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Adelebooks
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Bremen

Bewertungen

Insgesamt 152 Bewertungen
Bewertung vom 20.09.2023
Dich zu verlieren oder mich
Qaderi, Homeira

Dich zu verlieren oder mich


ausgezeichnet

Der Brief einer mutigen Rebellin, Frauenrechtlerin und Mutter an ihren Sohn und die Welt

In was für einer Welt leben wir, in der 16-Jährige mal eben, wie eine Sklavin oder ein Stück Vieh an einen Kommandanten verheiratet und Frauen gegen Kampfhunde eingetauscht werden? Und das alles im Jahr 1996, nicht im Mittelalter? Und auch jetzt und heute, im Jahr 2023 während ich diese Rezension schreibe, können abermals afghanische Mädchen nicht zur Schule gehen, wachsen in einem repressiven, frauenverachtenden System auf, und ein ganzes Land versinkt abermals in Terror und Repression mit allen Folgen, die dies für die Bewohnerinnen und Bewohner hat. Was dies für die und den Einzelne*n bedeutet, davon haben wir dank der mutigen autobiographischen Zeilen von Homeira Qaderi nun ein weiteres konkretes, furchtbares Bild vor Augen.

„Dich zu verlieren oder mich“ ist als Brief an Homeira Quaderis Sohn verfasst. Die einzelnen Kapitel im Erzählstil, in denen Homeira Qaderi ihren Lebens- und viel zu oft Leidensweg als Mädchen und Frau in einem repressiven, patriarchalischen System beschreibt, enden jeweils mit sehr persönlichen Worten in denen sie ihren Sohn Siawash direkt adressiert. Diese Passagen sind sehr emotional und lassen uns an Qaderis tiefsten Empfindungen teilhaben. Der Autorin gelingt es in Worte zu fassen, was eigentlich kaum zu beschreiben ist, die innere Zerrissenheit zwischen ihrer Mutterrolle und tiefen Liebe zu ihrem Sohn und dem Bewahren ihrer Identität als Mensch und als Frau in einem repressiven frauenverachtenden System. Es ist dieser große Schmerz einer Mutter und Frau, der aus jeder Zeile an ihren Sohn spricht und fühlbar wird.

Erschreckend ist mit welcher fast Normalisierung die kindliche Homeira Krieg und Gräuel wahrnimmt, einfach weil sie nicht viel anderes kennt und es zu ihrem Aufwachsen dazu gehört. Umso beeindruckender ist wie bereits die junge Homeira bestehende Normen in Frage stellt, ihr Gerechtigkeitsgefühl schon als kleines Mädchen und ihr unglaublicher Mut für ihre Überzeugung einzustehen, für sich, später für ihren Sohn, jedoch letztlich nicht weniger als für alle Mädchen und Frauen, die auch im Hier und Jetzt noch immer unterdrückt werden, zu kämpfen.

Ich mag die junge Homeira sehr, mit all ihren Flausen im Kopf, ihren emanzipierten Gedanken bereits in jungen Jahren, und ihrem klugen Hinterfragen der bestehenden Ordnung. Gleichzeitig wäre auch ohne das vorweg genommene Exil, aus dem sie die Zeilen schreibt, zu erwarten, dass sie mit ihrem Mut, ihrer Klugheit und mit ihrem Charakter in dieser Gesellschaft gegen Wände laufen wird. Es ist ein Kampf, der allein nicht zu gewinnen ist, eine Frau gegen ein Heer von Männern in einem patriarchalischen, repressiven System, das auch alle Regeln und Gesetze setzt. Die Unterdrückung manifestiert sich dabei in viel mehr als aktuellen Gesetzen, denn auch das zeigt Quaderi auf: eine Kultur internalisierter Misogynie über Generationen, in denen bereits kleinsten Mädchen gelehrt wird, dass sie in diesem System nichts zu erwarten haben und sich besser diesem beugen, wenn sie nicht sich und ihre Familie in große Schwierigkeiten bringen wollen. Selbst an sich progressiven Angehörigen bleibt angesichts der übermächtigen Trias von Gesetz, Kultur und Tradition letztlich nur ein Gefühl der Ohnmacht.

Qaderis Zeilen machen sehr deutlich, dass echte Fortschritte in der Gleichberechtigung, die Abschaffung von Misogynie nur gemeinsam erreicht werden können, wenn Frauen untereinander (und auch Männer) sich verbünden und gemeinsam gegen Repression und für eine gleichberechtigte Gesellschaft kämpfen.

„Dich zu verlieren oder mich“ ist ein Buch über eine Kindheit und ein Aufwachsen mitten im Krieg, Frausein, Muttersein und den couragierten Kampf für Gleichberechtigung und gegen Unterdrückung einer in jeder Hinsicht beeindruckenden Frau. Für die erwachsene Homeira bleibt mir tiefste Bewunderung und ein großer Dank für dieses wichtige Buch!

Bewertung vom 14.09.2023
Als wir an Wunder glaubten
Bürster, Helga

Als wir an Wunder glaubten


ausgezeichnet

Heute Weltuntergang, morgen Tanztee: zwei Frauen, der Krieg, die Hoffnung und das Moor

Das Moor, eine mystische Landschaft, nicht Wasser, nicht fester Boden, ein Dazwischen, ein Niemandsland, eine Kulisse wie geschaffen für das geschichtliche Dazwischen, der Krieg vorbei, die Entbehrungen und Zerstörungen der Infrastruktur, Gebäude und nicht zuletzt in den Seelen der Menschen jedoch so groß, dass auch der Frieden zunächst mit kaum weniger Entbehrungen verbunden ist.

Hier ist Helga Bürsters Roman angesiedelt, mitten in einer ostfriesischen Moorlandschaft zwischen Oldenburg und Leer. Im Mittelpunkt zwei Frauen, Anni und Edith, beide warten noch vier Jahre nach Kriegsende auf ihre Männer. Den Krieg ebenso wie die Zeit danach haben sie nicht zuletzt überlebt, weil sie zusammengehalten, sich unterstützt haben. Als Josef, Annis Mann, schwer verwundet aus dem Krieg zurückkehrt, könnte dies ein Segen sein. Doch was Josef aus dem Krieg mitbringt, trifft auf Verdrängen, alte Weisheiten, Aberglaube und neue Scharlatane im Moordorf. Eine verheerende Mischung, wie man als Leserin schnell zu ahnen beginnt.

Es ist eine Hilflosigkeit in der Dorfgemeinschaft, die zuweilen aus den Zeilen spricht, Orientierungslosigkeit, das Bedürfnis nach Sinn, nach all dem Leid, an einigen Stellen jedoch auch das Bedürfnis nach Aufbruch in eine neue Zeit. Es verwundert daher kaum, dass es auch die Zeit der Wunderheiler ist, die den Menschen vermeintlich Sinn geben in einer oft sinnlos anmutenden, harten und unsicheren Zeit. Der Preis dafür ist hoch. Für den Einzelnen, der sein letztes Hemd gibt, für Heilung, Befreiung von Schuld und für den Zusammenhalt in der Gemeinschaft.

Der Boden des Moores wird so im doppelten Sinne zur Keimzelle der Mystik, als landschaftliche Kulisse sowie Abgeschiedenheit und Armut der Bewohnerinnen, die als Nährboden für Aberglaube dienen.

Sehr authentisch und bedrückend fängt Helga Bürster die Kriegsgräuel und auch das Mitwissen und die individuelle Schuld in diesem Krieg ein. Da gibt es Erinnerungen an die Erfahrungen an der Front, aber auch an ein Lager für Zwangsarbeiter im Moor, alle wussten es, haben es beobachtet, doch nun will keiner davon wissen, sich erinnern. Fast nebenbei flicht die Autorin furchtbare Details ein und macht diese damit nur noch eindringlicher.

Bei allen Entbehrungen und Leid, enthält der Roman einige wirklich komische Anekdoten und Aussagen mit denen die Autorin auch die Skurrilitäten der Region, Charaktere und Zeit einbindet, wie beispielsweise das Ausfallen des Weltuntergangs, stattdessen Tanztee, Gustes Weisheiten als alte Moorfrau oder Bettys flottes Mundwerk. Auch die immer wieder eingeschobenen, kurzen Aussagen und Weisheiten auf Platt, lassen tief in die Geschichte eintauchen, als befinde man sich mitten in Unnenmoor.

Die Figuren sind durchweg sehr liebevoll und authentisch ausgearbeitet. Ich habe bis zum Ende mit diesen vielen starken Frauen im Roman mitgefühlt, nicht zuletzt mit Betty (Ediths Tochter), deren Geschichte die Handlung abrundet und der weisen alten Guste.

„Als wir an Wunder glaubten“ ist ein Buch über Nachkriegsdeutschland, die Macht und Verführbarkeit von Mythen, Zauber und nicht zuletzt Verschwörungstheorien, die Mystik der Moorlandschaft und besonders auch über starke Frauen. All diese Aspekte verknüpft Helga Bürster in einer atmosphärischen und mitfühlenden Sprache zu einem wundervollen Leseerlebnis mit Relevanz bis in die Gegenwart.

Bewertung vom 12.09.2023
Das dritte Licht
Keegan, Claire

Das dritte Licht


ausgezeichnet

Hat ein Kind das Recht darauf mit Liebe aufzuwachsen? Eine wundervoll atmosphärische Erzählung, unglaublich schön und berührend zugleich

Hat ein Kind das Recht darauf mit Liebe aufzuwachsen? Und was ist, wenn es diese in seiner Ursprungsfamilie nicht erhalten kann? Diese Fragen stellt man sich zwangsläufig bei der Lektüre der wundervollen, nur knapp 100 Seiten umfassenden, Erzählung „Das dritte Licht“.

In der dritten Person wird aus der Perspektive eines nicht näher benannten Mädchens kurz vor der Einschulung beschrieben, wie sie die Zeit erlebt, die sie bei kinderlosen Verwandten verbringt. Vor dem Hintergrund der erneuten Schwangerschaft ihrer Mutter und den daraus resultierenden finanziellen Sorgen wurde sie von ihrem Vater bei dem verwandten Paar temporär in Obhut gegeben. In ihren Beschreibungen und Reflexionen denkt das Mädchen auch immer wieder an ihre Ursprungsfamilie, nicht zuletzt wegen des großen Kontrasts im Familienleben bei dem verwandten Paar (die Kinsellas) und in ihrem eigentlichen Zuhause.

Dieser Kontrast wird von Claire Keegan in einer wundervollen Sprache eingefangen. Mit wenigen Worten erzeugt die Autorin eine unglaublich dichte Atmosphäre, sagt genauso viel mit dem was sie schreibt, wie mit dem was ausgelassen wird. Die Landschaft im ländlichen Irland, das Leben und Arbeiten auf der Farm, das unausgesprochene Geheimnis aus der Vergangenheit, und nicht zuletzt die Liebe und Fürsorge verschmelzen sprachlich zu einem Kunstwerk für sich. Das Ergebnis ist wunderschön, traurig und rührend zugleich.

Eine Erzählung die literarisch, aber auch unter sozial(kritischen) Aspekten vollkommen überzeugt und man einfach gelesen haben muss!

Bewertung vom 11.09.2023
Die Farbe der Sprachlosigkeit
Antelmann, Corinna

Die Farbe der Sprachlosigkeit


gut

Ein eindrucksvoller Roman, der Angsterkrankungen ein Gesicht gibt

Als Dana eine auffällige Stelle an ihrem Hals entdeckt, beginnt für sie ein Teufelskreis aus dem sie verzweifelt einen Ausweg sucht. Dana, erfolglose Drehbuchautorin, in einer unglücklichen Beziehung mit Architekt Jan, findet keine Worte für das was mit ihr nach der Abklärung beim Arzt passiert, obwohl dieser beschwichtigend zur Gelassenheit und weiterer Diagnostik rät. Sprachlosigkeit und Angst übermannen Dana, doch geht es wirklich um den Fleck oder ist ihr Leben schon zuvor aus den Fugen geraten, hat Dana den Anschluss an sich selbst, zu ihrem eigenen Glück verloren?

Das Thema Angsterkrankungen finde ich sehr wichtig und auch im Roman grundsätzlich gut umgesetzt. Ob es dazu jedoch die Verdachtsdiagnose einer derart schweren Erkrankung brauchte, die für sich mit ganz eigenen Ängsten unabhängig von Angsterkrankungen, einhergeht, würde ich offen lassen. Hier fehlt mir die Differenzierung zwischen berechtigten Ängsten als nachvollziehbare Reaktion auf eine schwere Erkrankung auf der einen und vollkommen irrealen Ängsten mit unangemessener und nicht zuletzt ungesunder Reaktion im Rahmen einer Angsterkrankung auf der anderen Seite.

Nach meinem Geschmack hätte zudem der Schwerpunkt mehr auf dem tatsächlich Stellen der Ängste liegen können. Letztlich sind es nur wenige Seiten und Zeilen, die der eigentlichen Konfrontation und gesunden Strategie zum Umgang damit gewidmet sind. Wobei letzteres nur im Ansatz thematisiert wird.

Sprachlich schafft die Autorin immer wieder sehr schöne und ausdrucksstarke Bilder, wie selbst bereits der Titel mit der Farbe der Sprachlosigkeit. Dies hat mir gut gefallen.

Die Ausgabe ist sehr schön und liebevoll gebunden, mit Lesebändchen.

Insgesamt ein thematisch sehr wichtiges Buch, mit teilweise schönen sprachlichen Bildern, dass mich in der Konstruktion und dem Aufbau der Geschichte jedoch nicht ganz überzeugen konnte.

Bewertung vom 09.09.2023
Sylter Welle
Leßmann, Max Richard

Sylter Welle


sehr gut

Familie - oder: die Menschen, die man liebt, auch wenn man nicht dieselbe Meinung teilt

Wer kennt das nicht? Familientreffen, unterschiedliche Generationen und Ansichten, alles Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Interessen, Sozialisation, Charakteren,Talenten und doch verbindet sie der Stammbaum und im Idealfall ein gemeinsames Aufwachsen in irgendeiner Form.

In diesem Setting ist der Debütroman von Max Richard Leßmann angesiedelt, mit viel Urlaubsgefühl on top an drei Tagen des letzten Sylturlaubes mit seinen Großeltern. Die Beziehungen zu diesen steht im Mittelpunkt des Romans, der aus der Perspektive von Enkel Max erzählt wird. Die Großeltern, Lore und Ludwig, beides Kinder ihrer Zeit im Krieg- und Nachkriegsdeutschland aufgewachsen, mit diversen Prägungen, die dies für das weitere Leben bedeutet, Sparsamkeit, ein Fokus auf ordentliches Essen und Sattwerden, wenig Gefühle zeigen, bei Ludwig ein Zwang zur Dokumentation. Sehr schön herausgearbeitet wird, wie besonders das Band der Oma/Opa-Enkel-Beziehung ist, bei allen Differenzen in Ansichten, zuweilen vielleicht auch Verletzungen, die Großeltern, sie waren immer da, eine Konstante in guten, wie in schlechten Zeiten, mit wundervollen Kindheitserinnerungen, jede ärgerliche Eigenheit, mit der Zeit akzeptiert und in ihrer Kontinuität als Marotte fast lieb gewonnen.

Doch was ist, wenn diese Konstante zu verschwinden droht, weil das Unvorstellbare sich abzeichnet, die Endlichkeit, der scheinbar alterslosen Großeltern? Auch darüber sinniert Max an den drei Tagen, sodass der Roman gleichzeitig einen Rückblick in anekdotischen Erinnerungen, Reflexion, eine Form von Abschied, dem inhärent aber auch immer Neubeginn innewohnt, darstellt.

Es gibt viele Anekdoten über das Familienleben, jedoch auch Max selbst, die oft gut erzählt sind und zum Schmunzeln einladen. Zuweilen zeigen sich jedoch Längen in diesem Anekdotischen, und es scheint der Fokus aus dem Sinn zu rücken.

Ein Buch, dass mich an einigen Stellen sehr berührt hat und zum Nachdenken über die eigene, besondere Beziehung zu den Großeltern einlädt.

Bewertung vom 03.09.2023
Der Bozen-Krimi: Familienehre
Dark, Simone

Der Bozen-Krimi: Familienehre


sehr gut

Tradition, Queerness, Liebe und Mord - und das alles im traumhaften Bozen

Die Zutaten in Familienehre sind vielversprechend - und Simone Dark macht einen wunderbaren Krimi für spannende (Handlung) und entspannende (Kulisse) Stunden zugleich daraus. Bereits die ersten Seiten lassen in die stimmungsvolle Bozner Altstadt mit ihren Laubengängen an einem lauen Herbstabend eintauchen. Eine queere Sängerin, ein Streit mit einem Mann, am nächsten Morgen ist ein anderer Mann, DER Eishockeystar der Region tot. Im Verlauf tauchen viele Verdächtige auf und werden nach strengem Verhör von Sonja Schwarz entlassen. Die Idylle der Bergwelt trügt, ein Motiv scheint es an so vielen Stellen im Umfeld des Toten zu geben. Es macht Spaß Sonja Schwarz und ihrem Team bei den Ermittlungen zu folgen.

Die Parallelgeschichte mit Ziehtochter Laura und dem Weingut ist wunderbar in die Haupthandlung eingewebt und lässt in schöne Landschaftsausblicke ebenso wie die eigene Familiengeschichte von Sonja Schwarz eintauchen.

Einige Passagen hätten allerdings gern etwas ausführlicher ausfallen können, sowohl in der Handlung als auch in der Charakterisierung der Protagonistinnen und Protagonisten. Hier fehlten mir manchmal ein paar Informationen, zum Beispiel ist der Schmerz und Verlust von Sonja Schwarz recht kurz abgetan.

Sehr informativ fand ich die Danksagung am Ende, in der die Autorin kurz auf die Originalschauplätze eingeht, die sie inspiriert haben.

Insgesamt ein gelungener Krimi in traumhafter Kulisse!

Bewertung vom 30.08.2023
Eigentum
Haas, Wolf

Eigentum


ausgezeichnet

Ein Rückblick auf 95 Jahre bewegtes Leben in Österreich - Humorvoll, manchmal fast bissig, klug, und berührend zugleich!

Wolf Haas ist mit Eigentum ein kleines Kunstwerk gelungen. Die Sätze und Gedanken sind schneidend, schnell, galoppieren nahezu angesichts des nahenden Ablebens der 95 Jährigen und doch erzeugt das Geschriebene gleichzeitig so viel Wärme und Empathie für den Lebensweg seiner Mutter, den Wolf Haas, mal bissig, mal melancholisch, mal genervt, jedoch immer liebevoll und mit viel Humor beschreibt.

1923 geboren hat die Mutter Inflation erlebt, die Kriegsjahre in den Arbeitsdienst 1000km verschickt von Österreich nach Norddeutschland, die Nachkriegsjahre als Serviererin in der Schweiz, und später ein Leben immer am Existenzminimum im ländlichen Österreich. Dieses Leben, es hat sie hart gemacht, eigenbrödlerisch, unnachgiebig und seltsam. Wolf Haas beweist sich als Chronist mit Sinn für die Entbehrungen, zuweilen sehr lustigen Kuriositäten, und auch Leistungen der Mutter in diesem ereignisreichen Leben, dessen Ende er nun begleitet.

Ein wundervolles Buch zum Erinnern!

Bewertung vom 25.08.2023
Der Glanz der Zukunft. Loulou de la Falaise und Yves Saint Laurent
Marly, Michelle

Der Glanz der Zukunft. Loulou de la Falaise und Yves Saint Laurent


ausgezeichnet

Ein stimmungsvoller Einblick in eine magische Zeit voll von Mode, Kunst und Musik zwischen Swinging London und Paris

Yves Saint Laurent, Karl Lagerfeld, das britische Königshaus, Mick Jagger, Andy Warhol… die Liste könnte noch weitergehen, denn es gibt kaum einen Namen der High Society zwischen Manhattan, London und Paris der 60er und 70er Jahre, der in Glanz der Zukunft nicht vorkommt. Im Mittelpunkt Loulou de la Falaise und ihre ganz besondere Beziehung zu Yves Saint Laurent.

Das Buch ist ein Roman und keine Biografie. Dennoch orientierte sich die Autorin an wahren Begebenheiten und Aussagen. Glaubt man dem Roman waren die 60er und 70er ein einziger progressiver Aufbruch zwischen Manhattan, London, Marrakesch, Paris, Rom und LA, in dem jeder jeden kannte, sei es aus Kunst, Mode, Ballett, dem Adel oder der Musik.

Michelle Marly lässt uns eintauchen in die Entstehung von Modekollektionen und ihre Inspiration, in den britischen Adel und seine Normen, in eine Welt aus tausend und eine Nacht in Marokko als Erholungs- und Aussteigeradresse der damaligen Zeit, und nicht zuletzt ins Swinging London immer in Konkurrenz zum lebendigen Paris dieser Epoche. Die Beschreibungen wie Loulou über Flohmärkte streift und ihren Stil findet und verfeinert sind unglaublich lebendig und inspirierend, ebenso wie Yves Saint Laurents Entwürfe und Modenschauen.

Die besondere Beziehung zwischen Loulou und Yves, ebenso wie ihr Entstehen wird sehr feinfühlig und liebevoll nachgezeichnet. Loulou erscheint zunächst als ein zurückhaltendes, junges Mädchen, unsicher was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Im Laufe der Geschichte macht sie eine beeindruckende Entwicklung durch, hin zu einer selbstbewussten, erfolgreichen Frau und Designerin, die ganz sicher viel mehr war als eine Muse.

Ein kurzweiliges, gut geschriebenes Buch mit interessanten Details und Einblicken, nicht nur für Modebegeisterte.

Bewertung vom 23.08.2023
Der berühmte Tiefpunkt
De Gryse, Amarylis

Der berühmte Tiefpunkt


ausgezeichnet

Wie kann etwas ein Zuhause sein, wo nicht richtig gekocht wird?

Dies fragt sich Marieke, als sie die vakuumverpackten Beutel mit undefinierbarem und ungenießbarem Mittagessen im Pflegeheim betrachtet, in dem sie arbeitet. Doch nicht nur dort, auch mit ihrem Freund Blok und in ihrer Familie wurde ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht (mehr) gekocht. Das Zuhause(Gefühl), es fehlt nicht nur im Pflegeheim, auch in Mariekes Privatleben.

Marieke identifiziert sich mit den Seniorinnen, träumt vom Vergessen, Nichts tun, das Leben, Erinnerungen sammeln, möchte sie hinter sich haben, denn offensichtlich spürt sie schon lange, dass die Richtung in die ihr Leben sich entwickelt hat, sie nicht glücklich macht, sie womöglich sogar zerstört. Ihre Partnerschaft, ihre Beziehung zu Mutter, Schwestern und Vater, die katastrophalen Zustände im Pflegeheim, auf all diesen Ebenen hat sie immer nachgegeben, sich angepasst, und sich dabei allmählich selbst verloren oder nie die Chance gehabt sich selbst zu entdecken. Wie es zu dem berühmten Tiefpunkt gekommen ist und wie Marieke sich daraus herauszuarbeiten versucht, beschreibt Amarylis de Gryse in kurzen Kapiteln im Wechsel von Gegenwart, Rückblicken und Träumen. Ihre Sprache ist dabei unglaublich sensibel, nie zu viel oder zu wenig, manchmal traurig, manchmal traurigkomisch, und manchmal entlockt sie ein Lächeln.

Die Beschreibung von Gerichten und ihrer Zubereitung lassen eintauchen in Genuss- und immer parallel auch Gefühlswelten, Lebenswelten und Gemütszustände. Nahrung, Kochen ist Leben in diesem Buch und spiegelt ganz selbstverständlich Glück und Zufriedenheit ebenso wie Traurigkeit und Verlust wider.

Die Einbettung von Pflegealltag und Thematisierung von Rationalisierung der Pflege und Pflegenotstand und seinen Konsequenzen für Personal und Senior*innen finde ich sehr gelungen, und ich kenne bisher keinen Roman, der sich diesem, in unserer Gesellschaft allgegenwärtigen Thema, annimmt. Alleine dieser Aspekt, wäre für sich schon ein Grund das Buch zu lesen. Und es gibt noch so viele Gründe mehr!

Für mich ist dies die schwerste Rezension, die ich bisher geschrieben habe. Weil das Buch so besonders ist, so viele Aspekte und Themen, so klug umsetzt, und man es einfach selbst gelesen haben muss! Ein wunderbares, besonderes Buch!

Bewertung vom 19.08.2023
Die Davenports - Liebe und andere Vorfälle
Marquis, Krystal

Die Davenports - Liebe und andere Vorfälle


sehr gut

Vier junge Frauen, vier Geschichten, jede für sich eine Geschichte vom Erwachsenwerden, Emanzipation, der Rolle als Frau und natürlich der Liebe. Das ist Die Davenports! Und gleichzeitig ist der Roman, der als Jugendliteratur firmiert, so viel mehr. Eingebettet hat Krystal Marquis das unterhaltsame Liebesreigen in einen historisch bedeutenden Kontext. Chicago 1910, hier versammeln sich erfolgreiche schwarze Unternehmer*innen und haben sich vermeintlich von ihrer Geschichte als Sklaven emanzipiert. Doch der Schein trügt, wie bereits sehr früh im Buch deutlich wird, denn trotz allen Geldes und Erfolgs, begegnen auch die Davenports immer wieder Rassismus. Der lang geführte Kampf gegen die Unterdrückung und für das Ende der Sklaverei droht politisch in neuer Form mit den Jim Crow Gesetzen wieder aufzuflammen, statt weiterem Fortschritt der Gleichstellung droht die Regression.

Jim Crow Gesetze neben perlenbestickten Kleidersäumen. Das ist mutig, und es geht auf! Olivia, Helen, Amy-Rose und Ruby - vier ambitionierte, selbstbewusste Frauen, alle unterschiedlich in ihrer Herkunft, ihren Vorlieben, Talenten und Charakter, und auch ihren Sorgen. Was sie eint ist, dass sie mehr vom Leben wollen, als ihre Eltern, ihre Herkunft/Stand und die Gesellschaft für sie als Frau im Jahr 1910 (als Frauen noch nicht einmal das Wahlrecht hatten) vorgesehen haben.

Die Geschichte ist in 47 kürzere Kapitel unterteilt, die jeweils einer der vier Protagonistinnen gewidmet sind und uns in ihre Gedankenwelt und Erfahrungen mitnehmen. Wie ein Mosaik setzt sich so die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven zu einem großen Ganzen zusammen. Marquis zeichnet die Charaktere sehr liebevoll und mit großer Sympathie, sodass man kaum umhin kommt, in jeder der vier jungen Frauen ein Stück von sich selbst zu finden, sei es Helens Pragmatismus, Olivias Pflichtbewusstsein und wachsendes politisches Interesse, Amy-Roses Geschäftsbewusstsein und Kampfgeist für ein besseres Leben oder Rubys Warmherzigkeit.

Ja, es ist durchaus nicht völlig überraschend, wie sich das Liebesreigen entwickeln wird, doch das macht das Buch nicht schlechter, denn es ist gerade der Weg dorthin, der unterhaltsam ist und für jede der jungen Frauen viel mehr als die jeweilige Liebesgeschichte darstellt - Amy-Roses Traum vom eigenen Salon, Helens Passion für Mechanik und Autos, Olivias politisches Bewusstsein und Engagement.

An einigen Stellen ist mir jedoch das Schmachten der Protagonistinnen zu viel und passt auch nicht zu ihrer sonst so selbstbewussten, emanzipierten Haltung. Dass nun jeder offene Hemdknopf und Blick auf die Muskeln eines Mannes, eine Frau dazu bringen soll, alles um sie herum zu vergessen, ist mir persönlich manchmal zu kitschig.

Der Schreibstil hat noch etwas Luft nach oben und wirkt an einzelnen Stellen etwas gestelzt, was jedoch auch der Übersetzung geschuldet sein kann. Ich hatte ein paar Stellen an denen ich dachte, das würde ich gern im Original lesen, um zu sehen, wie es dort ausgedrückt ist und vielleicht mache ich dies auch noch.

Sehr gut und informativ finde ich die separate historische Einordnung der Autorin im Anhang des Buches.

Der türkise Einband mit dem gelben Cover sieht sehr wertig aus und macht das Buch auch zu einem schönen Geschenk.

Wer Downton Abbey und Bridgerton mag, wird auch an diesem Buch große Freude haben und auf eine Fortsetzung hoffen. Ein gutes Buch zum Mitfühlen mit kleinen Schwächen, dass im leichten, eingängigen Stil und klug gewählten Setting, wichtige Themen vermittelt und erlebbar macht.