Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
sleepwalker

Bewertungen

Insgesamt 501 Bewertungen
Bewertung vom 03.11.2022
Am dunklen Wasser / Akte Nordsee Bd.1
Almstädt, Eva

Am dunklen Wasser / Akte Nordsee Bd.1


gut

Fentje Jacobsen ist 29 Jahre alt und Rechtsanwältin und (zum Leidwesen ihrer Oma) unverheiratet. Sie ist die Protagonistin von Eva Almstädts neuer Krimi-Reihe „Akte Nordsee“, deren erster Teil „Am dunklen Wasser“ ist. Neben ihrer Anwaltstätigkeit arbeitet Fentje auf dem Bauernhof ihrer Großeltern in Nordfriesland mit, auf dem sie auch lebt. Zwischen Schafen und Mandanten schlägt sie sich noch mit ihrer pubertierenden Nichte und ihrem Bruder herum, außerdem versucht ihre Oma ständig, sie „an den Mann zu bringen“. Der Serienauftakt war für mich eine Mischung aus Familienroman und Krimi, wobei die Spannung vor allem am Anfang für mich ein bisschen zu kurz kam. Alles in allem hat das Buch mich aber gut unterhalten.
Aber von vorn.
In der Erwartung, auf der Schafweide einen wildernden Hund oder gar einen Wolf zu finden, macht sich Fentje Jacobsen auf den Weg. Allerdings findet sie im nassen Gras Tobias Asmus, einen verletzten und orientierungslosen jungen Mann. Als sie ihn nach Hause bringt, entdecken sie seine an einem Baum hängende tote Freundin. An Selbstmord glaubt niemand wirklich, für die Polizei ist Tobias der Hauptverdächtige. Fentje übernimmt seine Verteidigung und ist in ihrem ersten Mordfall lange die Einzige, die an seine Unschuld glaubt. Da für die Polizei der Fall klar zu sein scheint, beginnt sie, eigene Ermittlungen anzustellen. Dabei trifft sie immer wieder auf den ehrgeizigen freien Journalisten Niklas John, der seine Chance auf eine große Story wittert. Letztendlich stellen sie fest, dass sie zusammen mehr erreichen können, als jeder für sich und dann verschwinden auch noch zwei Schülerinnen eines nahen Internats. Die tote Freundin von Tobias Asmus war ihre Vertrauenslehrerin. Hat das Verschwinden der beiden mit ihrem Tod zu tun? Fentje und Niklas stehen nicht vor einem, sondern vor mehreren Rätseln.
Was soll ich sagen? Trotz der eigentlichen Krimithemen konnte mich das Buch als Spannungsroman nicht überzeugen, denn dazu fehlte ihm die durchgehende Spannung. Für mich war es eher ein Familienroman mit mehr oder weniger sympathischen und cleveren Hobbyermittlern, die aber oft auch sehr dilettantisch an die Sache herangehen. Viele der Neben-Charaktere sind für mich zu platt und klischeehaft beschrieben, aber die Konstellationen, die der neuen Reihe zugrunde liegen, finde ich sehr interessant, die Charaktere sind gut ausgearbeitet. Auf der einen Seite Fentje, die als Anwältin arbeitet, dazu aber noch zusammen mit Opa und Oma den Hof der Familie schmeißt, der ehrgeizige Journalist Niklas auf der anderen. Da sind Reibereien vorprogrammiert. Dazu steckt Fentje immer noch der Tod ihrer besten Freundin Clara in den Knochen und Niklas ist über die Trennung von seiner Freundin auch noch nicht ganz hinweg. Alles in allem spielen zwischenmenschliche Aspekte spielen für mich eine zu große Rolle, als dass der Krimi mich hätte packen können.
Der Schluss war stimmig, aber keine große Überraschung. Sprachlich war das Buch, das aus verschiedenen Perspektiven erzählt ist, gut zu lesen. Es ist weitestgehend unblutig und punktet mit einigem Wortwitz. Formal hatte ich mit den oft abrupt endenden Abschnitten einige Probleme, vor allem, da ich bei manchen das Gefühl hatte, dass die Geschichte dadurch Lücken bekam, von denen nicht alle gefüllt werden. Erst am Schluss werden alle losen Enden verknüpft und es bleiben keine Fragen offen.
Was hält mich also davon ab, von dem Buch begeistert zu sein? Der zeitweise Dilettantismus der Protagonisten? Dass die eigentliche Protagonistin oft zur Nebenfigur verkommt? Manche abstruse und unlogische Elemente? Dass trotz einiger Verdächtiger und falscher Fährten zu wenig Spannung aufkommt? Vermutlich alles zusammen, denn von Eva Almstädts „Pia Korritki“-Serie bin ich Besseres gewohnt. Gestehen wir der Autorin zu, dass sie sich mit dem Serienauftakt noch warmlaufen muss und daher noch eine Menge Luft nach oben ist. Ich vergebe drei Sterne.

Bewertung vom 26.10.2022
Der gelbe Vogel
Levoy, Myron

Der gelbe Vogel


ausgezeichnet

Lang ist es her, dass ich Myron Levoys Buch „Der gelbe Vogel“ gelesen habe. Jetzt hatte ich die Gelegenheit, das Hörbuch zu hören und war gespannt, wie sich meine Wahrnehmung seit meiner Jugend gewandelt hat und dadurch auch meine Herangehensweise an das Buch. Interessant für mich: das, was der Autor schreibt, hat nichts an seinem Tiefgang verloren. Das Buch ist nach wie vor erschreckend aktuell und geht immer noch unter die Haut. Nur mit dem Sprecher des Hörbuchs wurde ich nicht ganz warm, was den Hörgenuss etwas schmälerte.
Aber von vorn.
Alan Silverman ist zwölfeinhalb Jahre alt und lebt als Sohn einer jüdischen Familie im New York des Zweiten Weltkriegs. Seine Welt dreht sich um Modellflugzeuge, Schlagball und Schule, parallel dazu verfolgt er zusammen mit seinem Vater den Frontverlauf in Europa auf der Karte und hat die tiefe Trauer der Eltern über den Tod seiner kleinen Schwester miterlebt. In seinen geregelten Alltag platzt Naomi, die „Meschuggene“, die in seinem Haus lebt. Die ebenfalls zwölfjährige Jüdin ist mit ihrer Mutter aus Frankreich geflohen, nachdem ihr Vater vier Jahre zuvor vor ihren Augen von Nazis getötet wurde. Auf Wunsch seiner Eltern besucht Alan Naomi, erst widerwillig, dann mit zunehmender Begeisterung. Die beiden freunden sich trotz vieler Schwierigkeiten an, Naomi macht große Fortschritte, schafft es sogar, die Schule zu besuchen. Eine erneute traumatische Gewalterfahrung wirft sie jedoch komplett zurück und das Buch findet ein trauriges Ende.
Mich hat das Buch schon beim ersten Lesen vor zig Jahren berührt und auch jetzt beim Hören bekam ich Gänsehaut. Naomis Vergangenheit und der gewaltsame Tod ihres Vaters sind ständig unterschwellig präsent, sodass auch die eigentlich humorvollen und lustigen Stellen einen traurigen Unterton bekommen. Da ich das Buch schon kannte, wusste ich ja, wie die Geschichte zwischen Alan und Naomi ausgehen wird, deshalb war meine Herangehensweise vermutlich anders als die von Menschen, für die das Buch neu ist. Ich hatte bei jedem hoffnungsvollen Moment ein „aber“ im Hinterkopf.
Sprachlich fand ich das Buch gelungen, wobei man sich aber vor Augen halten muss, dass es 1977 erschienen ist. Es ist zwar leicht verständlich geschrieben, überwiegend ist die Sprache alltagsnah, nur ein paar Sätze sind auf Französisch. Da Alan diese aber für sich selbst übersetzen muss, bekommt die Leser-/Hörerschaft sie ebenfalls auf Deutsch. Die Hauptcharaktere sind sehr klar ausgearbeitet. Alans innerer Konflikt zwischen seiner Freundschaft mit Naomi, seinem Pflichtgefühl und seinem Wunsch danach, mit Kumpels Zeit verbringen zu können, ist spürbar. Auch seine zeitweise Überforderung, als „Co-Therapeut" sind deutlich herausgearbeitet, genauso wie seine Freude über kleine und große Erfolge. Naomis Trauma, ihre Verzweiflung, ihr Schuldgefühl und ihre Verlorenheit verursachten mir beim Lesen/Hören fast körperliche Schmerzen. Ihre Mutter ist im Gegensatz zu Alans Eltern sehr blass dargestellt. Sie ist mehr wie ein Schatten in der Geschichte: vorhanden, aber (auch dadurch, dass sie kaum englisch spricht) ohne größeren Anteil am Geschehen.
Der Sprecher des Hörbuchs konnte bei mir nicht wirklich punkten. Zwar kann man die unterschiedlichen Personen dank der Nuancen in seiner Stimme zuordnen, manchmal schafft er es für mich aber nicht ganz, die Stimmung einzufangen. Ein paar Fehler bei der Betonung fand ich sehr irritierend. Alans Mutter und ihren jiddischen Tonfall trifft er jedoch ganz hervorragend, wodurch ich dann im Endeffekt doch versöhnt war.
Für mich war das Buch sowohl eine Reminiszenz an meine Jugend wie auch eine erschreckend aktuelle Geschichte und ich vergebe fünf Punkte für die Geschichte und vier für die Umsetzung des Hörbuchs, aufgerundet auf fünf.

Bewertung vom 21.10.2022
Sylter Sünden / Kari Blom Bd.7
Tomasson, Ben Kryst

Sylter Sünden / Kari Blom Bd.7


sehr gut

„Sylter Sünden“ ist bereits der 7. Teil von Ben Kryst Tomassons Serie um LKA-Ermittlerin Kari Blom und Kriminalkommissar Jonas Voss. Für mich war es das erste Buch des Autors, aber da es mir sehr gut gefallen hat, vermutlich nicht das letzte. Verständnisprobleme hatte ich trotz der fehlenden Vorkenntnisse keine. Das Buch ist zwar ein Krimi, aber es hat mich durchaus an vielen Stellen zum Lachen gebracht.
Aber von vorn.
Kari ermittelt undercover, getarnt als Kellnerin im Restaurant eines Golfplatzes auf Sylt. Ein Jugendlicher wurde auf dem Golfplatz angeschossen und sie soll herausfinden, wer der Schütze war und woher die Waffe stammte. Parallel dazu geht es im Golfclub hoch her: Adrian Hoffmann, Sohn eines Bauunternehmers, ehelicht Sarah Jessen, deren Familie eine Baustoff-Firma besitzt. Eine echte Promi-Hochzeit, weshalb neben Journalisten auch die Polizei vor Ort ist. Neben Beamten der Schutzpolizei sind auch Hanna Behrends und ihr Kollege Kommissar Jonas Voss auf der Hochzeit, letzterer steht selbst kurz vor der Heirat mit Kari. Doch die Ehe von Adrian und Sarah dauert nur kurz, einige Stunden nach der Trauung wird der Bräutigam erschlagen auf dem Golfplatz aufgefunden. Und die Polizei stellt fest, dass es in dem Fall einige Verdächtige gibt, Dinge wie Rache, Erpressung, Eifersucht und Geld stehen im Raum und alte Freund- und Feindschaften aus dem Umfeld des Opfers werden ausgegraben. Jonas und Kari geraten in eine Art Kompetenzgerangel, was ihre Beziehung auf eine harte Probe stellt. Außerdem „pfuschen“ ihnen vier rüstige Damen ins Handwerk. Die Häkelmafia lässt es sich nämlich nicht nehmen, Finger und Nasen in alles zu stecken, was sie interessiert. Und dann wird eine weitere Leiche in unmittelbarer Nähe des Golfplatzes gefunden.
Sprachlich fand ich das Buch sehr flüssig zu lesen, da war es für mich eine echte Entspannungslektüre. Dabei war es inhaltlich eine echte Spannungslektüre, denn durch die beiden parallel verlaufenden Fälle, in denen zwei parallel miteinander (und zum Teil eher gegeneinander) arbeitende Ermittler fand ich das Buch vielschichtig und gut konstruiert. Und dann sind da natürlich auch noch die vielen sehr unterschiedlich angesiedelten Verdächtigen, die dem Buch so richtig Spannung verleihen. Und dann die Häkelmafia! Was soll ich zu dem schrullig-liebenswerten Quartett aus Witta, Grethe, Alma und Marijke sagen? Sie sind für mich das Element, das das Buch zum absoluten Spaß machte. Ihre Mischung aus Miss Marple und Kaffeekränzchen-Damen fand ich einfach nur perfekt.
Die Spannungskurve des Buchs ist für mich nicht ganz konstant, das viele Hin und Her zwischen Kari und Jonas mag für Kenner der Serie interessant sein, für mich als Neuling war es das nicht und bremste die Geschichte ein wenig aus. Dennoch bleibt ein solider Krimi mit einem schlüssigen Ende, das mich tatsächlich überrascht hat. Bis zum Schluss war ich bei meiner Tätersuche immer wieder auf falschen Fährten. Etwas schade finde ich, dass der Autor sehr oft sehr klischeehaft schreibt, je reicher nämlich die Charaktere sind, desto schnöseliger und arroganter sind sie meistens auch. Zudem sind die Protagonisten zwar gut ausgearbeitet, aber für mich ein wenig zu platt. Vielleicht fehlt mir da doch ein bisschen Hintergrundwissen, aber ich konnte mit niemandem außerhalb der Häkelmafia wirklich warm werden. Dass der Krimi auf Sylt spielt, kommt für mich zu wenig zum Tragen. Das Schicki-Micki-Golf-Resort hätte durchaus auch anderswo sein können, Sylt-spezifische Merkmale konnte ich in der Geschichte so gut wie keine erkennen. Das tat meiner Lesefreude allerdings wenig Abbruch, deshalb vergebe ich für das Buch vier Sterne.

Bewertung vom 12.10.2022
Maxima Culpa
Bausch, Joe;Job, Bertram

Maxima Culpa


sehr gut

„Maxima Culpa. Jedes Verbrechen beginnt im Kopf“ heißt das neue Buch von Joe Bausch (geschrieben zusammen mit Bertram Job). Entsprechend dem Titel konzentriert sich der Mediziner auf Verbrechen, die von langer Hand geplant sind, also vorher „im Kopf“ entstanden. Dabei beschreibt der ehemalige Anstaltsarzt der JVA Werl in diesem Buch keine eigenen Erfahrungen mit Straftätern, sondern (seiner Meinung nach) besonders spannende und spektakuläre Kriminalfälle quer durch die Geschichte. Das Buch ist also voll spannender Fakten Hintergründe, weshalb es für mich als Hörbuch nicht funktionierte. Bei so viel geballter Information wünsche ich mir, hin- und herblättern und das ein oder andere nachlesen zu können, was bei einem Hörbuch nicht so einfach ist. Zudem liegt mir Joe Bausch als Sprecher seines eigenen Textes nur bedingt, weshalb mir das Buch zwar inhaltlich sehr zugesagt hat, als Hörbuch für mich aber ein Reinfall war.
Aber von vorn.
Jedes der Kapitel widmet Joe Bausch einem Fall, der seinerzeit (mediales) Aufsehen erregt hat. So schreibt er zum Beispiel über (versuchte) Giftmorde wie den Fall der vergifteten Pausenbrote von Mitarbeitern einer Bielefelder Firma oder über einen Mann, der versuchte, seine schwangere ehemalige Freundin zu vergiften, weil sie sich zu Beginn der Schwangerschaft von ihm getrennt hat. Er räumt so mit dem Mythos auf, dass Giftmorde eher von Frauen verübt werden. Mit dem „Maskenmann“, der über Jahre Sexualstraftaten an Kindern verübte, zeigt er, dass viele Täter nach außen völlig unscheinbar sind und unauffällig leben. Das tat auch der Mann, der vor Jahren auf der britischen Kanalinsel Jersey mehrere Frauen vergewaltigt hat. Weitere Kapitel behandeln Mörder in medizinischen oder Pflegeberufen, wie beispielsweise den englischen Arzt Dr. Harold Shipman. Pathologische Kriminelle und Menschen mit schweren seelischen Abartigkeiten gibt es in allen gesellschaftlichen Schichten.
In seinem aktuellen Buch konzentriert der Autor sich ausschließlich auf Täter, die ihre Taten von langer Hand geplant haben. Von den „Grundfällen“ zieht er Querverweise zu Taten, die so oder so ähnlich in der Vergangenheit (bis hin in die Antike) irgendwo auf der Welt verübt wurden. Die meisten Leser/Hörer des Buchs werden wohl, wie ich auch, oft wissend genickt haben. Hörer von True-Crime-Podcasts oder schlicht Zeitungsleser werden die meisten Fälle kennen. Daher fand ich auch das immer wieder auftauchende „Name geändert“ irgendwann nervig. Da hätte ein Hinweis im Vorwort für mich durchaus gereicht. Viele der Fälle und auch die Namen Täter (so bekannt) kann man übrigens ohne Probleme im Internet finden
So sehr ich Joe Bausch und seine Expertise schätze, so groß waren meine Schwierigkeiten mit der Art und Weise, wie er das Buch liest. Sein rollendes R und die Aussprache der Zischlaute waren für mich gewöhnungsbedürftig und manchmal fehlte mir der „überspringende Funke“, die Begeisterung über das Selbstgeschriebene, was ich sonst erlebe, wenn Autoren ihr eigenes Werk lesen. Auch schafft er es, gleichzeitig sehr akzentuiert wie auch verwaschen zu lesen, oft hastig und Silben verschluckend und an manchen Stellen holpert er, als läse er einen fremden Text und nicht seinen eigenen.
Das Buch an sich also bekommt von mir, wie auch die anderen von Joe Bausch, die volle Punktzahl. Es ist vollgepackt mit spannenden Informationen und man kann an jeder Stelle merken, dass der Autor ein großes, fundiertes Wissen hat und weiß, wovon er schreibt. Das Hörbuch funktionierte für mich allerdings nicht, das ist aber nicht dessen Fehler. Deshalb vergebe ich insgesamt vier Punkte.

Bewertung vom 07.10.2022
Klangwunder
Mayer, Albrecht;Friedrich, Heidi

Klangwunder


gut

Ich hätte das Buch so gerne gemocht. Mehr kann ich über „Klangwunder: Wie die Kraft der Musik mich geheilt hat“ von Albrecht Meyer und Heidi Friedrich eigentlich gar nicht sagen. Die Lebensgeschichte des Oboisten ist sehr interessant, seine Wandlung vom stotternden Kind/Jugendlichen unter der Knute eines dominanten, strengen und oft aggressiven Vaters hin zu einem selbstbewussten Erwachsenen ist beispielhaft. „Für irgendetwas habe ich mich immer geschämt: Knochige Knie, schlaksiger Oberkörper, die Haare zu strohig, der Kopf zu rund. […] Und dann noch dieses verhängnisvolle Stottern.“ – er hat einige Zeit gebraucht, bis er sich selbst hinter der Scham gefunden und seinen eigenen Wert erkannt hat. So weit so gut.
Eigentlich hätte aus dem Stoff ein ganz hervorragendes Buch werden können, wenn es denn sprachlich ansprechender gewesen wäre. Leider aber fand ich die Sprache zu nüchtern, fast hölzern und manche der Ausdrücke, die das Autoren-Duo verwendet, sind nicht korrekt. So hat Albrecht Meyers Vater, ein Kinderarzt, die „Taubstummensprache“ gelernt, um mit einigen seiner Patienten kommunizieren zu können. Leider gibt es eine solche Sprache überhaupt nicht, höchstens die Gebärdensprache. Auch der Begriff „taubstumm“ wird heute als solcher nicht mehr wirklich verwendet, schade, dass er in dem Buch trotzdem aufgegriffen wird.
Leben und Werdegang des Musikers sind hochinteressant. Leider reihen sich eher belanglose, fast tabellarisch „abgearbeitete“ Passagen an durchaus lustige Schwänke aus dem Leben des Oboisten. Das Buch ist an sich chronologisch aufgebaut, mit einigen „Nachdenkereien“ am Ende der jeweiligen Kapitel, in denen Albrecht Mayer das Geschriebene ein bisschen rekapituliert und in einen gewissen Kontext setzt. Interessant fand ich die Idee des Vaters, dass das Oboespielen die Atmung des stotternden Kindes so beeinflussen könnte, dass sich sein Stottern bessern würde. Noch interessanter fand ich aber, dass das Stottern nicht durch das Blasinstrument, sondern mit den ersten Erfolgen und dem gewachsenen Selbstbewusstsein aufhörte. Lesenswert, wenn auch ein bisschen langatmig beschrieben, finde ich seine Zeit bei der Bundeswehr, die der äußerst unangepasste und fast aufmüpfige Mayer mehr schlecht als recht (und mit viel Arrest und Waffenputzen) hinter sich gebracht hat. Dass er sein Vorspiel bei den Berliner Philharmonikern ungewollt bekifft absolvierte, brachte mich hingegen herzlich zum Lachen. Das runde Ende findet das Buch mit dem Jahr 2020 und dem Lockdown, dem Homeschooling seiner fünfjährigen Tochter Laura und einem kleinen Einblick in sein Privatleben, der ihn als Familienmenschen abseits von Orchester und Karriere zeigt.
Insgesamt ist es das Buch eines ehrlichen und äußerst selbstkritischen Menschen, der immer wieder versuchte, auf dem Boden zu bleiben, gleichzeitig aber ein Adrenalin-Junkie ist und ein gewisses Maß an Bewunderung und Applaus braucht. „Oboen-Gott“ oder „Bester Oboist der Welt“ – Bezeichnungen wie diese lehnt er ab. Perfektion sucht er aber auch im Instrument, so hat er sich sich zusammen mit dem Instrumentenbauer Ludwig Frank der Entwicklung der „perfekten Oboe“ verschrieben. „Albis Oboe“ spielte er zum ersten Mal 2008 in der New Yorker Carnegie Hall. Wie gesagt, wäre das Buch für mich sprachlich ansprechender gewesen, hätte es die volle Punktzahl von mir bekommen. Die Nüchternheit der Erzählung hielt mich aber jederzeit auf Distanz zu Albrecht Mayer und ich konnte nicht, wie bei unzähligen anderen (Auto)Biografien eine Nähe oder Vertrautheit aufbauen. Alles in allem finde ich, dass das Buch seiner hochinteressanten Persönlichkeit zu wenig gerecht wird. Schade. Daher vergebe ich drei Punkte.

Bewertung vom 07.10.2022
Der Tag, an dem Tiffany das Wasser aus der Wanne geschaukelt hat
Kling, Marc-Uwe

Der Tag, an dem Tiffany das Wasser aus der Wanne geschaukelt hat


ausgezeichnet

Da wollen Mama, Oma und Lisa nur einmal einen Tag Wellness machen. Sowas mit Sauna (mit fremden nackten Menschen auf engem Raum schwitzen) und so. Also ist Papa in Marc-Uwe Klings Buch „Der Tag, an dem Tiffany das Wasser aus der Wanne geschaukelt hat“ mit Tiffany, Max und Opa allein zu Hause. Und eigentlich will er doch nur auf der Terrasse sein Buch lesen. Wer Marc-Uwe Kling und seine Geschichten kennt, der weiß, dass Papas Vorstellung nichts mit der Realität zu tun haben wird. Obwohl er Profi-Papa ist. Und am Schluss sind alle nass und Merk… ach nee, Tiffany ist schuld.
Mehr mag ich zum Hörbuch „Der Tag, an dem Tiffany das Wasser aus der Wanne geschaukelt hat“ eigentlich auch gar nicht sagen, denn ich habe mich so köstlich drüber amüsiert, dass ich es jedem empfehle, der den manchmal etwas speziellen Humor des Autors mag. Der liest das Hörbuch übrigens selbst, was der Geschichte meiner Meinung nach noch mehr Witz verleiht. Da ich selbst nicht zur Zielgruppe gehöre, kann ich nicht beurteilen, ob das Buch für Kinder ab sechs Jahren geeignet ist. Die politischen Anspielungen und die viele Ironie sind doch ziemlich speziell. Aber ich als Erwachsener habe häufig herzhaft gelacht, für mich hätte es gerne noch länger sein dürfen. Von mir gibt es natürlich fünf Sterne.

Bewertung vom 20.09.2022
Das Haus über dem Fjord
Valla, Kristin

Das Haus über dem Fjord


ausgezeichnet

„Wer unsere Eltern wirklich waren, werden wir vielleicht nie erfahren. Aber wer sie für uns sind, entscheiden wir zum Glück selbst.“ – das könnte die Essenz aus Kristin Vallas Roman „Das Haus über dem Fjord“ sein. Es war bislang so ziemlich das überraschendste Buch, das ich jemals gelesen habe. Zwar hatte ich von Anfang an das Gefühl, dass irgendein Plot-Twist kommen würde, aber dass er mich so unerwartet treffen würde – damit hatte ich nicht gerechnet. Ich mag Norwegen und ich mag (manchmal) Bücher über Familiengeheimnisse. Daher war das „Das Haus über dem Fjord“ für mich eine großartige und lohnende Sommerlektüre.
„Ut av det blå“ ist der Titel des Norwegischen Originals – aus heiterem Himmel. Und das trifft es völlig. Denn als Kristin Vallas Protagonistin Elin 1985 durch einen Erdrutsch ihren Vater und ihre beiden Brüder verliert, ändert sich ihr Leben völlig unerwartet grundlegend. Die Leichen von Vegard und Thomas werden gefunden und können beerdigt werden. Ihr Vater Bjørn bleibt trotz intensiver Suche verschwunden. 2005 stirbt ihre Mutter Wenche und zwei Jahre später beschließt Elin, inzwischen Journalistin in Oslo, das elterliche Haus zu verkaufen. Mit dem Tod von Brüdern und Vater hatte ihre Kindheit geendet, mit dem Verkauf des Hauses möchte sie ihr komplettes „altes“ Leben abhaken. In ihrem nordnorwegischen Heimatdorf findet sich ihre erste große Liebe Ola wieder – und stößt beim Ausräumen des Hauses Hinweise auf ein gut gehütetes Familiengeheimnis. Und tief in sich spürt sie, dass sie dieses Geheimnis lüften muss, um endgültig mit sich und allem anderen ins Reine zu kommen. Bei einer Reise nach Frankreich deckt sie Dinge auf, die sie sich nie im Leben hätte träumen lassen.
Und ich als Leser auch nicht. Wie gesagt, das Ende des Buchs hat mich völlig überrascht, mehr möchte ich dazu aber auch gar nicht schreiben. Ich mag keine Spoiler und lege den Roman ohnehin jedem ans Herz, der Familiengeheimnisse und Norwegen mag. Und ich empfehle sogar, es zweimal zu lesen, da die Geschichte eine völlig andere ist, wenn man den Schluss kennt. Dann fallen einem nämlich beispielsweise die kleinen Hinweise auf das Geheimnis im Umgang der Eltern miteinander auf.
Sprachlich fand ich das Buch sehr bodenständig und gut zu lesen, allerdings auch bildgewaltig und teilweise fast poetisch. Die Übersetzung ist hervorragend gelungen. Die wichtigen Charaktere sind dreidimensional und sehr gut ausgearbeitet, und auch die Atmosphäre des Romans ist greifbar. Ich hatte die ganze Zeit die norwegische Landschaft vor Augen, konnte die bedrückende Stimmung nach dem Erdrutsch fühlen und die Traurigkeit der Hinterbliebenen, denen der Quickton nicht nur den tatsächlichen, sondern auch den metaphorischen Boden unter den Füßen weggezogen hat. Die Trauer der Mutter um die Söhne und den für tot erklärten Ehemann ist spürbar, die Entfremdung zwischen Mutter und Tochter macht traurig, obgleich sie für mich nachvollziehbar war.
Man könnte sagen, das Buch ist kitschig, unrealistisch und, vor allem der Schluss, völlig konstruiert und an den Haaren herbeigezogen. Man kann aber auch sagen, es ist ein ganz wundervolles Buch über Fassaden, Liebe, Verständnis, Toleranz, die Suche nach der Wahrheit und innerem Frieden. Über altes und neues Leben, loslassen können und neu anfangen. Ich habe nicht nur viel über die Bodenbeschaffenheit Skandinaviens gelernt (der Quickton, der den Erdrutsch verursachte, durch den Elins Vater und ihre Brüder ums Leben kamen, kommt in skandinavischen Fjordregionen häufig vor), sondern auch über Würde, Liebe, das Leben, Trauer, Vermissen und innere Verbundenheit zwischen Menschen. Ich habe die Lektüre sehr genossen und vergebe gerne fünf Sterne.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.09.2022
Die Toten von Cork
Michel, Gerlinde

Die Toten von Cork


gut

Der Klappentext von Gerlinde Michels Krimi „Die Toten von Cork“ war sehr vielversprechend. Auch der etwas verstörende Prolog machte Lust aufs Weiterlesen und gab eine vage Vorstellung davon, was von dem Buch zu erwarten war. Leider schaffte es die Autorin bei mir nicht, den Erwartungen gerecht zu werden. Sie reißt mit ihrem Irland-Krimi zwei sehr große Themenkomplexe an, arbeitet aber meiner Meinung nach beide nicht wirklich gut aus. Über ein „kann man lesen“ kommt das Buch daher für mich nicht hinaus.
Aber von vorn.
Kriminalkommissar Markus Felchlin (überwiegend nur „Felchlin“ genannt) macht mit seinen beiden Kindern und seiner alleinerziehenden Kollegin Urlaub in einem Ferienhaus nahe irischen Südküste. Aber die Gäste scheinen in der Gegend unerwünscht, eine ans Tor geschmierte Drohung und ein blutiger Schafkopf drohen den eigentlich idyllischen Urlaub in der malerischen Landschaft zu vermiesen. Als dann auch noch ein ziemlich verwahrlostes kleines Mädchen auf dem Grundstück auftaucht, das fast kein Wort spricht, aber einen riesigen Hunger hat, bricht der Polizist in Felchlin durch und er beginnt, auf eigene Faust einige Nachforschungen anzustellen. Unterstützt von der örtlichen Polizei deckt er nach und nach einige sehr hässliche Dinge auf.
Die Themen, die das Buch anschneidet, bieten unendlich viel Potential. Die Stellung der katholischen Kirche in der nach wie vor erzkatholischen Republik Irland und die zunehmende Fremdenfeindlichkeit überall hätten sehr viel Stoff für einen sowohl spannenden wie auch tiefgründigen und informativen Krimi geboten. Nur leider hatte ich bei der Lektüre das Gefühl, die Autorin wollte zu viel. Da sie in ihren Text auch sehr viel englische Sätze eingebaut hat, möchte ich es auch auf Englisch ausdrücken: She bit off more than she could chew. Obwohl das Buch im Präsens geschrieben ist, man als Leser also eigentlich mitten in der Geschichte steht, kam für mich kaum Spannung auf. Die Geschichte an sich war für mich als großen Irland-Freund sehr vorhersehbar und der Schluss kam sehr abrupt.
Sprachlich fand ich das Buch nett zu lesen, die Landschaftsbeschreibungen mit See, Küste und einem Fluss, der im Lauf des Tages die Fließrichtung ändert, sind ansprechend. Die Charaktere, vor allem die Kinder der beiden Protagonisten, sind relativ gut beschrieben. Manchmal tat ich mich mit dem schweizerdeutsch gefärbten Vokabular etwas schwer, ich persönlich hätte vermutlich oft andere Worte gewählt als die Autorin. Die Tatsache, dass Markus Felchlin fast durchgehend nur mit dem Nachnamen genannt wird, war ein nettes Stilmittel, mehr aber auch nicht.
Für mich war das Buch weder Fisch noch Fleisch. Es war kein wirklicher Krimi, dafür fehlte mir die Spannung. Es war kein Familienroman vor idyllischer Kulisse, dafür waren die Landschaftsbeschreibungen zu dürftig. Lokalkolorit irischer Kleinstädte/Ortschaften kommt überhaupt nicht zum Tragen, da sich die Geschichte zwischen den Urlaubern, den Vermietern, ein paar Polizisten und den Verdächtigen abspielt und wenn überhaupt, sind Begegnungen mit Einheimischen fast ausschließlich negativ. Auch die Familiengeschichte wird eher beiläufig erzählt, sodass es auch kein richtiger Liebesroman ist. Schade eigentlich, denn die Themen an sich hätten, wie gesagt, sehr viel Potential geboten.
Für mich kommt das Buch daher über ein „ganz nett zu lesen“ nicht hinaus. Durch die zweite Zeit-Ebene, die die Autorin hie und da einbaut, hat sie versucht, die Geschichte lebendiger zu machen und Hintergrundwissen zu vermitteln, was ihr aber nur leidlich gelingt. Für mich bleibt das Buch zu oberflächlich und daher unbefriedigend. Da es aber unterhaltsam war, vergebe ich 3 Sterne.

Bewertung vom 16.09.2022
Die Vergessene
Slaughter, Karin

Die Vergessene


ausgezeichnet

Sehnsüchtig erwartet, endlich ist sie da! Mit „Die Vergessene“ hat Karin Slaughter die Fortsetzung zu „Ein Teil von ihr“ vorgelegt. Und auf was für eine Achterbahnfahrt nimmt die Autorin ihre Leserschaft mit! Fast hätte ich vergessen können, dass ich immer noch Will Trent und Sara Linton schmerzlich vermisse. Naja, fast. Aber spannend und überraschend fand ich das Buch dennoch, auch wenn es für mich näher an einem starken Krimi als an einem Thriller war. Obwohl es der 2. Teil der Serie ist, kann man ihn auch ohne Vorkenntnisse lesen, wobei sie durchaus hilfreich sind.
Aber von vorn.
1982 steht die 17jährige Emily Vaughn eigentlich kurz vor ihrem High School Abschluss. Da sie nach einer Party, bei der sie durch LSD bewusstlos wurde, schwanger ist, wird sie in dem erzkonservativen Ort in den amerikanischen Südstaaten allerdings geächtet und der Schule verwiesen. Der Vater ihres Kindes ist unbekannt, denn sie kann sich an nichts mehr erinnern. Am Abend des Abschlussballs wird sie fast zu Tode geprügelt, am Leben erhalten wird sie nur, um ihre ungeborene Tochter zu retten. 40 Jahre später bekommt ihre Mutter Drohbriefe und hat als ehemalige Bundesrichterin ein Recht auf Personenschutz durch US-Marshals. Andrea Oliver (Slaughter-Leser kennen sie aus „Ein Teil von ihr“) hat gerade erst ihre Ausbildung abgeschlossen und beginnt neben der Bewachungstätigkeit, in dem alten Mordfall zu ermitteln. Denn der Ort, in dem sie da gelandet ist, ist auch der Heimatort ihres leiblichen Vaters Clayton Marrow. Dieser sitzt seit einiger Zeit im Gefängnis und wird schnell zu Andreas Verdächtigem Nummer 1 in dem Cold Case. Rasch sieht sie sich in verworrene Ermittlungen verstrickt, die ihr viele Fragen und nur wenige Antworten präsentieren. Denn nicht nur Clayton könnte der Vater von Emilys Tochter Judith sein, sondern noch einige andere aus deren Freundeskreis. Und nicht nur der alte Todesfall stellt Andrea und ihren Kollegen Bible vor ein Rätsel. Auf einer örtlichen „Hippie“ Farm kommt es zu ungewöhnlich vielen Selbstmorden unter jungen Frauen. Der unsympathische Besitzer der Farm und sein Assistent sind keine Unbekannten – beide gehörten 1982 Emilys Clique.
Was soll ich sagen? Karin Slaughter schreibt für mich irgendwie achterbahnmäßig. Auf ein durchschnittliches Buch folgt bei ihr meistens ein wesentlich besseres. Hier stimmt es fast, denn ich fand auch „Ein Teil von ihr“ wirklich gut, „Die Vergessene“ ist meiner Meinung nach aber noch um Klassen besser. Die Geschichte beginnt und endet mit einem Paukenschlag, dazwischen mäandern spannende und eher belanglose Passagen mit einigen interessanten Wendungen. Ein konstanter Spannungsbogen wird nicht erreicht, dennoch fehlt es dem Buch nicht an Spannung und der Schluss war für mich eine wirkliche Überraschung.
Erzählt wird in zwei Zeit-Ebenen, dem „Heute“ (2022) und dem „Damals“ (1981/82), jeweils aus der Sicht eines unbeteiligten Erzählers. Heute steht Andrea im Mittelpunkt, damals Emily, beginnend mit dem Tag, an dem sie ihre Schwangerschaft feststellt. Dazwischen wird geflucht, beschimpft, S*xismus und männliche Toxizität werden zur Schau getragen – wie man es von Karin Slaughter eben kennt, allerdings wesentlich unblutiger als in vielen anderen ihrer Thriller. Das Buch ließ sich für mich flott lesen und etwa ab der Hälfte konnte ich den Schluss kaum noch erwarten, da ich endlich die Auflösung erfahren wollte. Karin Slaughters subtiler Sinn für Humor und ihr Wortwitz kommt auch in der gelungenen deutschen Übersetzung zum Tragen. Die Charaktere sind gut, wenn auch ziemlich stereotyp ausgearbeitet. Da ich Andrea schon aus „Ein Teil von ihr“ kannte, kam ich mit ihrer eigenwilligen Art gut zurecht, ihre neugefundene Zielstrebigkeit imponierte mir. Meine Favoritin war allerdings Emily, die sich trotz aller Widrigkeiten versucht, aus ihrem Leben das Beste zu machen.
Alles in allem fand ich das Buch sehr spannend und kann es daher jedem Slaughter-Fan empfehlen. 5 Sterne.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.09.2022
Lügen über meine Mutter
Dröscher, Daniela

Lügen über meine Mutter


ausgezeichnet

Das Leben von Ela, der Protagonistin aus Daniela Dröschers autofiktionalem Roman „Die Lügen über meine Mutter“, ist von mehreren Dingen geprägt: von Lügen und Versteckspielen, dem Gewicht der Mutter und der fixen Idee des Vaters, das dies an allem schuld sei, vor allem an beruflichen Misserfolgen. Bei seiner Jagd nach beruflichem und sozialem Aufstieg drangsaliert er seine Frau, zwingt sie zu Diäten und auch dazu, sich vor seinen Augen zu wiegen – und verliert im Endeffekt alles. Das Ganze spielt sich in einem fiktiven Hunsrück-Dorf ab und zeigt ein eher unschönes Bild des Kleinbürgertums der 1980er.
Aber von vorn. Oder auch nicht.
Denn das Buch dreht sich überwiegend tatsächlich darum: Aufwachsen in einer äußerst toxischen Familie, geprägt durch Ehrgeiz, Großmannssucht und Kontrollwahn des Vaters und natürlich das Übergewicht der Mutter. Daran hat der Vater immer was zu kritisieren. Dabei tut die Mutter anfangs ihr Möglichstes: sie fährt zur Kur, hangelt sich von Diät zu Diät und macht natürlich auch Sport. Aber sie befindet sich in einem Teufelskreis, auf kleine Abnehm-Erfolge folgt immer eine Gewichtszunahme. Dabei hat sie mit zwei Kindern plus Pflegekind und der Betreuung ihrer eigenen demenzkranken Mutter genug zu tun. Ela ist zu Beginn der Erzählung noch im Kindergartenalter und ist hin- und hergerissen zwischen allen Beteiligten. Sie liebt die Großeltern väterlicherseits, mit denen die Familie zusammenwohnt, ungeachtet der Tatsache, dass diese ihre Mutter ablehnen („So ä dreggisch Weibsstick.“) Sie liebt auch die Großeltern mütterlicherseits, die mit nicht ihrem Vater und schon gar nicht seinen Eltern warmwerden können. Und sie liebt ihre Mutter, auch wenn sie sich manchmal für sie schämt („Es war eine Scham zweiter Ordnung. Ich sah meine Mutter mit den Augen meines Vaters.“) und ihren Vater, obwohl er ihrer Mutter nicht guttut und die Familie mit seinen fixen Ideen ruiniert.
Der Roman ist interessant konzipiert. Daniela Dröscher beschreibt ihre Kindheit aus der Sicht des unbedarften Kindes. In kurzen Zwischen-Kapiteln ordnet ihr erwachsenes Ich dann alles für sich selbst und das Publikum ein. Ihre Protagonistin Ela wird in eine schwierige Rolle gezwängt, ihre Therapeutin wird das später „Parentifizierung“ nennen. Sie ist schon früh die Vertraute der Mutter („Ich war gerade mal zwölf oder vielleicht dreizehn, als meine Mutter mir von ihren beiden Abtreibungen erzählte, an einem unserer vielen endlosen Nachmittage auf dem Balkon, an denen wir ihre Ehe besprachen.“), die Geheimnisse mit sich herumtragen und Lügen decken muss. Diese Rolle sollte kein Kind einnehmen müssen.
Für mich war es ein berührender Roman. So viel Toxizität (und damit ist nicht nur die tatsächliche Toxizität, durch die zu der Zeit passierte Tschernobyl-Katastrophe oder die fiktive „Geschichte von den verstrahlten Schewenborn-Kindern“ gemeint, die Ela „gruselig“ fand) auf so wenigen Seiten! Oft wollte ich beim Lesen Elas Mutter packen und schütteln. Ihr sagen, dass sie eine starke Frau ist und sich nicht von ihrem Mann auf die Waage zwingen lassen, dass sie ihre Großzügigkeit nehmen und sich von ihrem Mann trennen soll. Aber man steht als Leser so hilflos daneben, wie Ela es als Kind war.
Für mich ist das Buch eine bedrückende und authentische Sozialstudie des Lebens in den 1980ern. Unglückliche Ehen, dominante Schwiegermütter, die ihre „Prinzen“ vergöttern und eigentlich gar nicht „hergeben“ wollten, vor allem nicht an eine ungeliebte Schwiegertochter, Ehefrauen zerrieben zwischen (ehelichem) Pflichtgefühl und dem Wunsch nach Emanzipation. Dabei weiß die Mutter selbst, dass sie nicht gewinnen kann. „Es reicht sowieso nie. Hab ich recht?“, antwortet sie sich selbst auf die Frage, wie dünn sie noch werden solle. Wäre sie rank und schlank gewesen, hätte er sein berufliches Scheitern vermutlich auf irgendetwas anderes geschoben.
Für mich ist es zu Recht für den Deutschen Buchpreis 2022 nominiert und ich vergebe fünf Sterne.