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Verena

Bewertungen

Insgesamt 161 Bewertungen
Bewertung vom 12.01.2022
Die kleine Schule der großen Hoffnung
Fontaine, Naomi

Die kleine Schule der großen Hoffnung


ausgezeichnet

Rückkehr
Dieser autobiografische Roman von Naomi Fontaine, einer der bekanntesten indigenen Autorinnen Kanadas, schafft es, die wenigen Seiten voller großer Themen mit Bedeutungsschwere zu füllen. Yammie, eine junge Lehrerin, aufgewachsen in Québec, gibt ihr Leben in der Großstadt auf und kehrt zurück in das Innu-Reservat, das sie als Kind verließ. In Uashat muss sie nicht nur ihren Alltag mit den Schüler:innen bewältigen, sondern auch sich selbst neu kennenlernen. Sie kennt ihre Herkunft nicht, die Traditionen, das Land, die Menschen sind ihr fremd. “Zwei Tage in der Wildnis sind nicht genug. Zu kurz, um mir all das, was ich als Kind verloren habe, wieder anzueignen.” Doch die Rückkehr zu ihrer Herkunft konfrontiert sie nicht nur mit der eigenen Identität, sondern auch mit einem Leben, das aus jahrhundertelanger Unterdrückung resultiert. Drogen, Alkohol, Teenagerschwangerschaften, Suizide sind omnipräsent. Überhaupt ist das Thema “Schule” in der indigenen Gemeinschaft belastet, haben doch Staat und Kirche bis in die Neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts in den residential schools kulturellen Genozid an der indigenen Bevölkerung Kanadas verbrochen. Doch die Lehrenden, einschließlich Yammie, geben sich Mühe, den Kindern ein positives Umfeld zu schaffen. Der Titel im französischen Original lautet “Manikanetish, Petite Marguerite”. Die kleine Marguerite war eine Frau im Reservat, die keine eignen Kinder hatte, sich aber stets den der anderen angenommen hatte und diese mitaufzog. Um sie zu würdigen, wurde die Schule nach ihr benannt. Sinnbildlich verkörpert auch Yammie, kaum älter als die Schüler:innen, viel mehr als nur eine Lehrerin. Je mehr sie sich mit ihrer eigenen Herkunft, den Innu und ihren Traditionen beschäftigt, desto wichtiger wird sie für ihre Klasse. Sie wird zu einer Vertrauten, Freundin, Mutter für die ihr anvertrauten Kinder. Ein kleiner, leiser Roman, der trotz der Schwere der Themen nie seine erzählerische Leichtigkeit verliert. “Jeden Tag begegnete ich einem weiteren Unbekannten, mit dem ich verwandt war. … Mein Stammbaum bekam immer mehr Äste, und die Äste verzweigten sich immer weiter. Durch alle mit allen verwandt.”

Bewertung vom 18.12.2021
Eine Prise Salz für die Liebe
Heron, Farah

Eine Prise Salz für die Liebe


weniger gut

Bisher konnte Reena sich erfolgreich zur Wehr setzen, als ihre Eltern ihr potentielle Heiratskandidaten vorstellten. Doch als plötzlich Nadim als ihr Nachbar auftaucht, kann sie nicht mehr standhaft bleiben. Obwohl sich alles in ihr sträubt, dem Wunsch der Eltern nachzugeben, fühlt sie sich zu dem gutaussehenden, erfolgreichen neuen Wunsch-Ehemann hingezogen. Und Nadim ist gar nicht der perfekte traditionsbewusste Schwiegersohn, den die Eltern sich vorstellen. Bald beginnen die beiden eine leidenschaftliche Affäre, doch nicht nur die gemeinsame Liebe zu indischem Essen und vor allem der Zubereitung von Brot schreit nach mehr. Obwohl sie eigentlich erstmal nur alles ganz casual halten wollten, geben sie sich als Paar aus, um an einem Online-Kochwettbewerb mitmachen zu können.

Ich hatte gehofft auf eine unterhaltsame Romcom mit Einblicken in den kulturellen Background der Protagonist:innen, dazu natürlich ganz viel Foodie-Liebe. Am besten sind tatsächlich die Szenen, in denen gekocht und gebacken wird. Auch die Problematik zwischen Eltern, die in ein anderes Land einwandern (in diesem Fall Kanada), und dem culture-clash, dem ihre Kinder bei der Identitätssuche ausgesetzt sind, kam teilweise gut rüber. Aber gleichzeitig verlor sich der Roman in seiner Timeline. Die Handlung spielt sich in vier Wochen ab. In dieser Zeit passiert ALLES. Viel zu viel um es auch nur annähernd glaubhaft rüberbringen zu können. (SPOILER) Kennenlernen, Abneigung, Affäre, gemeinsame Abende, Kennenlernen der Freunde, Familienessen, viel Kochen und Backen, Online-Kochshow, Verlobung der Schwester, GROSSES DRAMA, Auflösung des großen Dramas, Versöhnung, Hochzeit. Puh. Weniger ist meistens mehr.

Bewertung vom 18.12.2021
Unsere Zeit ist immer
Cousens, Sophie

Unsere Zeit ist immer


sehr gut

Schöner Schmöker

Unsere Zeit ist immer

Minnie hätte nicht nur das erste Neunzigerjahre-Baby sein sollen, sie hätte auch den von ihrer Mutter ausgesuchten Glücksnamen “Quinn” tragen sollen. Doch im selben Londoner Krankenhaus kommt ihr in der Silvesternacht ein anderes Baby zuvor, erhält die 50.000 Pfund und lebt im Gegensatz zu Minnie – so stellen sie und ihre Mutter es sich vor – ein vom Glück gesegnetes Leben, während bei Minnie selbst alles schiefläuft, was nur schieflaufen kann, vor allem an ihrem Geburtstag. Den verbringt sie deshalb am liebsten eingeigelt, zuhause, allein, doch in der Silvesternacht vor ihrem 30. lässt sie sich von ihrem Freund überreden, zu einer exklusiven Party zu gehen. Hier lernt sie durch einen Zufall eben jenen Quinn kennen, der ihr Namen und Glück gestohlen hat und natürlich ist er attraktiv, charmant, erfolgreich – genauso, wie Minnie es sich immer vorstellte. Doch der erste Blick trügt nicht selten. Minnie und Quinn finden schließlich im Laufe des Jahres zueinander. Eine süße Liebesgeschichte, die ihren Protagonist:innen tatsächlich Zeit gibt, sich kennenzulernen statt innerhalb weniger Wochen zum Happy End zu eilen. Ein bisschen besorgt war ich, dass die vom Pech verfolgte Minnie eine weitere tollpatschige Romcom-Heldin sein könnte, aber der Autorin gelingt es, diesen zentralen Aspekt der Geschichte umzusetzen, ohne unrealistisch zu übertreiben. Schön gezeichnet ist auch, wie die Mütter der beiden als Nebenfiguren das Leben ihrer Kinder stark prägen: Minnie, die sich in ihrer negativen Denkweise stark von ihrer Mutter beeinflussen lässt, die nie darüber hinweggekommen ist, dass die Frau, mit der sie auf der Entbindungsstation das Zimmer teilte, den Namen geklaut hat; und Quinn, dessen nach außen hin perfekt scheinendes Leben von Kindheit an dominiert wird von der psychischen Erkrankung der Mutter. (Inhaltswarnung: Angststörung und Depression)

Einzig das Finale hätte weniger groß sein können, ansonsten ein sehr schöner Schmöker. Von Sophie Cousens werde ich sicher mehr lesen.

Bewertung vom 01.12.2021
Bilder meiner besten Freundin
Avallone, Silvia

Bilder meiner besten Freundin


gut

Der italienische Roman “Bilder meiner besten Freundin” klingt sehr interessant: die Geschichte zweier Freundinnen, geprägt vom Zeitalter der sozialen Medien. Die introvertierte, Bücherliebende Elisa und die extrovertierte Beatrice, Profi der Selbstinszenierung lange bevor es alle tun, was sie bald zur allseits bekannten Influencerin aufsteigen lässt. Hinzu kommt ein wirklich grandioses Cover, das zu den tollsten gehört, die ich dieses Jahr gesehen habe. Tatsächlich spielen die sozialen Medien aber nur eine untergeordnete Rolle, viel mehr geht es um die toxischen Beziehungen der Ich-Erzählerin Elisa, vor allem die zu Bea. Los geht’s als die beiden 14 Jahre alt sind. Zunächst ist es (auch wenn ich mir etwas ganz anderes vorgestellt hatte) spannend darüber zu lesen, bald aber verliert sich die Autorin in einer Endlosschleife an Wiederholungen. Eine Message fehlt und es ist wirklich erstaunlich, wie sowohl Elisa als Beatrice zwar erwachsen werden, sich aber kein bisschen weiterentwickeln. Das macht den Roman stellenweise sehr langatmig. Mir hat das besondere Etwas gefehlt. Das Ende – ohne spoilern zu wollen – habe ich gehasst. Bei einer italienischen Rezensentin habe ich gelesen, dass die Story als eine einzige Chiara Ferrangi Fanfiction anmutet; da ich mich in der Welt der Influencer:innen nun wirklich nicht auskenne, kann ich nicht beurteilen, wie sehr diese Aussage zutrifft.

Bewertung vom 25.11.2021
Kleines Hundeherz sucht großes Glück / Der Weihnachtshund Bd.1
Schier, Petra

Kleines Hundeherz sucht großes Glück / Der Weihnachtshund Bd.1


weniger gut

Darum geht’s: Lidia übernimmt die Stelle als Vertretungsköchin in einer Sozialstation. Dort arbeitet Noah als Street Worker. Die beiden fühlen sich sofort zueinander hingezogen, jedoch stammt Noah aus schrecklichen Verhältnissen und hat Angst, sich in einer Beziehung irgendwann genauso zu verhalten wie seine Eltern einst. Aber da ist ja noch ein kleiner, süßer Hund.

Was ich erwartete hatte: eine süße, kitschige Weihnachtsromanze mit flauschigem Vierbeiner. Ganz habe ich das nicht wirklich bekommen.

Unterhaltsam waren tatsächlich die Szenen, in denen der Weihnachtsmann und seine Elfen das Zusammenfinden von Lidia und Noah mithilfe des kleinen Streuners Amor “planen”. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet, aber hey, es ist Weihnachten, da darf es auch gerne mal over the top sein. Am liebsten mochte ich die Kapitel und Szenen aus der Perspektive von Amor, so niedlich, davon hätte ich gerne viel mehr gehabt.

Was ich nicht mochte wiegt leider umso schwerer. Noah wird natürlich als mürrischer, zu bändigender Typ dargestellt. Aber ich kann es einfach nicht ab, dass in der heutigen Zeit immer noch Sätze à la “wenn sie jetzt nicht geht, kann ich für nichts garantieren” auftauchen. Ständig soll Lidia doch besser die Flucht vor ihm ergreifen, weil er sich sonst nicht mehr kontrollieren könne. Ein absolutes No-Go solche Gedankengänge bei den männlichen Protagonisten. Erstaunlicherweise noch schrecklicher als diese Gedanken von Noah war das Verhalten von Lidias Eltern. Die beiden kennen sich erst kurze Zeit bevor sie zusammen, nachdem sie dann zwei Wochen lang zusammen sind, taucht Lidias Vater bei Noah auf und textet ihn zu, ob er Lidia liebe, zukünftiger Schwiegervater, willkommen in der Famillie, etc... Das ist so unglaublich schlecht gemacht (die Mutter macht ein paar Tage später das Gleiche), so übertrieben und unnatürlich - einfach nur cringeworthy.

Schade, da die Hinweise auf die anderen Pärchen des Romans (Lidia hat viele Geschwister und die werden wohl alle vom Weihnachtsmann mit Hunde-Hilfe verkuppelt) bereits andeuten, dass ihre Liebesgeschichten sich ähnlich entwickelt haben, werde ich wohl kein weiteres Buch der Autorin lesen.

Bewertung vom 19.11.2021
Der Flug des Raben
Wagamese, Richard

Der Flug des Raben


sehr gut

Heimkehr
“Ich konnte ihre Stimmen dort hören. … Stimmen aus einer Geschichte, die gelöscht worden war. Eine Vergangenheit, die nie in mir hatte leuchten können.”

Garnet Raven ist Ende der 1970er Anfang 20. Er weiß, dass er indigener Abstammung ist, aber gleichzeitig weiß er nicht, was das für ihn bedeutet. Den als er grade einmal 3 Jahre alt war, wurde er seiner Familie gestohlen. Weggebracht, von der kanadischen Regierung, in Pflegefamilien, um ihm seine Kultur auszutreiben. Er kann sich nicht an seine Eltern und Geschwister erinnern, seine Vergangenheit, seine Geschichte, wurde gelöscht. Wie geht ein Mensch damit um? Mit dem Wissen, einer Familie, einer Kultur anzugehören, über die er nichts weiß außer den weitverbreiteten meist negativen Vorurteilen und kitschigen Stereotypen? Garnet versucht alles zu sein, nur nicht das was er ist. Bis einer seiner Brüder ihn ausfindig macht und ihn einlädt, nach Hause zu kommen, in das Reservat White Dog, wo im nördlichen Ontario seine Ojibwe Familie lebt.

Der erste Roman des First Nations Autors Richard Wagameses erzählt die Heimkehr Garnet Ravens. Behutsam und entschleunigt führt er nicht nur den jungen Protagonisten, sondern auch die Leser:innen an das einfache Leben im Reservat, an die (Familien)Geschichte, an die Kultur, die Traditionen der Ojibwe und die Verbundenheit der indigenen Völker Kanadas zum Land heran. Garnet, dessen Leben vor dem Reservat geprägt war von Verlorenheit, lernt seine Familie und seine Vergangenheit kennen und findet dabei auch zu seiner eigenen Identität. Die Erzählung ist dabei gespickt mit erstaunlich viel Humor (vor allem im Vergleich zu Wagameses Roman “Der gefrorene Himmel”). Ein toller Roman, bei dem ich viel lernen durfte.

[Einziger Wermutstropfen: Der 1994 veröffentlichte Roman wurde jetzt erstmals ins Deutsche übersetzt. Garnet verbringt in Toronto viel Zeit in der Schwarzen Community. Warum – ohne, dass es irgendeine inhaltliche Tragweite hat – in einer Übersetzung aus dem Jahr 2021 das N-Wort wörtlich übersetzt werden muss, erschließt sich mir nicht.]

“Das Land ist ein Gefühl. … Verlierst du die Verbindung, verlierst du das Gefühl, zu etwas zu gehören, was größer ist als alles andere. Das ist sozusagen der Zugang zum großen Geheimnis. Den Geist, die Seele des Landes zu spüren, die auch die Seele der Menschen und deine eigene Seele ist.”

Bewertung vom 02.11.2021
Drive Me Crazy - Für die Liebe bitte wenden
O'Leary, Beth

Drive Me Crazy - Für die Liebe bitte wenden


weniger gut

Mit den beiden wirklich tollen Vorgänger-Romanen von Beth O’Leary “The Flatshare” und “The Switch” kann “The Roadtrip” (Drive me crazy) leider nicht mithalten. Darum geht’s: nach einer Autopanne auf dem Weg zu einer Hochzeit müssen Addie und Dylan, die seit ihrer Trennung vor 2 Jahren keinerlei Kontakt hatten, gemeinsam weiterfahren - 500 Kilometer im engen kleinen Auto mit Addies Schwester, Dylans Kumpel und einem weiteren Gast. Dabei wird in Rückblenden die Beziehung der beiden erzählt. O’Learys Schreibstil ist wie immer angenehm und man möchte auch gerne wissen, was passiert ist, das zur Funkstille führte. Leider spielt eine große Rolle das Klischee vom Mädchen aus einfachen Verhältnissen und dem reichen Jungen. Wann immer Dylans Elite-Sprössling-Clique auftauchte, fühlte ich mich unangenehm an Logan und die Life and Death Brigade aus Gilmore Girls erinnert. Die wirklich interessanten Aspekte, die sich auch auf eine Beziehung zwischen Menschen verschiedener sozialer Milieus auswirken können, bleiben hier zum Großteil außen vor bzw. geraten durch Parties und Co. in den Hintergrund. Der Trennungsgrund wirkt nach dem großen Spannungsaufbau sehr unspektakulär. Hinzu kommt, dass Addie und Dylan sich natürlich wieder annähern, was aber nur geht, wenn sie sich weiterentwickeln. Aber das passiert alles außerhalb der Erzählung - die Entwicklung aller Figuren, auch der Nebenfiguren – allen voran Addies Schwester Deb und Kumpel Marcus –, wird den Leser:innen als fertiges Ding präsentiert, man erlebt es nicht mit, was sehr schade ist. Zudem fand ich es sehr unnatürlich, dass diese recht intimen Details sozusagen vor dem Publikum der Mitfahrenden ausgetragen wird, das passt irgendwie nicht. Enttäuschend fand ich persönlich, wie mit einem sexuellen Übergriff umgegangen wird und dass es nicht nur einen, sondern gleich zwei Stalker gibt, die ebenfalls als relativ harmlos präsentiert, teilweise sogar als comic relief verwendet werden. Das kann Beth O’Leary besser.

Bewertung vom 29.10.2021
Wir trafen uns im Dezember
Curtis, Rosie

Wir trafen uns im Dezember


schlecht

Ich sollte wirklich lernen, vorher schonmal über Reviews anderer Leser:innen zu schauen, denn dann hätte ich mir ein langweiliges wie “Wir trafen uns im Dezember” erspart. Die Idee dahinter erinnert an “Ein Tag im Dezember” oder “Zwei an einem Tag”, was das Buch auch gerne wäre, aber meilenweit davon entfernt ist. Die Protagonisten Jess und Alex treffen sich im Dezember als sie in die WG einer gemeinsamen Freundin in London ziehen. Sie finden sich beide toll, aber super konstruiert wirkende Steine liegen ihnen im Weg (zum Beispiel die Regel, dass es in der WG keine Paare geben darf). Das ganze “Zueinanderfinden” wird auf so unispierierte Weise erzählt, dass ich nicht mal mehr “eine Braue heben” konnte – das tun die Leute im Roman eh schon ständig. Überhaupt tauchen so viele verschiedene unwichtige Figuren auf, über die man nichts erfährt, außer total Beschreibungen ihrer Kleidungsstücke, die total random sind. Türkise Tunikas oder graue Hosen sagen unglaublich viel aus über eine Person. Nicht. Auch sind Jess und Alex mehr oder weniger dieselbe Person, sie haben exakt gleiche Gedankengänge und ich musste mehrmals zum Kapitelanfang zurück um nachzuschauen, aus wessen Perspektive jetzt gerade erzählt wird. Die emotionalste Szene hatte wenig mit dem zentralen Paar zu tun, sondern war für mich als beschrieben wurde, wie beim London Marathon Läufer:innen für geliebte Menschen mitmachen, die schwer erkrankt sind. Es sagt schon viel aus über das Buch, wenn es ausgerechnet diese Szene ist, die mir nachhaltig in Erinnerung geblieben ist. Auch aus der Idee, dass Jess und Alex gemeinsam Spaziergänge durch London machen, wird nicht viel gemacht, weder, um die Stadt atmosphärischer wirken zu lassen und auch nicht um die Figuren weiterzuentwickeln. Echt schade.

Bewertung vom 25.10.2021
Das Glück des Wolfes
Cognetti, Paolo

Das Glück des Wolfes


gut

Der Klappentext suggeriert, dass es sich bei “Das Glück des Wolfes” um eine Art Liebesgeschichte zwischen Fausto und Silvia, die sich im Bergdorf Fontana Fredda begegnen, wo beide eine Art Neuanfang wagen wollen. Überhaupt ist der Klappentext sehr irreführend, denn die “Beziehung” zwischen Fausto und Silvia spielt nur eine untergeordnete Rolle – Gott sei Dank, denn sie ist unglaublich klischeehaft, Silvia ein typisches Manic Pixie Dream Girl, das perfectly imperfect ist und eher auf komplizierte Männer als auf attraktive steht. Die Dialoge zwischen den beiden sind cringeworthy. Da kommt tatsächlich jede Passage, jedes Kapitel über Natur als absolute Erleichterung daher, denn das ist es was Paolo Cognetti gut kann, warum ich ihn lese. Man fühlt sich transportiert in die Bergwelt des Monte Rosa Massivs, die Wälder, die Abgeschiedenheit, die Einsamkeit und Einfachheit des dortigen Lebens. Schade, dass er sich nicht mehr diesem Aspekt seiner Erzählung gewidmet hat, denn obwohl er auch nach der Bedeutung der Natur für den Menschen und andersrum fragt, verliert er sich in zu vielen, zu oberflächlich angeschnittenen Figuren. Auch die essentiellen, philosophischen Fragen (wer bin ich? wer möchte ich sein? wo ist mein Platz? etc.) bleiben dadurch irgendwie in der Luft hängen.

Bewertung vom 12.10.2021
Das Fest der Weihnachtsschwestern
Morgan, Sarah

Das Fest der Weihnachtsschwestern


sehr gut

Den deutschen Titel finde ich wenig gelungen für den Roman. Klar, zwei Schwestern spielen eine Rolle, aber die Mutter wird dadurch irgendwie außenvorgelassen. Und mit ihr beginnt der Roman: einer zutiefst unsympathischen Person, die jegliche Mantras zur “Persönlichkeitsoptimierung” verinnerlicht hat und als superduper erfolgreiche Businessfrau selbst zwei Selbsthilfebücher geschrieben hat. Einer dieser Leitsprüche besagt es Menschen, die einem nichts nützen, aus seinem Leben zu entfernen. Weshalb sie ihr schickes, teures Leben ganz alleine führt. Denn nach einem Streit mit ihren Töchtern, die nicht nach dem Motto der Mutter leben wollen, hatte sie seit 5 Jahren keinen Kontakt mehr zu den beiden. Samantha und Ella hören erst wieder von ihrer Mutter, als diese nach einem Unfall allein im Krankenhaus liegt. Eine wirklich emotionale Bindung konnte Gayle Mitchell nie aufbauen zu ihren Töchtern, aber es verletzt sie, weder von Samanthas beruflichem Erfolg mitbekommen zu haben, noch davon, dass Ella verheiratet ist und eine kleine Tochter hat. Um die Streitigkeiten beizulegen und sich als Familie neu kennenzulernen, reisen alle gemeinsam über Weihnachten nach Schottland, wo sich die drei Frauen der Vergangenheit stellen müssen und lernen müssen, ihre Gefühle zu erkennen und zu kommunizieren.

Stellenweise ist der Roman etwas langatmig, aber die Figuren bringen für das Genre doch erstaunliche Tiefe mit. Hinter Gayles Selbstoptimierungszwang verbirgt sich ein nicht aufgearbeitetes Trauma, das in Schottland erstmals ans Tageslicht kommt und Samantha und Ella hilft, die eigene Mutter zu verstehen. Obwohl Weihnachten natürlich eine große Rolle spielt, fühlt es sich nie kitschig überladen an. Ein angenehmer Roman, der für mich durchaus eine positive Überraschung war.