innen.

Eine Familiengeschichte und Zeitzeug*innen
Okay, das hört sich jetzt viel abstrakter an, als das Buch tatsächlich ist. Denn all diese Fakten bindet Breinl in eine spannende Geschichte um den 12-jährige Theo ein, der zum 50. Geburtstag seiner Mutter und deren Zwillingsschwester fährt. Und da beide ostsozialisiert sind, bricht zu dieser Familienfeier nicht nur der alte Streit über Ost und West auf. Gleichzeitig kumuliert hier ganz viel Wissen über knapp 90 Jahre deutsche Geschichte. Denn die Wende wie die DDR existierten nicht im luftleeren Raum und können nicht ohne Nazi-Diktatur und Shoah gesehen werden. Dieser wichtigen Einordnung kommt „Mein Mauerfall“ trefflich nach. Dabei findet die Autorin sehr klare Worte, wie wenn der junge YouTube-Historiker Jo, den Theo immer übers Netz kontaktiert, feststellt:
„So einen wie mich, im Rollstuhl, mit Rasta-Mähne und Om-Tattoo, hätten die Nazis hundertpro umgebracht!“
Abgerundet wird diese Familiengeschichte von eindringlichen Zeitzeug*innen-Berichten, darunter z.B. auch die Kinderbuchautorin Alice Pantermüller, die als Art Tagebuch-Einträge mit Fotos erzählt werden.

Gelungene Einordnung und wichtige Bezüge
Die Autorin weitet immer wieder den Blick. Sehr eindringlich stellt sie fest, dass die Wirtschaftswunderjahre im Westen erst durch die sogenannten „Gastarbeiter“ aus Italien, Griechenland oder der Türkei ermöglicht wurden, die dafür billigere Löhne akzeptieren mussten. Und Breinl spart auch das Problem mit dem Rechtsextremismus in Ost (und West) nicht aus und auch nicht die Morde des sogenannten NSU. Oder die Überlegung, wie sich heute technischen Möglichkeiten durch die Stasi hätten nutzen lassen (Stichwort Vorratsdatenspeicherung). Die undemokratische Seite der DDR wird klar geschildert, dennoch zeigt die Autorin auch immer, welche positiven Seiten dieses Land hatte, bspw., dass Konsum wenig Rolle spielte und die DDR wenig Verpackungsmüll produzierte.

Unsere Lektüre
Mein Sohn ist ein Wende-Kind, weil seine Eltern sich ohne den Mauerfall nie kennengelernt hätte. Darum wollte er unbedingt mitlesen. Das Buch richtet sich an Kinder ab 10 und die Zusammenhänge sind schon sehr komplex und mit der Shoah, 2. Weltkrieg und auch den nicht gewaltfrei. Ich bin war positiv überrascht, dass die Breinl das Buch generell so geschrieben hat, dass schon mein 7,5-jähriger gut zurecht gekommen ist. (Wir haben allerdings sehr kurze Leseabschnitte gelesen.) Ein ein paar Stellen waren mir einige Formulierungen zu betont „cool“ und flapsig, mein Sohn fand dies aber tatsächlich cool, also bin ich an dieser Stelle wohl nicht die richtige Zielgruppe. Die recht simple Konstruktion des rückwärts gewandten „Kommunisten“-Opas war mir etwas zu schlicht und der YouTuber hätte mir als realer Protagonist vor Ort noch besser gefallen, aber auch das fand mein Sohn witzig. Das Layout mit den vielen historischen Fotos und guten Grafiken rundeten unser Leseerlebnis ab.

Fazit
Ein sehr spannendes Geschichtsbuch für Kinder, dass gerade durch seinen recht allumfassenden Blickwinkel besticht. Das Layout ist frisch und modern, die historischen Fotografien toll eingebunden.
Wir vergeben 4,5 von 5 Sternen und empfehlen „Mein Mauerfall“ gerne weiter (insbesondere zum gemeinsamen Lesen).

Bewertung vom 16.11.2019
Mino und die Kinderräuber
Supino, Franco

Mino und die Kinderräuber


ausgezeichnet

Im Krieg passieren leider auch Kindern schlimme Dinge, aber hier können sich die Kinder zum Glück selbst retten.

Spannend und empathisch

„Mino und die Kinderräuber“ erzählt davon, dass im Krieg auch mit Kindern schlimme Dinge passieren könnten. Kindgerecht bleibt Franco Supino mit seiner Geschichte dadurch, dass die Kinder sich retten können und dass sie selbst diese Geschichte erzählen. Trotz dieses ernsten Themas kommen Phantasie, Spannung und Humor nicht zu kurz. Besonders haben mir die erklärenden Kapitelüberschriften gefallen, die uns immer richtig neugierig gemacht haben.
Chiara, Selma und Drago sollen für die Schule eine Abenteuergeschichte schreiben. Und Chiara erinnert sich an eine Geschichte ihres verstorbenen Nonnos, ihres Großvaters, aus Süditalien am Ende des 2. Weltkriegs. Und diese erzählen sie dann gemeinsam.

Die harte Realität
Ich persönlich halte meinen Sohn von Erwachsenennachrichten fern, weil die mich manchmal selbst überfordern und unvermittelt treffen. Aber wir sprechen mit ihm über aktuelle Geschehnisse und sehen „Logo“ gemeinsam mit ihm. Er weiß von der drohenden Klimakatastrophe, vom Krieg in Syrien (schon durch seinen Kindergartenfreund damals), auch vom 2. Weltkrieg (alleine über seine Großeltern) und dass die Nazis die Shoah verbrochen haben. Ich denke, man kann mit Kindern über diese Themen sprechen, ja, eigentlich muss man es ab einem gewissen Alter tun.

Schafft Empathie für die (Ur-)Großeltern – und für Kinder in Kriegsgebieten
Wichtig finde ich das Thema Krieg auch, weil es die Empathie schärft für Menschen, die sich leider, leider vor diesem „Thema“ nicht davonlaufen können, weil sie dem Krieg tagtäglich ausgesetzt sind. Weil der Krieg, Angst, Hunger, Vertreibung, Gewalt und Bomben leider Teil ihres Lebens geworden ist. Unsere Kinder haben ganz automatisch Empathie für diejenigen, die leiden. Und wir brauchen diese Empathie immer wieder, weil wir als Erwachsene darauf zurückgreifen müssen. Denn manche Menschen haben diese Empathie anscheinend leider vollends verlernt. Ich denke, dass mein Sohn nun auch seine Großmutter und seinen Großvater besser verstehen kann, wenn die ab und an über Krieg und Hunger erzählen und über die Angst vor den Sirenen. Bei beiden haben diese Erfahrungen die Überzeugung von „Nie wieder!“ sehr gefestigt.
„Mino und die Kinderräuber“ bietet einen ganz einfühlsamen Ansatz, wie sie quasi in deren Schuhe schlüpfen können. Ohne, dass es unerträglich wird. Das ist eine große Leistung des Autors Franco Supino.

Gemeinsames Lesen
Auch, wenn es nie angesprochen wird, weil die Kinder „nur“ als Arbeitssklaven „eingesetzt“ werden sollen, spielt für mich schon beim Wort „Kinderräuber“ die Gefahr von sexuellen Übergriffen gegenüber Kindern mit hinein. Ich habe es zum Anlass genommen, das meinem Sohn behutsam ein erneutes Mal darüber zu sprechen, auch, dass dies nicht nur die anonymen „Bösen“ sein können. Ich denke daher aber, dass sich das Buch daher besser zum gemeinsamen Lesen eignet, als die Kinder damit alleine zu lassen.
Und dann geht es noch um Trauer und Verlust, denn Chiara verarbeitet mit der Geschichte auch den Tod ihres Großvaters. Das ist wehmütig und schön zu lesen. Und auch hier hilft, wenn die Kinder das gemeinsam mit einer Bezugsperson lesen können.

Fazit
Wir empfehlen „Mino und die Kinderräuber“ gerne weiter zur gemeinsamen Lektüre, vergeben 4,5 Sterne und runden auf.

Bewertung vom 16.11.2019
Mein Freund mit Herz und Schraube / ROKI Bd.1 (2 Audio-CDs)
Hüging, Andreas;Niestrath, Angelika

Mein Freund mit Herz und Schraube / ROKI Bd.1 (2 Audio-CDs)


sehr gut

Dieser Roboter lässt sich schwerer hüten als ein Sack Flöhe.

Roboter sind schon cool für Kinder und mit „ROKI - Mein Freund mit Herz und Schraube“ zeichnen die Autor*innen Angelika Niestrath und Andreas Hüging ein besonders liebenswertes Exemplar. (So dass wir als Erwachsene unsere Horrorvorstellungen von echter K.I. vielleicht auch ein wenig vergessen können.)
Im Lagerschuppen in Pauls Hinterhaus bastelt der Wissenschaftler Adam an einem Geheimnis. Bald stellt sich heraus, das ist ein selbstlernender Roboter, den Paul ROKI nennt, wie ROboterKInd. Und ROKI ist neugierig, darum hat er auch immer wieder ab.
Den damit verbundenen Perspektivwechsel finde ich ganz wundervoll: Die Kinder können sich damit identifizieren, wie sich die Verantwortung anfühlt, die man als Eltern für sein Kind hat oder als größeres Geschwisterkind für die jüngeren.
Die Autor*innen liefern uns viele witzige Ideen, wie eine Katze, die ganz heiß auf Pizza ist, und ein Affenballett, bei dem die Zoobesucher mitmachen. Schön fand ich auch, dass ein Berliner Kietz hübsch mitgespielt wird. Kleine Abstriche mache ich ein Bisschen beim Plot: Wenn ROKI schon dauernd abhaut und gleichzeitig von zwei Männern verfolgt wird – warum kann man da nicht mehr Sicherheitsmaßnahmen ergreifen? Aber meinen Sohn hat das nicht gestört und ich hatte trotzdem Spaß an der Geschichte.
Und man bekommt auch ein Gefühl dafür, wo Stärken und Schwächen einer Künstlichen Intelligenz sind. Für alle Kinder, die sich für Roboter und K.I. interessieren, möchte ich zusätzlich noch das wundervolle Buch „Hello Ruby – Wenn Roboter zur Schule gehen“ empfehlen (hier meine Rezi dazu).

Das meint mein 7,5jähriger Sohn
Ich finde das Buch sehr spannend. An den Figuren mochte ich, dass sie alle etwas anders sind. ROKI ist sehr lustig und mir gefällt, dass er wegläuft und man Probleme bekommt, wenn man ihn eine Sekunde nicht an der Hand hat. Paul ist cool, weil er auf ROKI aufpassen will, aber manchmal gelingt es ihm nicht. Ich bin Paul, weil ich nicht so viel weglaufe, aber ich will so viel lernen wie ROKI. Und so passieren ganz viele Abenteuer. Ich vergebe 5 von 5 Robotern (also Sterne).

Zum Hörbuch
Oliver Rohrbeck als Sprecher fanden wir total charmant und auch seine verzerrte Computerstimme als ROKI hat viel Spaß gemacht. Einzig die Musik, denn auf der CD finden sich mehrere Lieder, die die Geschichte widerspiegeln, war mir persönlich zu sehr Kinderpop. Meinem Sohn haben die Lieder aber gefallen.

Fazit
Eine sehr witzige Abenteuergeschichte. Wir freuen uns schon auf den zweiten Band „ROKI - Kuddelmuddel im Klassenzimmer“ und vergeben 4 Sterne.

Bewertung vom 16.11.2019
Der kleine Fuchs liest vor. Zauberhafte Prinzessinnen-Geschichten
Orso, Kathrin Lena

Der kleine Fuchs liest vor. Zauberhafte Prinzessinnen-Geschichten


ausgezeichnet

Niemand muss den üblichen Normen entsprechen. Auch Prinzessinnen nicht!

Prinzessinnen in einem rosa Erdbeerhaus und mit hellblauem Hintergrund? Ja, das könnte auch ganz furchtbar werden, aber von „Zauberhafte Prinzessinnen-Geschichten“ lasst Euch bitte, bitte nicht abschrecken. Denn was auch ein rosa-hellblauer Albtraum sein könnte, macht Kathrin Lena Orso in der Reihe „Der kleine Fuchs liest vor“ zu einem amüsanten (Vor-)Leseerlebnis mit Held*innen, die eben nicht üblichen Normen entsprechen. Damit hat sie das Zeug zum diversen Klassiker für Vor-Schüler*innen.

Eigentlich ist kein Klischee mädchenhafter als Prinzessinnen und ich habe als Kind auch Geschichten über solche Figuren geliebt, vielleicht, weil sie da wenigsten in die Nähe der Selbstbestimmung gekommen sind. Orso nimmt dieses Klischee nun und gibt ihm in jeder Geschichte einen neuen Dreh, so wird z.B. auch die „Jungfrau in Nöten“ umgedreht. Alle acht Geschichten spielen mit Rollenbildern und Klischees und zeigen Alternativen zu klassischen Mädchen-Zuschreibungen auf. Sollten Prinzessinnen nicht brav und ordentlich sein und still beim Tee sitzen? Nein, nicht, wenn man der Königin glaubt. Im Vordergrund stehen tolle Mädchenfiguren, aber in einer Geschichte darf auch ein Junge die Hauptfigur sein, der ein Kleid anziehen möchte. Genial, dass die Mutter das einfach total unkompliziert besorgt, und seine Freunde werden für ihr Auslachen schnell eines besseren belehrt. Hier schwingt auch das Transthema mit und Autorin Orso und Illustratorin Stéffie Becker achten bei den Bildern auf die Repräsentation von dunkelhäutigen Prinzessinnen. In dieser Form kann mein demokratisches Herz sogar mit der Monarchie mitgehen.

Als Zielgruppe ist ab 5 angegeben, daher setzen die Geschichten jetzt nicht auf atemberaubende Spannund, trotzdem haben sie meinen 7,5jährigen Sohn und mich richtig gut unterhalten. Geübte Erstleser*innen können die Geschichten schon selbst lesen, erst recht, da sie recht kurz sind. Zudem punktet die Autorin mit ganz viel Sprachwitz, z.B. heißt die Hundeprinzessin „Hundegunde“, Reim und sprechenden Name packt die Autorin in eine scheinbar antiquierte Vornamenform. So etwas begeistert mich.

Wir haben die Geschichten wirklich sehr genossen. Divers und intersektionell, ein tolles Kinderbuch zum Vorlesen und für geübtere Erstleser*innen.

Bewertung vom 15.11.2019
Unser Mond
Wagner, Jennifer

Unser Mond


ausgezeichnet

Für Mondsüchtige und Wissenschaftsbegeisterte

Mein Sohn (knapp 8) ist Weltraum begeistert, was durch den 50. Jahrestag der Mondlandung nochmal verstärkt wurde, so dass er sogar auf die maßstabsgetreue LEGO-Apollo 5 gespart hat. Das bedeutet auch, wir haben schon einiges an (Kinder-)Sachbüchern gelesen und Dokus zu diesem Thema gesehen haben. Trotzdem gefällt uns „Unser Mond - Eine kosmische Wissensreise“ ganz besonders gut. Bei jeder Zeile spürten wir die wissenschaftliche Genauigkeit einerseits und die Begeisterung für das Thema andererseits. Die Erklärungen sind so prägnant wie exakt, so kindgerecht wie spannend. Ich gebe zu, das hört sich vielleicht irgendwie trocken an. Aber das Buch hat wirklich etwas ganz zauberhaft Wissenschaftliches. Ich habe lange darüber gegrübelt, wie ich es besser beschreiben könnte, aber vielleicht spürt man einfach den Geist, dass das Buch in Kooperation mit dem Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt (DLR) entstanden ist.
Selbst bei so etwas „Banalem“ wie der Erdrotation fügt die Autorin Jennifer Wagner noch ein Detail hinzu, das ich bislang in Kinderbüchern noch nicht gefunden habe: Das Kippen der Mondsichel, wenn man nach Süden reist.

Aktuell, international und mit Frauen
„Unser Mond“ ist, wie im Klappentext angegeben, auf ganz aktuellem Stand und bezieht Forschungsergebnisse aus 2019 mit ein. Man könnte vielleicht meinen, dass dies bei einem Kinderbuch zu vernachlässigen sei. Aber dies zeigt auch dies die Liebe zum Detail und gibt eine Ahnung davon, warum Aktualität in der Wissenschaft wichtig ist. So wird auch ein Ausblick auf aktuelle Forschungen gegeben, wie die Entwicklung eines „Moon Village“, in dem Wissenschaftler auf dem Mond leben können, oder der Anbau von Nahrungsmitteln in der Schwerelosigkeit. Es erkennt auch die Leistungen anderer Forschungsnationen jenseits der USA und Russland an, und zeigt, dass gerade China und Indien in den letzten Jahren wichtige Entdeckungen bei der Erforschung des Weltalls erzielt haben. Dass bislang nur Männer auf dem Mond waren, ist leider ein historischer Fakt, aber „Unser Mond“ bezieht trotzdem ein paar Frauen im Buch mit ein.

Selber forschen!
Das Highlight für meinen Sohn war die vordere Innenseite, auf der jene 12 Menschen mit einem Steckbrief geehrt wurden, die den Mond bislang betreten haben. Ein 13ter Steckbrief bleibt für die*den Leser*in dieses Buches frei. Die Fragen beim Mondrätsel waren toll formuliert und haben Spaß gemacht, auch, wenn sie „mein“ Mondfan nach der Lektüre problemlos beantworten konnte. Zwei, drei Details hätte ich aber vorher auch nicht aktiv beantworten können. Die vier Experimente ganz zum Schluss des Buches müssen wir noch nachholen, wir sind aber schon ganz gespannt darauf. Besonders gerne will mein Sohn endlich mal die Mondkrater mit Mehl und Kakao und unterschiedlichen kollidierenden Objekten nachstellen. Aber das machen wir vielleicht lieber mal im Garten.

Fazit
Tolles Sachbuch für Kinder, dass Lust auf Wissenschaft macht. Wir sind begeistert und vergeben 5 Raketen auf dem Weg zum Mond.

Bewertung vom 12.11.2019
Eisbären
Raiß, Jochen

Eisbären


ausgezeichnet

Wie absurd ist der Mensch? Flohmarktfunde: Menschen in Eisbärkostümen, gesichtet angesichts der Klimakrise.

Der Eisbär und die drohende Klimakatastrophe

Die Verknüpfung von Eisbär mit der Klimakrise ist bei mir so stark, dass ich dieses Buch unbedingt lesen wollte. In den Flohmarktfunden von Jochen Raiß steckt so viel Absurdität: Schwarzweißfotografien, auf denen Menschen im Eisbärkostüm zu sehen sind. Diese Eisbären sind ein Accessoire bei Urlaubsfotos am Meer und in den Bergen oder auf Familienfeiern.

Dass der Eisbär zum Sinnbild für die Klimakrise geworden ist, ist leider nicht unproblematisch. Sein Lebensraum scheint viel zu weit von uns weg, als dass wir sehen könnten, wie stark die Klimakrise uns selbst betrifft. Dabei ist das doch genau der Hauptfehler in der Kommunikation über die Klimakrise, dass die lokale Klimawandelfolgen bislang nicht genug deutlich werden. (Erst recht, wenn man dazu noch gegen gezielte Missinformation von Seiten der Industrie wie im Fall von ExxonMobil vorgehen muss.) Für dieses Kommunikationsdefizit, das dazu beiträgt, dass wir den Kampf gegen die drohende Katastrophe verlieren könnten, ist der Eisbär aber ein nicht minder treffliches Symbol. Norbert Thoma, der Jochen Raiß’ Buch mit einem prägnanten Text einführt, schreibt in seinem ersten Satz: „Es heißt, der Eisbär sei in Zeiten des Klimawandels das beliebteste Tier der Erde.“ Auch hier wieder die Absurdität. Muss etwas erst bedroht sein, bevor wir es zu schätzen wissen? Wie absurd, dass Raiß überhaupt so viele Eisbären-Fotografien finden konnte.

Auf den Bilder in Raiß’ Buch ist der Eisbär immer außerhalb seines natürlichen Habitats. Fast, als wäre dieses schon komplett zerstört. Schon längst treibt der Hunger Eisbären in die Städte der Menschen, Hunger aufgrund des menschengemachten Klimawandels. So niedlich wie die Kostüme auf den Fotografien ist der Eisbär dort nicht. Warum gehe ich eigentlich von einem männlichen Eisbären aus? Und ich schreibe die ganze Zeit von „der Eisbär“, aber natürlich ist es nie der Eisbär. Es sind immer Menschen, die sich in ein Kostüm gesteckt haben. Wie absurd ist der Mensch, wie absurd, wenn wir durch die Menschheit aussterben.

Mein Lieblingsbild in diesem feinen Bildband ist ein Blick von oben auf zwei Parkbänke. Der Eisbär steht etwas verloren davor. Die Frau auf der Bank interessiert sich nicht für ihn. Der Eisbär steht dort, wie bestellt und nicht abgeholt. Ein weiteres Bild: Keck läuft der Eisbär neben einem Mann her, der voller Selbstbewusstsein mit einem (Whiskey?)-Glas in der Hand ebenfalls läuft. Ein Mann von Welt. Stolz steht die Familie neben dem neuen Automobil: Wenn das Bild extra gestellt worden wäre neben dieser CO2-Schleuder, wäre es schon zu überprägnant. Es geht ums Posen, um die Selbstdarstellung, jedenfalls bei uns Menschen. Der Eisbär auf Skiern, Kuscheln mit dem Eisbären. Der Eisbär imitiert die Körperhaltung seiner Kundin, stützt die Hand ebenso auf wie sie. Die Unterschiede in den Kostümen sind auffällig und auf jedem Bild zeigt sich, wie viel Aufwand Menschen für solch ein Kostüm treiben. Wie liebevoll wir uns um etwas so Banales kümmern. Vielleicht besteht Hoffnung, wenn wir uns so liebevoll für unsere Mitmenschen gegen so etwas Lebensbedrohliches wie die Klimakrise kümmern.

Fazit
Ein interessantes Buch mit Fotografien vom Flohmarkt, das zu tiefen Betrachtungen einlädt. Mir hat es sehr gut gefallen und ich vergebe 5 von 5 Sternen.

Bewertung vom 04.11.2019
Das flüssige Land
Edelbauer, Raphaela

Das flüssige Land


ausgezeichnet

Absurdität und Lethargie angesichts der drohenden Katastrophe. Zeit und Physik lösen sich in Edelbauers faszinierendem Roman auf.

Unschärfe als Prinzip

„Das flüssige Land“ von Raphaela Edelbauer hat mich mit jeder Zeile fasziniert. Einerseits passiert nichts, andererseits aber so viel: Menschen sterben, alten Verbrechen werden vertuscht, die Heimat bricht auseinander.
Das Buch präsentiert uns als Leser*in nicht offensichtlich, wozu wir hiermit gebeten sind. Meist nervt mich das in Büchern tierisch, hier bekam das Mäandernde eine eigene Qualität, weil ich mich so mit der Protagonistin ganz auf das Verwirrspiel Groß-Einland einlassen konnte.
Ich möchte nicht zu viel vom Plot verraten, nur so viel: Die Ich-Erzählerin Ruth verliert beide Eltern bei einem Autounfall und macht sich auf die Suche nach Groß-Einland, weil die beiden dort begraben werden wollten. Und dieser Ort folgt seinen ganz eigenen Gesetzen, aber zu allererst kämpft er gegen sein Verschwinden angesichts eines monströsen Loches.

Lethargie, Absurdität und Grauen
Die Lethargie und die Absurditäten angesichts der drohenden Katastrophe ist das, was die Autorin so meisterlich schildert. Anfangs klingt dies alles nur an, aber dann werden die Bezüge zur drohenden Klimakrise, der Vernichtung der Umwelt, unaufgearbeiteter Vergangenheit, Antisemitismus, Rassismus, Verschwörungstheorien und der Sehnsucht nach einfachen politischen Lösungen immer deutlicher. Und dann das Grauen.
„Siebenhundertfünfzig verschwundene Menschen und eine Gemeinde, die quasi über Nacht zur Monarchie zurückgekehrt war.“
„Das flüssige Land“ folgt einer kafkaesken Tradition, in der die Absurdität die Norm ist. Gleichzeitig bedient sich Edelbauch beim Fantasy-Genre, oder vielleicht doch bei Science Fiction, weil sie für ihre Welt Erklärungen in der Physiktheorie findet. Das macht sie so geschickt, dass ich mich zwischendrin schon fragte, ob das Doppelspaltexeriment nun nur ihre Erfindung sei oder doch eine physikalische Realität. (Es ist eine, falls Ihr Euch das auch fragen solltet.) Selbst die Blockuniversumstheorie, über die Protagonistin Ruth ihre Habilitation verfasst, ist eine reale physikalische Theorie.
„‚Es handelt sich dabei um eine alternative Theorie über die Zeit. Stellen Sie sich Folgendes vor: Wenn die Zeit irreal ist, wie wir heute wissen, dann sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eigentlich gleichzeitig vorhanden. Ähnlich einem dreidimensionalen Block lassen sich die vermeintlich aufeinanderfolgenden Momente lesen als nahe aneinanderliegend. Das heißt, die Zeit wird eher zu einer Raumrichtung als zu etwas, das die Dinge je verändern würde. Es ist kompliziert.’“
Die Zeit löst sich auf, eben war es noch 2009, plötzlich 2012. Spielt es eine Rolle? Wir sind hier ebenso verloren wie dort.

Das „Drum herum“
Ich kann verstehen, dass manche Leser*innen dieses Buch vielleicht abgrundtief hassen könnten. Edelbauer gibt uns wenig zum Festhalten. Eigentlich halten wir uns an einem Nichts fest, dem Loch, dass sich unter Groß-Einland hindurch frisst. Ich musste an eine Kindergeschichte der beiden philosophischen Schweine Piggeldy und Frederick denken, die u.a. in „Die Sendung mit der Maus“ zu sehen sind. Da heißt es:
„‚Es wird nie ein Loch geben ohne was drum herum‘, sagte Frederick.
‚Aha‘, freute sich Piggeldy, ‚ein Loch ist nur deshalb ein Loch, weil immer was drum herum ist.‘“
Ich habe Edelbauers Roman dafür geliebt, dass sie dieses „Drum herum“ so genial in ihrem klugen und sprachlich toll geschriebenen Roman packt. Und dazu diese treffenden pointierten Beobachtungen wie zu Beginn von Ruths Abenteuer:
„Pensionistengruppen, die ausgerüstet sind, als wollten sie den K2 besteigen, pendeln den ganzen Tag vom einen Eiscafé ins nächste.“

Fazit
Lesen!!!! Wenn man als Leser*in gerne mal ausgetretene Pfade verlässt. 5 von 5 Sternen.

Bewertung vom 30.10.2019
Der Report der Magd
Atwood, Margaret

Der Report der Magd


ausgezeichnet

Atwoods Buch von 1985 ist zurecht ein Klassiker – und leider aktueller den je!

„Es gibt darin nichts, was es nicht schon gibt.“ Dieses Zitat von Margaret Atwood habe ich irgendwann über ihren Roman „Der Report der Magd“ gelesen. Alle Unterdrückungsmechanismen gegenüber Frauen hätten also eine reale, historische Entsprechung. Dieses reale Grauen hat mich jahrelang, ja sogar fast zwei Jahrzehnte lang, davon abgehalten, dieses Buch zu lesen. Leider, denn Atwood ist wirklich genial, und sie gilt zurecht als Klassiker unter den Dystopien UND als Klassiker feministischer Literatur. Das beides oftmals vermischt wird, ist ein Problem, dem Autorinnen immer noch ausgesetzt werden.

Nicht fraternisieren, „sororisieren“

Durch meine lange Weigerung wurde ein sehr merkwürdiger Effekt zusätzlich verstärkt: Nachdem ich so lange das große Drohgebärde erwartet habe, dachte ich mir beim Lesen immer wieder mal: Sooo schlimm ist es auch nicht. Aber das ist das Perfide an so einem System. Solange die Menschen nicht permanent Folter und Gewalt ausgesetzt sind, ist es ja nie ganz schlimm. Darin fügt man sich ein, auch als Leser*in anscheinend, und erst recht als Protagonistin Desfred. Mir lief es kalt über den Rücken, wenn sie den Vollzug der Zeremonie schildert, mit der „ihr“ Kommandant ein Kind mit ihr zeugen soll. Und Desfred betont, dass sie ja zugestimmt habe. Ein Consent, der kein Content ist.
Atwoods geniale Struktur erzeugt permanent einen weiteren Effekt: Das könnte ich sein. Also denke ich mir gemeinsam mit der Protagonistin: Bis hierhin lief es noch ganz gut, vielleicht könnte ich meine Tochter ja wiedersehen, und so füge ich mich ein in die Unterdrückung. Attwood orchestriert diese Unterdrückung, zu der Männer, wie Frauen beitragen. Unterdrückung, die letztendlich auch die Männer trifft. Denn wie jeder guter feministischer Ansatz will auch Atwood die Männer ebenfalls vom Patriarchat befreien.
Was Atwood zudem meisterhaft gestaltet, ist die Spannung. Ich fiebere mit Desfred mit, ich will nicht, dass sie untergeht.
„Fraternisieren heißt, sich wie ein Bruder verhalten. Das hat Luke mir gesagt. Er sagte, es gäbe kein entsprechendes Wort, das sich wie eine Schwester verhalten bedeutet. Sororisieren müsste es heißen, sagte er.“

Geniales Worldbuilding

Genial natürlich auch das Worldbuilding, das den totalitären Staat Gilead ganz plastisch vor Augen auferstehen lässt. Das gilt zum einen für die Strukturen und die Besonderheiten, die Atwood zusammenbaut. Das gilt zum anderen aber auch für die Räume und die konkrete Umgebung, in der sich Desfred bewegt, am eindringlichsten natürlich die Mäntel und Hauben der Mägde. Insgesamt schildert Atwood dies alles so plastisch, dass ich kaum einen Bruch zu meiner Vorstellung wahrnehmen konnte, als ich nun die ersten Folge der Serienadaption gesehen habe.

Aktualität

Obwohl der „Der Report der Magd“ bereits 34 Jahre alt ist, bleibt er aktueller denn je, denn Fundamentalisten aller Art und Religionen sind leider weltweit auf dem Vormarsch. Und um die Aktualität zu erkennen, muss man leider nicht einmal in andere Länder gehen. Dazu muss man mal nur blau-braune Politiker von „unseren Frauen“ reden hören oder den Diskurs um die angebliche Abtreibungs-„Werbung“ im Rahmen von § 219a. Oder die Femizide in Deutschland: Jeden Tag versucht ein Mann, seine (Ex)-Partnerin umzubringen. Die Presse benutzt dafür immer noch häufig absolut unpassende und verharmlosende Begriffe wie „Liebes- oder Familiendrama“.

Fazit

Dieses Buch muss man, und frau erst recht, gelesen haben, besonders, weil reale Vorbilder hat. 5 Sterne! Atwoods Buch ist zurecht ein Klassiker!