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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
MarcoL
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Füssen

Bewertungen

Insgesamt 203 Bewertungen
Bewertung vom 03.07.2023
Der Eisbär und die Hoffnung auf morgen
Ironmonger, John

Der Eisbär und die Hoffnung auf morgen


ausgezeichnet

Ein eindruckvolles Plädoyer für eine bessere Zukunft, eingepackt in einen spannenden Roman.

… und die Hoffnung auf morgen … so der erweiterte Titel, der in Anbetracht der momentanen Situation auf dem Planeten wirklich nur mehr ein kleine Hoffnung auf Hoffnung zu sein scheint.
Ironmonger schreibt in diesem über 80 Jahre spannenden fiktiven Werk über den Klimawandel mit seinen (möglichen) Folgen, eingepackt in einen spannenden Roman, welcher sich hauptsächlich um zwei Hauptprotagonisten dreht.
Im beschaulichen cornischen St. Piran kennt jeder jeden, man trifft sich am Hafen oder abends im Pub. Eines Abends sitzt der zwanzigjährige Student Tom Horsmith im Pub, als der Politiker und eingefleischter Klimawandelleugner Monty Causley dazukommt. Es entsteht ein heißer Disput über den Klimawandel, und in weiterer Folge eine spektakuläre Wette zwischen den beiden. Was sie nicht wissen, ist, dass ihre Auseinandersetzung gefilmt wird und im Netz viral geht. Das verändert das Leben der beiden auf dramatische Weise. Seit diesem Tag sind ihrer beide Schicksale, auch wenn sie sich nur alle zehn bis fünfzehn Jahre treffen, eng mit einander verwoben. Mal zum Unglück des einen, mal folgenschwer für den anderen. Was alles in den achtzig Jahren geschieht, verrate ich natürlich nicht – ich kann aber soviel sagen: es bleibt spannend.
Ironmongers Erzählstil ist einfach. Er benötigt keine geschnörkelten Worte um eine Stimmung zu erzeugen, und dennoch sitzt jeder Satz, reißt die Leser:Innen mit in seinen Gedanken und im Streit mit Tom und Monty. Beide beschert das Schicksal eine außergewöhnliche Lebensgeschichte, mit schönen Momenten und Erfolgen, aber auch mit Niederlagen. Die Lebenslinien der beiden bleiben mit einander verwoben.
Neben den sehr eindrücklichen Beschreibungen des Autors, was den Klimawandel betrifft, - mit erhobenen Zeigefinger -, besticht der Roman vor allem durch seine akribische Darstellung der Charaktere. Für mich ist das eine ganz besondere Erzählkunst. Den Tom, Monty und auch andere Protagonist:Innen erscheinen derart plastisch und real, man könnte meinen, sie ein Leben lang zu kennen.
Sehr gerne gebe ich hier eine ausgesprochene Leseempfehlung ab. Klimawandel geht uns alle an, ob es uns passt oder nicht (meine 5 coins dazu).

Bewertung vom 11.06.2023
Der Tanz auf dem Vulkan
Vieux-Chauvet, Marie

Der Tanz auf dem Vulkan


sehr gut

Der ungeschönte, sprachlich brillant ausgearbeiteter Weg zur Haitianischen Revolution.

Die Autorin bedient sich bei diesem beeindruckenden Roman historischer Begebenheiten. Es ist der Vorabend zum Sklavenaufstand in Haiti, Ende des 18. Jahrhunderts, welcher schließlich, weltweit einzigartig, zu einem unabhängigen Staat führte.
1792, Minette und ihre jüngere Schwester Lise wachsen von ihrer Mutter, eine affraniche – eine freigelassene Sklavin, behütet in Port-au-Prince auf. Beide können auf ihr Gesangstalent sehr stolz sein, und mit der Fürsprache und Schutz von Madame Acquaire, welche beiden in aller Heimlichkeit Gesangsunterricht gibt, darf Minette eines Tages auf der Bühne auftreten, obwohl es Farbigen strickt verboten ist. Ihr außergewöhnlicher Gesang und der Zusammenhalt innerhalb der Schauspielertruppe beschützt sie weitestgehend vor Repressalien und gröberen Anfeindungen. Zunächst singt sie unentgeltlich, fordert dennoch bald einen eigenen Vertrag. Ihr Selbstbewusstsein ist groß, auch ihr tiefer Argwohn gegen die weißen Kolonialherren, welche nach Lust und Laune regieren und die Einheimischen und Farbigen unterdrücken. Trotz ihres Erfolges bleibt Minette der Zugang zur Gesellschaft, wie etwas der obligatorische Ball nach einer Aufführung, aus Rassengründen untersagt.
Während dieser Monate kommt Minette immer mehr mit rassistischen Anfeindungen in Berührung. Auch wird sie mehrfach Zeuge der willkürlichen Gewalt der Weißen Farbigen gegenüber. Sie trifft auf den Untergrund, die aufständischen Sklaven und jenen guten Seelen, welche die aufkeimende Revolution unterstützen. Und sie beginnt, ihr Umfeld zu hinterfragen.
„ Warum gab es Reiche und Arme? Warum wurden die Sklaven geschlagen? Warum gab es gute und schlechte Herren, gute und schlechte Priester? Warum lehrte der Katechismus das eine und taten die Priester das andere? Sie sagten: wir sind alle Brüder, und trotzdem kauften sie Sklaven, manchmal schlugen sie sie, oder quälten sie zu Tode.“
Denn im ganzen Land formieren sich die Sklaven, es gibt erste Aufstände, bis hin, ohne jetzt zuviel zu spoilern, zur blutigen Revolution, welche oft sehr detailreich geschildert wird (Triggerwarnung!).
Die Geschichte ist mit einer großen, erzählerischer Kraft geschrieben. Die handelnden Personen sind derart plastisch dargestellt, als ob man sie real kennen würden. Das ist eine große Stärke der Autorin, welche ihre Heimat Haiti 1968 verlassen und ins Exil gehen musste. Die patriarchalen und menschenfeindlichen Strukturen haben das Land nie verlassen.
Der Roman beginnt sanft, Kritik und Aufstand kommen langsam daher, aber es schaukelt sich gegen Ende gewaltig auf. Manchmal ein wenig zu heftig nach meinem Geschmack, sodass der ursprüngliche Lesefluss und die eindrücklichen Szenen etwas in Mitleidenschaft geraten. Gerne gebe ich eine Leseempfehlung , vor allem für jene, die historisch über den Tellerrand schauen möchten.

Bewertung vom 29.05.2023
12 Grad unter Null
Herzig, Anna

12 Grad unter Null


ausgezeichnet

In Sandburg beginnt eine neue Zeit. Die patriarchalen Strukturen haben es geschafft, einen weiteren Sieg gegen die Frauen zu erringen. Ein neues Gesetz erlaubt es jedem Mann, von den Frauen zurückzufordern, was die Testosteronträger in die Frauen investiert haben. Ein paar tausend Euro binnen 2 Wochen … natürlich kein Problem. Gegebenenfalls droht eben ein Rechteentzug. Oder schlimmer. Keine Wohnung, Keine Arbeit. Keine Lebensgrundlage.
Greta, im sechsten Monat schwanger, sieht sich mit einer unmöglichen, existenz- und lebensbedrohenden Lage konfrontiert, als Henri, ihr Verlobter und Vater des ungeborenen Kindes, von diesem Gesetz gebrauch macht. Greta sucht Hilfe in ihrer Familie, bei ihrer Schwester. Und so nach und nach ermöglicht uns die Autorin Einblick in die tiefen Schluchten, welche das Familienoberhaupt mit seiner patriarchalen Besessenheit aufgerissen hat. Die Mutter war immer nur um Schadensminimierung bemüht, das Gesicht nach außen zu wahren um das Bild einer heilen Familie aufrecht zu erhalten (und nach Möglichkeit den Frieden in der Familie). Mehr möchte ich vom Inhalt nicht verraten.

Anna Herzig zeichnet uns eine Dystopie, welche die Grundlage aus dem Leben schöpft. Wissen wir immer, was hinter den Türen passiert? Wieviel Unterdrückung, Gewalt, Misogynie, etc. passiert im täglichen Leben, ohne dass wir es wissen. Vielleicht ahnen wir es, manchmal, an Geräuschen, Blicken. Vielleicht haben wir es selber erlebt und dachten, es ging nur uns so (egal ob Mädchen, Junge oder Frau).
Ich feiere dieses Buch! Ehrlich! Auch wenn die Story überspitzt zu scheinen mag. Aber einen Kuschelkurs gegen das Patriarchat gibt es nicht.

Auf den 140 Seiten passiert so viel, Herzig versteht es sehr gekonnt, ohne Ausschweifungen und in direkter, dem erzählten Inhalt perfekt angepasster Sprache, Bilder zu erzeugen. Man lebt und leidet mit, schüttelt den Kopf, wird wütend und hilflos zugleich, und stellt fast zum Glück fest, dass es nur eine dystope Fiktion ist. Es rüttelt auf, lässt einen nachdenken – mit der Hoffnung, dass sich unsere zerrüttete Gesellschaft zum besseren wenden wird.

Bewertung vom 14.04.2023
Picknick im Dunkeln
Orths, Markus

Picknick im Dunkeln


ausgezeichnet

Ein gelungener Mix aus Biographien und philosophischen Fragen. Stan Laurel meets Thomas von Aquin.

Es ist dunkel, man findet sich umgeben von purer Schwärze. Tast- und Gehörsinn scheinen zu funktionieren, dann kann es wohl doch nicht ganz so schlimm sein. Aber wie ist derjenige dorthin gelangt? Eine Erinnerung daran gibt es nicht, sehr wohl an das eigene Leben. Irgendwo sollte sich doch ein Ausgang finden lassen, könnte man meinen. Und so tastet sich unser Held durch die Dunkelheit vorwärts. Es ist niemand anderes als Arthur Stanley Jefferson, uns besser bekannt als Stan Laurel. Seine ersten Gedanken in dieser bizarren Situation galten seinem langjährigen Filmpartner und Freund Oliver Hardy. Ein klägliches „Ollie?“ verstummte unbeantwortet.
Und so beginnt eine abenteuerliche Reise durch die Finsternis. Orths erzählt uns viele interessante Dinge über Stan Laurel, über seinen Werdegang und sein Leben. Und währenddessen stolpert Stan auf seinem Weg entlang einer Wand über eine Person, die am Boden kauerte – Thomas von Aquin, welcher sich im Jahre 1273 wähnt.
Es beginnen interessante Dialoge zwischen den beiden, natürlich vorerst geprägt durch den kleinen Unterschied von 700 Jahrhunderten, welche Stan voraus ist. Doch bald bekommt das Gespräch eine philosophische Natur, geprägt von der Frage, warum sie beide hier sind. Absolut fesselnd! Die Gedanken dehnen sich aus, drehen sich bald um Glaubensfragen. Stan Laurel ist mehr oder weniger Atheist, und so treffen dogmatisch zwei Welten aufeinander. Laurels „Religion“ besteht in der Faszination des Lachens, denn nichts war ihm in seinem Leben wichtiger, als Menschen zum Lachen zu bringen. Dazwischen, aufgelockert, gibt es immer wieder passende Kapitel über den Lebenslauf der beiden Protagonisten.
Ich bin total fasziniert von diesem Buch, so „trocken“ sich der Inhalt auch anhören mag. Aber: ich glaube, man sollte ein Fan des Komikers Laurel sein, und seine Filme kennen (auch wenn viele Szenen beschrieben werden), um im Gedankenkarussel der beiden nicht schwindelig zu werden. Sehr gerne gebe ich hier eine Leseempfehlung für dieses äußerst gelungene Werk und geniale Buch. Für mich ist es eine große Erzählkunst, ein solches Thema derart unterhaltsam zu beschreiben!

Bewertung vom 11.04.2023
Charlotte Löwensköld
Lagerlöf, Selma

Charlotte Löwensköld


ausgezeichnet

Viele verbinden die Autorin „nur“ mit ihrem großen Erfolg Nils Holgerson. Aber mit diesem Roman stellte sie einmal mehr ihr schriftstellerisches Können unter Beweis (nebenbei erwähnt, erste Frau, welche den Nobelpreis für Literatur gewann, sehr zu recht). Allein Sprache und Erzählweise hat mich in ihren Bann geschlagen, und der tiefere Inhalt sowieso. Auch wenn es manchmal an Geplänkel, Schweigen, Missverständnissen nicht mangelte, und sich meiner Meinung nach so manches in die Länge ziehen mochte, so der Anschein, wurde mir die Lektüre nie langweilig.
Lagerlöf bediente sich wunderbarer Stilmittel, wie zum Beispiel einen feinen, hintergründigen Humor, strickte gefühlt tausende von Fäden, welche kreuz und quer gesponnen waren, und überzeugte von der starken Frauenfigur der Charlotte Löwensköld. Diese ging ihren Weg, mutig, mit Liebe und dem nötigen Schmunzeln.
Nur kurz zum Inhalt, denn ohne Spoiler wäre der gar nicht zu erzählen. Charlotte ist seit fünf Jahren mit Karl-Artur Ekenstedt verlobt. Eine recht lange Zeit, und Charlotte sehnt sich nach der Ehe, es geht ja letztendlich auch darum, versorgt zu sein. Aber es hakt … und ein anderer versucht bei ihr sein Glück. Doch sie schlägt aus, trotz verlockendem Wohlstand. Jetzt müsste doch Karl-Artur nun wirklich den letzten Schritt tun, sollte man meinen, aber er ist zu verbohrt, steigert sich in die Sache hinein, und keine Erklärungs- oder Versöhnungsversuche von Seiten Charlottes fruchten. Sie kämpft … und nimmt ihr Schicksal letztendlich selbst in die Hand.
Lagerlöf zeichnet starke Figuren (die Mitleid und Wut erzeugen), erzählt detailverliebt, und schafft es, die Gesellschaft (sehr misogyn) plastisch darzustellen. Die Kritik am „System“ ist nicht zu übersehen, und so ist der Roman ein Aufbäumen, ein Aufzeigen, eingepackt in das subtile Thema der Liebe, mit welchem sich gewiss viele Leser:Innen damals und heute identifizieren konnten und können.
Sehr gerne gebe ich eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 30.03.2023
La Vie
Levashova, Katharina

La Vie


ausgezeichnet

La Vie – das Leben. Vielfältig, bunt, heiter, tragisch. Es endet und beginnt von Neuem. Und mittendrin: der Mensch, in all seinen Facetten. „Kein Ende ohne Anfang“
Ferdinand ist fast hundert Jahre alt, sitzt oft und gerne im Café oder auf einer Parkbank im Städtchen Melk in der Wachau. Er beobachtet die Menschen, zieht seine Schlüsse. Seine lange Lebenserfahrung hat ihm ein besonderes Gespür gegeben. Und so wird Ferdinand (man muss ihn einfach liebhaben) in diesem Debütroman der Autorin zum Dreh- und Angelpunkt von einigen Episoden der Protagonist:Innen. Die meisten davon sind mit dem Greis verwandt, haben so ihre Ängste und Nöten, wie es einem das Leben nur bieten kann. Seien es berufliche Probleme, oder Beziehung, die neu keimen, sowie Flüchtlinge, die erst mal ankommen müssen.
Vieles erkennt Ferdinand, den alle kennen. Und so plaudert Ferdinand zwischen den einzelnen Kapiteln von der Zeit im und nach dem Krieg, seiner große Liebe Elisa, und natürlich von seinen Kindern und Enkeln. Vieles hat er zu berichten. Und in den Episoden lernen wir das kleine Knäuel Menschen sehr gut kennen, sitzen ebenfalls auf der Parkbank, und lassen uns einlullen in den ständigen fließenden Strom, genannt Leben (alles weitere wäre gespoilert, also bitte selber lesen).
Nebenbei, der Roman ist eine Liebeserklärung an die oberösterreichische Stadt Melk. Am Eingang zu schönen Wachau, an der Donau gelegen (da ist er wieder, der Strom), mit vielen schönen Locations, macht es Lust, es Ferdinand gleich zu tun. Ich bin sicher hundertmal oder öfter auf der Autobahn vorbei gerauscht, ohne auch nur einmal einen Abstecher dorthin zu machen (shame on me).
In einer angenehmen, unaufdringlichen Sprache entführt uns Levashova in das Leben der Stadt. Der Roman ist angereichert mit einer guten Beobachtungsgabe, authentischen Dialogen und so manchem Getuschel unter Freundinnen. Es ist ein sehr feines Buch, gerne gelesen, und bin gespannt, was wir von der Autorin noch erwarten dürfen. Ich gebe hier gerne eine Leseempfehlung ab für die quirligen Lebensgeschichten, welche auch mal mit einer gewürzten Prise Humor daherkommen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.03.2023
Zeit der Schuld
Kapoor , Deepti

Zeit der Schuld


ausgezeichnet

Ein packendes Epos aus Indien um Loyalität, Schuld, Sühne, Verrat

Indien. Uttar Pradesh, Delhi und der Norden zu Nepal.
Ajay war acht Jahre jung, als er von seiner Mutter verkauft wurde. Sie gab ihm die Schuld, dass ihre Ziege ausbüxte, sich an Nachbars Spinat gütlich tat und darauf hin sein Vater ermordet wurde. Ajay kam in ein Gehöft im Norden, musste arbeiten und war der Meinung, sein Lohn bekäme direkt seine Mutter. Das geschah 1991. Dreizehn Jahre später sitzt er im Gefängnis, … was dazwischen geschah und kurz danach ist der Inhalt dieses fesselnden Romans, der durch alle Gesellschaftsschichten Indien pflügt.
Er reißt nie verschlossene Wunden auf, wirft die Tatsachen wie die Erdschollen ans Licht. Ohne Erbarmen zeigt er uns ein Indien, das vom Kastenwesen, Korruption und Syndikaten beherrscht ist. Bittere Armut versus unermesslicher Reichtum, dazu eine Ausbeutung der Gesellschaft, vor der man meint, sie sei seit Jahrhunderten vorbei.
Das kurze Leben Ajays ist unser Reiseleiter. Als sein Besitzer im Norden starb, war er zwar frei, aber mittellos. Er hatte Glück, fand Arbeit, und auch nötige Kontakte. Und so spülte ihn das Leben wie der Monsun eines Tages nach Indien zu Sunny, Thronfolger eines Syndikatoberhauptes. Er wurde Diener, Bewacher, Mädchen für alles. Sunny hingeben lebte in Saus und Braus, hatte sogar durchaus ansprechende Zukunftsvisionen. Ajays früh erlernte Fähigkeit bedingungslos zu gehorchen kam ihm nur zu Gute. Er verdiente viel Geld, hatte Freizeit. Und dennoch verhedderte er sich in den imaginären Fußfesseln des Clans. Er war Opfer, wurde zum Täter, und wieder zum Opfer. Im Hinterkopf war immer seine Sorge um seine Mutter und Schwester. Zu gerne würde er sie besuchen. Eines Tages ergab sich eine Gelegenheit, und die wahren Verstrickungen seinen Lebens kamen ans Tageslicht. Mehr wird nicht verraten – ich kann aber sagen: es hat epische Züge und ist ein Lied über Schuld und Sühne, Freundschaft, Loyalität und Verrat. Ein knapp 700 Seiten starker Bericht aus dem zeitgenössischen Indien, ganz ohne Romantik und Bollywood.
Die Sprachführung der Autorin ist sehr direkt, angenehm zu lesen, und schon nach den ersten Seiten weiß man: das ist ein Pageturner. Deepti Kapoor versteht es, die Leserschaft in und durch ihre Welt zu führen, als wäre man permanent direkter Begleiter der Protagonist:Innen. Das ist für mich hohe Erzählkunst. Somit gebe ich hier sehr gerne eine absolute Leseempfehlung.
Dies ist der erste Roman der Autorin, welcher ins Deutsche übersetzt wurde. Ich hoffe, weitere folgen nach.

Bewertung vom 15.03.2023
Besser allein als in schlechter Gesellschaft
Altaras, Adriana

Besser allein als in schlechter Gesellschaft


ausgezeichnet

Teta Jele, die Tante der Autorin, ist 99 Jahre jung. Ein Oberschenkelhalsbruch fesselt sie ans Bett. Und so muss sie ihre Tage in einer Pflegeanstalt fristen, niemand darf sie besuchen, nicht mal ihre geliebte Nichte Adriana. Das C-Virus greift um sich, es ist der erste Lockdown. „Wie im Krieg“ meint die ansonsten rüstige Greisin, und vermisst natürlich ihre Nichte. Deren Leben läuft auch nicht so, wie es sollte. Ihr Mann ist auf und davon, die erwachsenen Söhne außer Haus, und die Coronamaßnahmen lassen weder Proben noch Inszenierungen an den Opern zu.
So bleibt nur mehr das Telefon, um die Strecke zwischen Adrianas Wohnsitz Berlin und dem Pflegeheim in Mantua zu überwinden. Sie erzählen einander von ihren Tagen, an welchen sich die Monotonie die Hand gibt. Es werden Anekdoten ausgepackt und längst vergessene Erinnerungen sickern wieder hervor. Abwechselnd lässt die Autorin die Tante und dann wieder sich selbst erzählen, vom Leben damals, als die junge Adriana, noch ein Kind, zu ihrer Tante nach Mantua kam, oder in den Ferien zu deren Ferienhaus am Gardasee.
Tante Jele hat viel erlebt – und überlebt. Zuerst die spanische Grippe, dann das Lager, in welche sie als Jüdin verschleppt wurde. Es gelang ihr die Flucht nach Italien, heiratete. Das Land wurde zu ihrer neuen Heimat. Und dennoch blieb das kroatische Zagreb immer in ihrem Herzen. Sie war eine sehr besondere Frau, hatte Glück im Leben, und konnte doch nie von sich behaupten, völlig glücklich zu sein. So schön es in Mantua war, die alte KuK-Zeit, Wien, Prag, Zagreb, vermisste sie zeitlebens. Aber Verzagen galt nicht, vielmehr kümmerte sie sich um Adriana wie die eigene Tochter. Es entstand eine enge Bindung der beiden, welche in diesem herrlichen Roman zum Ausdruck kommt.
Der hundertste Geburtstag der Tante steht an, doch wie feiern, wenn alles geschlossen ist, und Besuch nicht erlaubt. Das Pflegepersonal stößt mit ihr an, und Adriana ist mittels Skype dabei. Und Jele ist müde …
Ganz großes Kino, und sehr gerne gebe ich hier eine absolute Leseempfehlung für diesen sehr berührenden Roman.

Bewertung vom 31.01.2023
Der Wisent
Bach, Konrad Boguslaw

Der Wisent


ausgezeichnet

Ein Roadmovie wider Willen, komisch, melancholisch, voller Abwechslung und tiefer Einblicke!

Heniek und Andrzej sind seit ihrer Kindheit enge Freunde. Beide zählen mittlerweile an die 60 Lenze, und können auf so manche Episoden in ihrem Leben zurückblicken.
Ihre Homebase ist das kleine Nest Gajerudki in Polen, wo jeder jeden kennt, und es kaum Geheimnisse gibt.
Umso erschütterter ist Heniek, als ihn seine schöne Frau Beatka nach 36 Jahren Ehe verlässt. Für den Automechaniker, der alles reparieren kann, bricht eine Welt zusammen. Scheinbar versteht er sich mit Autos besser als mit Menschen. Und in ganzen der Zeit hat er wohl das wahre Wesen seiner Frau nie so richtig erfassen können (oder wollen). Kurzum, sie ist nach Domburg/Holland, um erstens dort mehr Geld zu verdienen, und zweitens, ihre Sehnsucht nach mehr Anerkennung zu stillen.
Andrzej war in seiner Jugend ein stadtbekannter „Nichtsnutz“, der einfach in den Tag lebte und sich um nichts kümmerte (außer um seine Libido, die sehr stark war). Doch eine ungewollte Schwangerschaft einer seiner Liebschaften krempelte sein Leben gehörig um.
Und so war es auch Andrzej, der Heniek vorschlug, er möge doch nach Holland fahren, um seine Beatka zurück zu holen. Er begleite und unterstütze ihn natürlich dabei.
Und so beginnt ein RoadTrip ohne Geld, ohne Straßenkarte, ohne weitere Sprachkenntnisse, quer durch Europa bis nach Domburg.
An skurrilen Situationen gibt es genug, genauso wie Rückblenden und Anekdoten aus deren beider Leben.
Mit Witz, Charme, eingepackt in eine wunderschöne Sprache, und einer immer währenden Melancholie, erzählt hier Bach vom Zauber einer Freundschaft, die trotz vieler Widrigkeiten Bestand hat. Der Autor greift so ganz nebenbei, fast schon unscheinbar, wichtige sozial- und gesellschaftspolitische Themen auf. Er bringt es mit einem Lächeln auf den Punkt, wie die Polen, oder die Deutschen ticken.Und ganz Europa.
Einfach Köstlich.
Und somit gebe ich sehr gerne eine Leseempfehlung für diesen wunderbaren, herzerwärmenden Roman – wahrscheinlich Lieblingsbuch für immer.
Übrigens – der titelgebende Wisent taucht auch auf – sehr kurz, aber dessen Geschichte könnte nicht symbolträchtiger sein.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.12.2022
Wilde Stille
Winn, Raynor

Wilde Stille


sehr gut

Eine wunderbare Fortsetzung von „Der Salzpfad“ - ein Neubeginn mit alten Problemen

Dieser Band ist die Fortsetzung des Buches „Der Salzpfad“ der Autorin.
Trotz seiner schweren Erkrankung beschließt Moth, nochmals die Schulbank zu drücken und beginnt ein Studium. Ray hingegen kümmert sich um ein Jobangebot nach dem anderen, wird aber nur abgelehnt. Nebenbei kümmert sie sich um ihre todkranke Mutter, welche nur mehr palliativ behandelt werden kann. Aus Tagen werden Wochen des Bangens, und absolut nichts scheint besser zu werden im Leben der beiden. Die zunehmenden Beschwerden von Moth bewegen Ray letztendlich, ihre Erfahrungen auf dem langen Küstenweg niederzuschreiben. Eigentlich tat sie es nur für ihn, und auch sich selbst, doch letztendlich bot sie das Manuskript Verlagen an – das Ergebnis: Der Salzpfad. Die Dinge wurden etwas einfacher, durch den Verlagsvorschuss und dem Stipendium von Moth kommt endlich etwas mehr Geld in die Kasse.
Durch den Erfolg des Buches wird ihnen von einem Leser die Bewirtschaftung einer verlassenen Farm angeboten. Wieder von vorne beginnen? Wieder (fremden) Menschen vertrauen. Ray meidet Menschen und den Kontakt mit ihnen so gut es geht. Vor ihren ersten Lesungen leidet sie körperlich, aber sie kämpft sich durch. Und dann erfüllen sich die beiden noch einen kleinen Traum und eine weitere, wenn auch kurze Reise, steht auf dem Programm.
Die Autorin erzählt von ihrem Leben mit ihrem Mann Moth. Sie berichtet von ihrem kargen Leben, von Krankheiten, Tod und Ängsten. Aber auch von Neubeginnen, vollgepackt mit Zweifeln und immer dem nötigen Funken Hoffnung. Neue Abenteuer und Erfahrungen warten – und so düster so manche Aussichten auch sein mögen, irgendwo scheint sich immer wieder alles zu fügen.
Der Erzählstil ist einfach, unspektakulär, verströmt aber eine gewisse Ruhe und Neugier. Man möchte wissen, wie es hinter jeder Wegbiegung im Leben der beiden weitergeht.
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für alle, die Lebensgeschichten und natureWriting mögen, und auch alle anderen Leser:Innen, die gerne mal über ihren üblichen Bücherrand schauen möchten.