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leseleucht
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Alfter

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Insgesamt 187 Bewertungen
Bewertung vom 14.05.2023
Straßenmusik
Behr, Markus

Straßenmusik


sehr gut

Musikalische Höhen und Tiefen
Jonas und Chiara machen Musik. Beide befinden sich in einer Übergangsphase und fragen sich, wohin das Leben gehen soll. Jonas’ Bandkollegen haben sich gerade auf wenig freundschaftliche Art von ihm getrennt und er sich von seiner Freundin. Er macht sich auf den Weg nach Amsterdam, muss einfach mal raus. Dorthin unterwegs ist auch Chiara. Sie hat sich gerade in Graz auf einen Studienplatz für Psychologie beworben und ist nun unterwegs mit ihrer Gitarre, um ein wenig Straßenmusik zu machen. Nach einer zufälligen Begegnung im Zug bringt Chiaras Gitarre, die sie in einer Amsterdamer Kneipe vergessen hat und die Jonas dort findet, die beiden wieder zusammen und sie experimentieren ein wenig damit herum, gemeinsam Musik zu machen. Dabei sind beide sehr unterschiedlich: Jonas wirkt sehr unsicher im Umgang mit Menschen und sucht immer wieder die Flucht, wenn er sich von ihnen überfordert fühlt. Chiara hingegen sucht ihre Aufmerksamkeit und reagiert mit unkontrollierter Wut, wenn sich die Dinge ihrem Willen entziehen. Eine schwierige Konstellation, zumal Jonas Chiaras Wesen wenig entgegenzusetzen hat und ihm in seiner Unsicherheit der ein oder andere Fauxpas unterläuft.
Markus Behr erzählt in seinem schmalen Band „Strassenmusik“ von zwei Menschen, die noch nicht wissen, wohin mit sich. Er entwirft zwei interessante Charaktere, die zeigen, dass Jugend kein Garant für Unbeschwertheit und Glück sein muss. Beide tun sich schwer, ein Ziel zu entwickeln, einen Weg zu finden und sich in den vielfältigen Konzepten von Beziehungen zurecht zu finden. Aber was sie bewegt und zueinander führt, ist ihre Musik. Und im Laufe des Romans finden sie zumindest hier ihren Standpunkt und wissen, was sie wollen und was auch nicht. Die Musik ist ihnen Rückzugsort und Ausdrucksmöglichkeit und – auch in Zeiten des pandemiebedingten Lockdowns – Ort der Begegnung.
Markus Behr schreibt flüssig und auch bei der Widerständigkeit mancher Szenen im Roman immer so, dass es den Leser weiterzieht. Die Figuren sind sehr plastisch und interessant gewählt, auch wenn sich bis zum Ende hin nicht immer die Motivation für ihr Verhalten verständlich zeigt. Aber wer weiß schon immer, warum er sich gerade wie verhält. Für mich sind die Sympathien klar verteilt zugunsten des etwas übervorsichtigen, verträumten, insgesamt recht ungeschickten Jonas gegenüber einer etwas überdrehten, leicht narzisstisch angelegten Chiara. Aber auch das ist Geschmackssache. Das Musikerbusiness gerät bisweilen etwas zum Klischee, das insgesamt aber sicherlich nicht unzutreffend ist. Was aber immer zu erkennen ist, ist die Liebe zur Musik.

Bewertung vom 09.05.2023
Polnischer Abgang
Hoffmann, Mariusz

Polnischer Abgang


sehr gut

Ins gelobte Land
Jarek reist mit seinen Eltern aus Polen aus nach Deutschland. Ermöglicht wird ihnen dies durch eine Einladung von Jareks Großmutter, die schon Jahre zuvor nach Deutschland verschwunden war. Eigentlich haben Jareks Eltern mit ihr keinen Kontakt mehr, weil sich Jareks Vater von ihr verraten würde. Nun erhofft sich Jarek, seine Großmutter endlich wieder sehen zu können. Doch die Einreise nach Deutschland und der Neustart dort gestalten sich schwerer, als die Familie gedacht hat. Zunächst stranden sie in einem Auffanglager und müssen sich erst als „gute Deutsche“ erweisen, die sie als Schlesier einst gewesen sind. Dabei stellt sich Jarek immer mehr die Frage, ob Deutschland wirklich das gelobte Land ist, von dem er und seine Freunde in Polen immer geträumt hatten.
Die Erzählung ist gerade zu Anfang sehr episodenhaft angelegt. Sie wechselt zudem zwischen verschiedenen zeitlichen Ebenen: die Ausreise der Sobotas, ihr Leben zuvor in Polen, das Leben und die Ehe von Oma Agnieszka und ihre Flucht. Auch sind die Figuren anfänglich noch ein wenig klischeehaft und bisweilen zu sehr komikerhaft angelegt. Da gibt es den deutschen Schlepper, den polnischen Aussiedler mit Westware und -wagen auf Heimaturlaub, den versoffenen Onkel, den schlitzohrig-pfiffigen Freund von Jarek. Und Jarek selbst sowie sein Vater wirken bisweilen sehr naiv und komisch ungeschickt.
Aber spätestens mit dem Erreichen des Auffanglagers entfaltet sich eine Handlung, der man besser folgen kann. Der Leser begleitet die Familie in eine für sie ungewisse Zukunft in einem doch mehr als erwartet fremden Land. Die Aufnahme sowohl von Seiten der Behörden als auch der Bewohner ist nicht immer herzlich, und es schlagen ihnen viele Vorurteile und typische Klischees entgegen. In der Erzählung klingen nun auch nachdenkliche und mal ganz dezent versteckte, mal recht offen formulierte kritische Zwischentöne an. Und Jareks ganz eigene Art, die Dinge zu sehen und einzuordnen, mal naiv staunend, mal etwas schalkhaft, aber immer großherzig und ohne bösen Hintergedanken lässt ihn das Herz des Lesers dann doch gewinnen. Und am Ende vermisst man ihn und wüsste dann doch gerne, wie seine Geschichte und die seiner Famile weitergeht in Deutschland, dem einst so gelobten Land.
Nachbemerkung: Das Cover ist einfach umwerfend. Solch wunderschöne Farben! So ein sattes, warmes Gelb und Braun der Streifen des weiten Feldes. Das schafft eine ganz tolle Atmosphäre!

Bewertung vom 09.05.2023
Josses Tal
Rehse, Angelika

Josses Tal


sehr gut

Eine böse Saat auf fruchtbaren Boden
Der kleine Josef, der sich später Josse nennt, findet in seiner Familie nur Kälte, Ablehnung und Gewalt, da er unehelich geboren ist und der Großvater ihn für den sozialen Niedergang der Familie verantwortlich macht. Bei seinen neuen Nachbarn findet der kleine Junge, der trotz allem lebensfroh, aufgeweckt, freundlich und aufgeschlossen ist, das, was er im eigenen Haus entbehren muss: Zuwendung, Fürsorge und Interesse. Insbesondere Wilhelm ist dem Jungen sehr zugetan, nimmt sich seiner an und fördert ihn. Allerdings ist Wilhelm auch Anhänger der aufkommenden nationalsozialistischen Bewegung und macht Josef zu seinem Instrument, ihrer beider Heimatdorf auszuspionieren und somit auf Linie der neuen Partei zu bringen. Josef steigt dabei in der Hitlerjugend immer weiter auf, beginnt aber zugleich auch immer wieder zu hinterfragen, ob das, was Wilhelm von ihm verlangt und was Josef aus Bewunderung und Liebe zu ihm immer wieder tut, wirklich das Richtige ist. Dann macht er eines Tages eine Entdeckung, die seine ganze Existenz und seine Beziehung zu Wilhelm infrage stellt.
Aus der Sicht des Jungen schildert die Autorin, wie sich der lange Schatten des Nationalsozialismus über das Land ausbreiten, wie die giftige Saat langsam gerade in den Köpfen der Unschuldigen ausbreitet. Von Anfang an begleitet den Leser, der sich zunächst darüber freut, dass es jemanden gibt, der sich für Josef einsetzt, ein unangenehmes Gefühl, das umso bedrückender wird, je offensichtlich die Parolen der Nazis Eingang finden in die Lebenswelt des Jungen. Die Bücherverbrennung ist ein erster Höhepunkt in der Fanatisierung der Anhänger der Bewegung. Dabei bezieht sich die Autorin vielfach auf originale Quellen, was das Geschehen authentischer wirken lässt. Keimen in Josef erst langsam kleine Zweifel, so gibt es in seinem Dorf doch auch viele beeindruckende Beispiele für Zivilcourage, die sich dem unmenschlichen Regime in vielen kleinen Akten der Humanität entgegenzuwerfen versucht.
Sehr anschaulich, lebendig und gut nachvollziehbar zeigt Angelika Rehse mit ihrem Buch auf, wie so etwas wie der Nationalsozialismus „passieren“ konnte. Es ist ein wichtiges Buch, das nachfolgenden Generationen deutlich macht, wie das Gefühl des Ausgestoßenseins, der Unzulänglichkeit und der Demütigung den Nährboden bereitet für die verführerischen Parolen eines Regimes, das seinen Anhängern auf Kosten anderer, ausgewählter Sündenböcke und Feindbilder das Gefühl von Stärke, Macht, Überlegenheit, Stolz, Zusammengehörigkeit und Volksgemeinschaft vermittelt. Diese Bewegung verstand es auf sublime Art, ihre böse Saat in einen nahrhaften Boden zu legen. Und nur das Wissen darum kann verhindern, dass eine solche Saat zukünftig noch einmal aufgehen kann. Von daher ist der Roman „Josses Tal“ ein wichtiges Buch, weil es dieses Wissen nicht einfach nur zu vermitteln sucht, sondern es anschaulich, erlebbar und nachvollziehbar macht und somit umso beeindruckender ist.
Einzig der Schluss, der für mein Gefühl die Geschichte zu schnell zu einem Ende führt und die Dinge zu unvermittelt auflöst und die Fratze des Bösen zu demonstrativ bloßlegt, lässt Wünsche offen.

Bewertung vom 08.05.2023
Hinter den Wolken wartet die Sonne
Turner, Sarah

Hinter den Wolken wartet die Sonne


ausgezeichnet

Gemeinsam durch schwierige Zeiten
Als Beth mit dem schweren Unfall ihrer Schwester konfrontiert wird, bei dem ihr Schwager stirbt und seit dem ihre Schwester im Koma liegt, verändert sich ihr ganzes Leben mit einem Schlag. Die eher chaotische Beth, die nichts länger durchhält, keinen Job, keine Beziehung, und immer noch in ihrem Mädchenzimmer bei den Eltern wohnt, muss sich auf einmal um ihre 14jährige Nichte Polly und ihren um einiges jüngeren Neffen Ted kümmern. Ihre Eltern, insbesondere ihre Mutter, sehen dies mit Sorge, da Beth über wenige hausfrauliche und mütterliche Qualitäten verfügt. In ihrem langjährigen Jugendfreund Jory wähnt Beth eigentlich einen Verbündeten, doch hat dieser gerade ganz andere Sachen im Kopf, nämlich seine Kollegin Sadie, was Beths Gefühlsleben zudem mächtig durcheinander wirbelt. Vielleicht kann Albert ihr helfen, der seit dem Tod seiner Frau sehr zurückgezogen lebende 80jährige Nachbar ihrer Schwester? Wird Beth die verantwortungsvolle Aufgabe meistern oder wird sie auch diesmal alles hinschmeißen?
Mit einer bewundernswerten Stilsicherheit weiß die Autorin Sarah Turner in ihrem Roman „Hinter den Wolken die Sonne“ die Traurigkeit und die Verzweiflung, die der schreckliche Unfall über Beths Familie bringt, mit warmherzigen Humor zu verbinden. Dem Leser wächst beim Lesen die chaotische, von Selbstzweifeln geplagte Beth ans Herz, die alles daran setzt, das Vertrauen, das ihre Schwester in sie gesetzt hat, als sie sie zum Vormund ihrer Kinder bestimmt hat, zu erfüllen. Auch wenn sie mit ihrer Mutter nicht immer einer Meinung ist, wenn der pubertierende Teenager Polly ihr das Leben schwer macht und der kleine Ted sie mit seinen Fragen nach dem Verbleib seiner Eltern in Erklärungsnot bringt und sie sich mit der Wut und Trauer der beiden Kinder überfordert fühlt, da ja auch sie in Sorge und Trauer um Schwester und Schwager lebt, so zeigt der Roman, wie viel Hoffnung und Trost eine Familie spenden kann. Und dass Fürsorge und Zuwendung nicht unbedingt in gesunden warmen Mahlzeiten, aufgeräumten Häusern und dem Besuch von Elternabenden bestehen, sondern dass das Zuhören, das Dasein, das Verständnis, das gemeinsame Erinnern und das gemeinsame Feiern sowie das gemeinsame Meistern eines Ausnahmezustandes, der alle immer wieder aufs Neue fordert, das ist, was Familie ausmacht und was Menschen auch über Gartenzäune, Fehlkommunikation und Missverständnisse hinweg verbindet. Eine berührende Geschichte, die bei der Schwere der Ereignisse doch leicht und schön zu lesen ist.

Bewertung vom 07.05.2023
Wolf
Stanisic, Sasa

Wolf


ausgezeichnet

"Andersiger" gemacht werden
Der Ich-Erzähler wird von seiner Mutter ins Ferienlager geschickt. Gegen seinen Willen. Mit einem Bus, jeder Menge ungeliebter Mitschüler und vier schrägen Betreuern geht es los in eine Siedlung von Holzhütten mitten im Wald voller ungeliebter Plagegeister wie Mücken und ungeliebter gesellschaftlicher Verpflichtungen, die eine solche Reise so mitbringt: das Zimmer mit jemanden teilen, die Mahlzeiten mit anderen einnehmen, an Gemeinschaftsaktivitäten teilnehmen … Und dabei wäre der Erzähler doch am liebsten allein. Weil er anders ist als die anderen. Und weil er gern anders ist. Er geht gern in die Schule, liest gerne Bücher, macht gerne mit seiner Mutter Salat und ist sich selbst genug. Aber auf der Fahrt muss er sich auseinandersetzen mit anderen aus seiner Gruppe: z. B. Jörg, der auch anders ist als die anderen, den die anderen darunter aber leiden lassen. Insbesondere Marko und die Dreschke-Zwillinge. Und der Erzähler muss sich entscheiden, ob er sich aus allem raushält oder ob er für den anderen, für Jörg eintreten will und für das Recht, anders zu sein. Denn jeder ist schließlich anders und eigentlich hat keiner ein Recht, andere „andersiger“ zu machen. Wenn da nur der Wolf nicht wäre ...
Das Buch „Wolf“ von Saša Sanišić ist ein tolles Buch über das Recht auf Individualität und die Notwendigkeit von Solidarität. Es erzählt eine spannende Geschichte über Außenseiter, die ganz unterschiedlich mit ihrer Rolle umgehen, aber beide bewundernswert stark damit umgehen. Beide wirken sehr gefestigt und reifer als mancher Erwachsene, der in diesem Buch mit pseudo-pädagogischer Gesprächsführung klar zu erkennen gibt, dass er nicht im Ansatz gecheckt hat, was in den Jungs vorgeht und was ihnen blüht. Klug und voller Wortwitz ergibt sich der Erzähler in sein Schicksal im Wald und in der Gruppe sein zu müssen und dort etwas zu finden, was er wohl nie erwartet hätte: einen Freund. Auf lustige, unterhaltsame und spannende Weise und ohne pädagogischen Zeigefinger, dafür aber mit wunderbaren Illustrationen, macht das Buch Mut, anders zu sein, sich aber von anderen nicht „andersiger“ machen und sich dabei von anderen helfen zu lassen oder selbst zu helfen. Klare Leseempfehlung nicht nur für Kindern, sondern auch für Erwachsene, damit sie auch mal was checken!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.04.2023
Morgen und für immer
Meta, Ermal

Morgen und für immer


ausgezeichnet

Einmal bis hinter den Mond und wieder zurück
Das Leben von Kajan Derwishi gleicht einer Odyssee. Als Junge lebt er mit seinem Onkel in den Bergen Albaniens, seine Eltern kämpfen als Partisanen gegen die deutschen Besatzer, als ein deutscher Wehrmachtssoldat auf dem kleinen Hof erscheint. Er ist des Kämpfens müde und versteckt sich dort. Von ihm lernt Kajan das Klavierspielen. Nach Ende des Krieges, seine Mutter ist von der Anführerin einer Partisanengruppe zu einer wichtigen Figur in der kommunistischen Regierungspartei geworden, macht Kajan Karriere als Musiker. Seine große Liebe verschwindet, seine Neffen werden als Regimegegner verfolgt und getötet. In dem Glauben müssen ihre Eltern in ein Umerziehungslager, wo sie Zwangsarbeit verrichten müssen.
Kajan aber reist als Nachwuchstalent und offizieller Vertreter in die DDR, um dort an einem Konzert der besten Musiker kommunistischer Länder teilzunehmen. Durch Zufall gerät er in eine Gruppe, die die DDR durch einen Tunnel verlassen wollen. Von dort treibt das Schicksal ihn nach Amerika. Doch damit sind die Schicksalsschläge noch lange nicht zu Ende. Zudem treibt ihn die stete Frage um, wie es seiner Mutter ergangen ist, als klar war, dass Kajan nicht nach Albanien zurückkehren würde. Schlussendlich macht er sich erneut auf, eine Antwort auf diese Frage zu erhalten.
Kajan selber sagt, dass für jeden Schicksalsschlag das Schicksal auch immer eine Liebkosung für ihn bereit gehalten habe. Immer wieder macht er schicksalhafte Begegnungen, die sein Leben in die ein oder andere Richtung beeinflussen. Ein Getriebener zwischen Glück und Unglück, zwischen Liebe und menschenverachtendem Hass, zwischen himmlischer Musik und roher Gewalt, zwischen Loyalität und Verrat, zwischen Freund und Feind.
In diesem dramatischen und spannend erzählten Roman, der bisweilen wie ein Agententhriller anmutet oder wie ein Abenteuerroman, knüpfen die Fäden immer wieder aneinander an. Für Kajans Leben gilt auf jeden Fall der Spruch: „Man sieht sich im Leben immer zweimal.“ Fast schon märchenhaft mutet es an, wenn Kajan selbst im fernen Amerika Menschen wiederbegegnet, die einst wichtiger Bestandteil seines Lebens waren. Und ganz zum Schluss, nachdem sich die schreckliche Wahrheit enthüllt, wer eigentlich Kajans Leben diese Wendung gegeben hat, versöhnt uns das Schicksal auch wieder. Dieser Roman um den Schrecken und das Grauen der kommunistischen Diktatur in Albanien endet mit einem Hoffnungsschimmer, nicht nur im politischen Sinne, sondern auch im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit für all die Qualen und Schmerzen physischer und psychischer Natur, die unser Held Kajan Derwishi zu erdulden hatte.
In wunderbaren Bildern, die die Übersetzung sehr gelungen wiedegibt, beschreibt der Autor ein Stück wenig bekannter Geschichte eines Landes, das jeden, der nur in den Verdacht geriet, das Regime zu kritisieren oder gar verlassen zu wollen, in schreckliche Umerziehungslager steckte oder gleich in den Gefängnissen und Bergwerken verschwinden ließ. Wie ein Mensch, dem immer wieder alles genommen wird, sein altes Leben, seine Liebe, seine Freiheit, trotz allem nicht den Mut verliert, weil ihm der Trost der Musik bleibt, die, auch wenn er sie nicht spielen kann, doch immer in seinem Kopf sein wird, zeigt dieses Buch auf mitreißende und berührende Art und Weise, die den Leser in seinen Bann zieht, der das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen möchte.

Bewertung vom 06.04.2023
Samuels Buch
Finzi, Samuel

Samuels Buch


ausgezeichnet

In einen Künstlerkreis hineingeboren
Samuel Finzi erzählt in seinem autobiographischen Roman „Samuels Buch“ in locker gefügten Anekdoten von seiner Kindheit und Jugend im sozialistischen Bulgarien, von der Künstler-Familie, von der Schule, den Freunden, vom Urlaub, vom Kino, von der Zeit beim Militär, von der Schauspielschule bis hin zu seiner Übersiedlung nach Berlin, um an einem Schauspielprojekt teilzunehmen und zugleich dem zu eng gewordenen Bulgarien den Rücken zu kehren.
In leichtem Plauderton gewährt der Schauspieler und jetzt auch Autor Finzi aus der Sicht eines neugierigen, aufgeweckten Jungen Einblick in seine Familiengeschichte, bereits der Großvater ist Musiker, die Mutter Pianistin, der Vater Schauspieler, aber auch in die Geschichte Bulgariens, Sattelitenstaat der Sowjetunion, kommunistisch geprägt, von der Stasi überwacht. So manche Freiheiten sind dem jungen Finzi zwar gewährt, kann er doch mit seiner Familie eine Urlaubsreise über Italien nach Paris machen, wohin es Teile der jüdischen Familie verschlagen hat. Auch seine schulische Karriere ist eher die Ausnahme als die Regel: Besuch einer experimentellen weiterführenden Schule, bei dem er engen Kontakt zur Enkelin des Staatschefs gewinnt, dann einer Schule für alte Sprachen, mit der er auf Exkursion in Griechenland ist, um Ausgrabungen zu unterstützten. Darüber hinaus ermöglichen die Kontakte in die Künstlerszene, die Besuche von Konzerten und Theateraufführungen des Vaters, aber auch die Liebe zum Kino Blicke in die weite Welt, die stark kontrastiert mit der Enge des sozialistischen Alltags, die ihren Höhepunkt in seinem Militärdienst erreicht. Kein Wunder, dass es den Erzähler in die Freiheit drängt.
Neben allerlei teils lustigen, teils erstaunlichen Geschichten aus der Familie Finzi mit und ohne t erfährt der Leser auch immer wieder interessante historische Details aus der Geschichte Bulgariens, seiner politischen Entwicklung, des Schicksals der jüdischen Bevölkerung, die ursprünglich von Spanien kommend unter stalinistischem Terror auch wieder in alle Welt verstreut wurden, aber auch aus der Geschichte des Kinos und aus der Mentalitätsgeschichte eines Jugendlichen, der sich nicht von kommunistischer Doktrin den Blick verstellen lässt auf die Vorzüge einer kapitalistischen Welt, angefangen von Adidasschhuhen bis hin zum Erotikkinobesuch auf Klassenfahrt.
Unterhaltsam, amüsant, lehrreich und kurzweilig zu lesen, wenn man das Anekdotische mag, das bewusst auf so etwas wie Vollständigkeit und vertiefte Zusammenhänge verzichtet und in diesem Zusammenhang vielleicht bisweilen doch ein wenig auf Vorkenntnisse setzt.

Bewertung vom 05.04.2023
22 Bahnen
Wahl, Caroline

22 Bahnen


ausgezeichnet

Das Leben zu meistern wissen
Tilda studiert Mathe, arbeitet an der Supermarktkasse und geht schwimmen. Ganz nebenbei kümmert sie sich noch um ihre kleine Schwester Ida. Ihre Mutter ist Alkoholikerin. Väter gibt es keine mehr. Nun hat Tilda die Aussicht auf eine Promotionsstelle. In Berlin. Was soll da aus Ida werden, die gerade erst auf das Gymnasium gekommen ist und eher verträumt und zurückhaltend scheint? Und dann ist da noch Viktor, der eigentlich so gar nicht in Tildas streng getaktetes Leben passt, das schon ein nichtfunktionierender Kopierer in der Uni aus dem Lot bringen kann
Tilda ist die beeindruckende Hauptfigur und Erzählerin in Carolina Wahls Debütroman „22 Bahnen“. Noch so jung, aber schon so erwachsen, so zielstrebig, so klug, so verantwortungsbewusst, so warmherzig und so empathisch im Umgang mit ihrer kleinen Schwester. Was sie sich ausdenkt, um diese für das Leben mit ihrer Mutter zu rüste, wenn Tilda in Berlin sein sollte, ist einfach umwerfend. Und trotzdem ist Tilda eben auch jung, auf der Suche, will leben und feiern. Sie wirkt nicht wie eine Kunstfigur, sondern wie eine Person aus Fleisch und viel Herzblut, die man gern zur Freundin oder eben zur großen Schwester hätte. Aber auch Ida ist ein toller Charakter, den die Autorin da geschaffen hat: eigenwillig, kreativ, originell, sehr sensibel, aber viel stärker als sie und Tilda selbst es für möglich gehalten haben. Beide richten sich - trotz der schweren Umstände – die aggressive, ichbezogene, von Depressionen geplagte Mutter, die am Leben verzweifelt und ihre Töchter im besten Falle gar nicht wahrzunehmen scheint – in ihrem Leben ein, sie führen ein gutes Leben als Schwesternfamilie und reifen zu tollen Menschen heran. Es gibt kein Leiden und Klagen, kein Selbstmitleid, sondern der Roman vermittelt einen solchen bodenständigen Optimismus und ein Gewissheit um das gelingende Leben, wie ihn Ida selbst in Worte fassen kann, wenn sie zu ihrer Mutter sagt: „Wir wissen, dass du es ohne Hilfe nicht schaffst, und wir wissen, dass wir es ohne dich und auch mit dir schaffen.“ Wer braucht da noch Lebenshilfe- oder Glücksratgeber, wenn er dieses schmale Bändchen lesen kann.
Der Stil wechselt von schlicht, rau und sehr neuhochdeutsch, sodass der ältere Leser bisweilen mein, ein Wörterbuch zu brauchen, hin zu magisch-poetisch, wenn Tilda Stimmungen in der Natur spiegelt und die wunderschönen Zeichnungen ihrer kleinen Schwester beschreibt, die die Wirklichkeit in Märchen spiegelt, ein Spiel, das die beiden bis zur Perfektion beherrschen.
Ein ruhiges Buch, ein tief rührendes Buch, ein Herzensbuch!

Bewertung vom 31.03.2023
Der Geheimnishüter von Jaipur / Jaipur Bd.2
Joshi, Alka

Der Geheimnishüter von Jaipur / Jaipur Bd.2


ausgezeichnet

Zwei gänzlich verschiedene Welten und eine beeindruckende Frau, die sich in beiden zu behaupten weiß
In der Fortsetzung des Romans „Die Hennakünstlerin“ von Alka Joshi schickt Lakshmi ihren einstigen Schützling Malik zurück nach Jaipur, um Einblick zu nehmen in die höchsten Gesellschaftsschichten Indiens und an dem Bauprojekt des königlichen Palastes mitzuwirken, ein Kino in gigantischem Ausmaß zu bauen. Doch am Tag der Eröffnung kommt es zu einem folgenschweren Unglück, und Lakshmi muss alles daransetzen, ihre engsten Vertrauten in Jaipur vor dem Schlimmsten zu bewahren. Dabei überschlagen sich doch auch die Ereignisse in Schimla, Lakshmis neuer Heimat, um die junge Nomadin Nimmi, die Maliks Herz erobert hat.
Spannend wie ein Krimi geht es um illegale Machenschaften im Bauwesen und Goldhandel. Dabei taucht der Leser ein in die faszinierende Welt Indiens Ende der 60er Jahre, in denen das ursprüngliche Leben der Nomaden des Himalaya auf das anglo-amerikanisch geprägte Leben in Indiens großen Städten trifft. Ein sehr reizvoller und verblüffender Kontrast, den man nur sehr schwer zeitgleich zusammen vorstellen kann. Sinnlich, farbenprächtig und voller Kulinarik beschreibt die Autorin das Indien dieser Zeit. Ihr Stil ist klar und packend und strahlt zugleich eine solche Ruhe aus, wie er auch von ihrer Heldin Lakshmi ausgeht. Zum einen mag man das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen, weil man von Satz zu Satz und von der Spannung immer weiter gezogen wird. Zum anderen wird der Leser dabei dem eigenen hektischen Alltag so entrissen, dass er zur Ruhe kommt und sich von der Schönheit des Himalaya und der Naturverbundenheit der Nomadenfamilien ganz gefangen nehmen lässt. Die Fokussiertheit, Klarheit, Souveränität und Umsicht, mit der Lakshmi handelt und ihre Lieben zu schützen weiß, erfüllt den Leser nicht nur mit Bewunderung für die Figur, sondern lässt ihn das selbst nachempfinden, was sie schon als Hennakünstlerin im ersten Band zu bewirken vermochte: Menschen heil zu machen. Eine stark beeindruckende und berührende Leseerfahrung!

Bewertung vom 26.03.2023
Florentia - Im Glanz der Medici
Martin, Noah

Florentia - Im Glanz der Medici


ausgezeichnet

Der Preis der Macht
… ist nicht immer mit Geld zu bezahlen. Lorenzo Medici tritt das schwere Erbe seines Vaters an, das Wohl der Familie Medici und das der Florentiner gegen alle Feinde und ihre Intrigen zu wahren. Dafür zahlt nicht nur er einen hohen Preis: ein Leben im ständigen Kampf gegen die, die ihm seinen Platz neiden. Wie die Familie Pazzi, die vor nichts zurückschreckt, den Untergang der Medicis heraufzubeschwören. Dafür muss nicht nur eher auf Freiheit, Selbstverwirklichung und Liebe verzichten, sondern auch sein jüngerer Bruder, der ewig zweite. Seine Beziehung zu der jungen Fioretta, die so gerne Malerin in einer der Bodegas würde, wie sie Sandro Botticelli und der junge Leornardo da Vinci besuchen, hat da kaum eine Chance. Alle zahlen einen Preis in dem gefährlichen Ränkespiel der einflussreichsten Familien in Florenz, Rom, Mailand und Pisa um Macht, Einfluss und natürlich den schnöden Mammon.
Noah Martin verwebt in ihrem prachtvollen, illustren Roman „Florentina im Glanz der Medici“ das Geschick der Politik mit dem der schönen Künste. Sie entwirft ein farbenprächtiges Bild des Lebens in Florenz, das der reichen Familien, aber auch das der Handwerker und Künstler, wie Botticelli und Leornardo da Vinci, die der Stadt zu ihrer Pracht und Größe verholfen haben bis heute. Spannend schildert sie das Geflecht der Beziehungen, von Liebe, Freundschaft, Hass und Verrat, ohne dass der Leser sich darin verliert, da sie die Haupthandlungsstränge um zentrale Figuren konzentriert: die Gebrüder Medici, Fioretta und die Künstler da Vinci und Botticelli. Damit macht sie ein Stück spannender Geschichte lebendig und nacherlebbar und verleiht den historisch stilisierten Köpfen so viel Blut und Leben, dass der Leser erst im Nachwort der Autorin sicher sein kann, dass das, was sie schildert, auch sehr viel historische Wahrheit erhält. Ein starkes Porträt einer Zeit und einer einflussreichen Familie, das einen Vergleich mit einem der Gemälde aus dem florentiner Kreis nicht scheuen muss! Ein großes Lesevergnügen mit fulminantem Schluss!