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Benutzername: 
MarcoL
Wohnort: 
Füssen

Bewertungen

Insgesamt 203 Bewertungen
Bewertung vom 22.12.2022
Die Eroberung Amerikas
Franzobel

Die Eroberung Amerikas


sehr gut

Ein spannender historischer Roman um das Erbe der indigenen Völker Amerikas.
Sehr fundiert recherchiert, allerdings etwas zu überladen.


Trutz Finkelstein ist Anwalt. Er möchte den indigenen Völkern der USA ihr geraubtes Territorium, sprich die kompletten Vereinigten Staaten, zurückgeben. Er schafft es, alle Häuptlinge der Stämme zu einer Sammelklage zu bewegen.
Den Hintergrund zu dieser fiktiven Annahme erzählt Franzobel in einem packenden, historischen Roman. Er rekonstruiert den Eroberungsfeldzug von Fernando Desoto in den Jahren 1538 - 1542, auf der Suche nach dem sagenhaften Eldorado durch den Süden der USA. Er hinterlässt eine Spur der Zerstörung, von Florida ausgehend bis nach Texas. Die Indigenen werden, sofern sich nicht kooperierten und sich sofort der heiligen katholischen Kirche und dem spanischen König anschlossen, niedergemetzelt. Natürlich alles unter dem wohlwollenden Schirm von Papst und König. Der Feldzug war eine einzige Schlacht – und auch nicht von Erfolg gekrönt, sondern ein morbides Desaster auf beiden Seiten. Soviel zum groben Inhalt.
Die einzelnen Episoden und Stationen beschreibt der Autor teilweise sehr genau. Für meinen Geschmack verzettelt er sich manchmal in zu beiläufige Geschichten. Mit viel Fantasie wird die Leserschaft eingeladen, sich ein Bild der teilweise unmenschlichen Bedingungen zu machen. Man könnte fast meinen, der Gestank, Schlamm, Dreck, oder das Toben und Schreien springen aus den Zeilen und benebeln einen im wahrsten Sinne des Wortes. Und dennoch versprühen die Zeilen einen gewissen Wortwitz und eine Ironie, ohne der es wahrscheinlich nur halb so erträglich gewesen wäre. Zwischendurch werden von den Protagonist:Innen Football, Pommes, oder andere Dinge der Neuzeit erfunden, nur um immer wieder mit den Worten: „das setzt sich eh nicht durch“ abzutun. Meines Erachtens war das überflüssig.
In Summe ist es ein interessanter historischer Roman, erzählt mit viel Einfallsreichtum, der das ganze Werk auf 540 Seiten aufbauscht – und den Leser:Innen vollste Konzentration abverlangt.
Dennoch gebe ich eine Leseempfehlung für alle, die den Mut und Muse haben, sich auf dieses Reise zu begeben. Es ist kein Buch für Zwischendurch – amüsant, lehrreich, aber auch sehr fordernd.

Bewertung vom 05.12.2022
Die Katze, die von Büchern träumte
Natsukawa, Sosuke

Die Katze, die von Büchern träumte


sehr gut

Wunderbare Aufmachung, eine zarte Verführung in die Magie der Buchwelt!

Dieses Buch ist nicht nur optisch ein Genuss mit fein bedrucktem Vorsatz, auch der Inhalt schließt sich der Liebe zu Büchern voll an. Es ist ein Bücherbuch, und gehört, so finde ich, in jedes Bücherregal.
Der fünfzehnjährige Rintaro verbringt sehr viel Zeit im Antiquariat seines Großvaters. Dort wird unter anderem noch die klassische Literatur verehrt und geschätzt. Erstausgaben zieren die Auslagen des Buchgeschäftes, alte Schmöker tummeln sich in dunklen Stellagen, der Geruch der Bücher überströmt alles. Rintaro ist Waise, still und in sich gekehrt. Er zeigt selten seine Emotionen, ist aber alles andere als teilnahmslos. Seine komplette Welt spielt sich neben der Schule in der Welt der Bücher ab. Als sein Großvater plötzlich stirbt, bricht eine Welt zusammen, der Schüler weiß vorerst weder ein noch aus. Eine Tante veranlasst die Übersiedlung des Jungen, das Antiquariat soll geräumt und die Geschäftsräume verkauft werden. Rintaro ist vorerst wie vor den Kopf gestoßen, schwänzt fortan die Schule und nützt die verbleibende Zeit bis zum Fortgehen mit vielem Nichtstun im Laden. Täglich kommt seine Klassensprecherin Sayo vorbei, der Hauch einer Freundschaft beginnt.
Dem nicht genug, taucht ein sprechender Kater auf, mit der Bitte ihm und den Büchern zu helfen. Rintaro verstand zu nächst nicht, um welche Bücher es sich wohl handeln mag. Aber sehr schnell beginnen ein paar phantastische Reisen, welche alle im hinteren Bereich des Antiquariats wie durch Zauberhand beginnen. Es ist tatsächlich die Welt der Bücher in Gefahr, und nur ein wahrer Bücherfreund (so wie Rintaro) kann helfend und rettend einschreiten.
Die Abenteuer kommen ohne großen Pomp oder Action daher, sondern gehen in einer besonnenen und ruhigen Weise an die kleinen und nicht so kleine Probleme heran (ich möchte fast schon sagen: typische japanische Literatur, so weit ich sie kenne).
Dieses schöne Buch mag mehr ein Jugendroman sein, als eine stilistisch hochwertig verfasste, zeitgenössische Literatur. Im Original 2017 erschienen, mittlerweile in 34 Sprachen übersetzt, zählt der Roman zu den erfolgreichsten Publikationen aus Japan. Wie schon gesagt ist die Aufmachung toll gemacht, der Einband passt ein wenig in die Weihnachtszeit, und auch der Showdown … naja, fast schon zu viel verraten.
Fazit: sehr gerne gebe ich eine Leseempfehlung für diesen sanften Roman, der einen sehr tief in die Welt der Bücher abtauchen lässt.

Bewertung vom 02.12.2022
Die Bücher, der Junge und die Nacht
Meyer, Kai

Die Bücher, der Junge und die Nacht


ausgezeichnet

Spannung. Unterhaltung. Geschichte. Bücherliebe. Leipzig als einstiges Mekka der Buchbranche.

Ich habe schon viele Bücher von Kai Meyer gelesen, kein einziges hat mich enttäuscht, ganz im Gegenteil. Und sein neuestes Werk hat es mir besonders angetan. Es ist der perfekte Mix aus historischem – und Abenteuerroman, leicht gewürzt mit einer Prise Phantastik. So ganz frei nach dem Motto: könnte ja sein ...
Der Roman spielt auf drei Erzählebenen bzw. Zeiten. Zum einen im Jahr 1933, als vieles seinen Anfang nahm – auch die Handlung in diesem Buch rund um den Buchbinder Jakob Steinfeld. Er ist ein Meister seines Faches, und zusammen mit dem sehr sympathischen Russen Grigori betreibt er seinen kleinen Laden mitten im grafischen Viertel der Bücherstadt Leipzig. Leipzig war damals eine Art Mekka des Buchhandels, der Verleger und Buchbinderei. Ein ganzes Viertel war der Arbeit mit Büchern gewidmet. Zahlreiche Gassen, Hinterhöfe und schmale Durchgänge dürften der Gegend wohl ein sehr pittoreskes Aussehen verliehen haben. Leider gibt es heute kaum mehr Fotos von jener Zeit. Im Jahr 1943 wurde die Stadt ausgebombt, das grafische Viertel, in welchem auch zahlreiche Propagandaschriften gedruckt wurden, wurde dem Erdboden gleichgemacht und als Bücherzentrum nie mehr aufgebaut. Hier beginnt ein zweiter Erzählstrang rund um den damals zehnjährigen Robert Steinfeld, welcher in letzter Sekunde von einem mysteriösen Helfer namens Mercurio aus dem Inferno gerettet wurde. Dieser nimmt sich Robert an, und zusammen streifen sie durch das kriegsgebeutelte Land, immer auf der Suche nach besonderen Büchern im Allgemeinen – und einem ganz besonderen Band im Speziellen.
Ewige Begleiter sind die Mitglieder der Verlegerfamilie Pallandt, die einen wesentlichen Beitrag zum Spannungsaufbau des Romans beitragen. 1971 stirbt der Patriarch der Familie, welcher schon während des Krieges sein Schaffen von Leipzig nach München umlagerte. Robert Steinfeld blieb den Büchern treu, obwohl er weder seinen Mutter noch seinen Vater kannte. Zusammen mit der Bibliothekarin stößt er im Kreise der Pallandts auf das Mysterium eines Buches, welches eng mit seiner Vergangenheit verknüpft ist – und eine spannende Schnitzeljagd beginnt. Denn die Wahrheit über jenes besondere Buch führt zwangsläufig zur Wahrheit über Roberts Herkunft.
Perfekt und nägelabkauend spannend lässt der Autor Fiktion und historische Gegebenheiten ineinander verfließen, und schafft hierbei eine wunderbare Symbiose.
Der Roman ist ein Bücherbuch par excellence, die Liebe zur Literatur und Buchdruckkunst verbreitet ihr Odeur mit jeder Zeile. Absolute Leseempfehlung für diesen wunderbaren Pageturner.

Bewertung vom 13.11.2022
Töchter Haitis
Vieux-Chauvet, Marie

Töchter Haitis


ausgezeichnet

Der Kampf einer Frau um Gleichberechtigung und Emanzipation im Haiti der Nachkriegszeit

Dieser sehr bewegende und mit Preisen ausgezeichnete Roman erschien erstmals im Original 1954. Er stellt ein intimes, aufwühlendes Sittenbild der damaligen Zeit in Haiti dar. Und der Bogen, der hier inhaltlich gespannt wird, ist wahrlich groß und überdeckt sehr viele verschiedene Grundthemen. Hauptsächlich ist dieses Buch, so sehe ich es, ein Aufschrei gegen alle patriarchalischen Strukturen des Landes, gegen die stete Unterdrückung der Frauen, und ein Manifest gegen Rassismus. Es herrschte ein Streit zwischen den ethnischen Gruppen des Landes, der seinen vorläufigen (im Roman fiktiven) Höhepunkt in Eskalationen und brutalen Machtspielen zwischen zwischen Schwarzen und Mulatten findet. Nur drei Jahre nach Erscheinen des Romanes zeigte sich im Land die wahre Wirklichkeit, welche der fiktiven Vorlage im Lande um nichts nachstand.
Zur Erzählung selbst: Es ist die Geschichte der Ich-Erzählerin Lotus, eine Mulattin, welcher wir schon als Kind begegnen und bei einer sehr intensiven Reise durch die Stationen ihres Lebens begleiten dürfen. Aufgewachsen als Tochter einer Prostituierten, voererst angeekelt von der Erwerbstätigkeit ihrer Mutter, fühlt sich Lotus in keiner Gesellschaftsschicht wohl oder aufgehoben. In der Schule hängt sie mit Freundinnen ab, aber im privaten Bereich wird der Umgang untereinander von den Eltern nicht erlaubt. Als ihre Mutter stirbt, erbt Lotus zwei Häuser – in einem lebt sie samt Bedienstete, das andere wird vermietet und beschert ihr ein Einkommen. Lotus macht im Laufe der Zeit eine Wandlung durch, wird von einer arroganten, boshaften Göre zu einer helfenden, mutigen Frau mit Herz und Kämpferin für die Emanzipation.
Und all das geschieht immer mit den begleiteten Umständen der politischen Gegebenheiten. Auch die Gesellschaftspolitik, der Umgang der Menschen untereinander, Patriarchat, Rassentrennung, Unterdrückung verstand die Autorin sehr geschickt in ihren wirklich lesenswerten Roman einzuweben.
„class, color, race & gender“, wie es im Klappentext heißt, war radikal in jener Zeit, und sind die grundlegenden Themen von Vieux-Chauvet.

Die Sprache ist klar, flüssig, erzeugt einen Sog und weckt wirklich großes Interesse an der Geschichte. Auch die vielen kreolischen Wörter, welche bewusst von der Übersetzerin im Text gelassen wurde (und im Anhang in einer editorischen Notiz erläutert werden) stören dabei nicht. Auch befindet sich am Ende ein sehr aufschlussreiches und interessantes Nachwort über Marie Vieux-Chauvet von Kaiama L. Glover. Aufgewachsen in Port-au-Prince, Haiti, musste sie 1968 in die USA flüchten und ins Exil gehen. Ihre kritischen Texte passten dem Regime nicht.
Die Autorin (1916-1973) hat fünf Romane geschrieben, nächstes Frühjahr bringt der Verlag ein weiteres Buch von ihr heraus. Man kann sich darüber sehr freuen. Ganz klare Leseempfehlung

Bewertung vom 11.11.2022
Unschuld
Würger, Takis

Unschuld


sehr gut

Waffenlobby, Todeszelle, das amerikanische Leben und die Suche nach Wahrheit

Florentin „Flo“ Carver sitzt in der Todeszelle. Er gestand vor zehn Jahren den Mord an dem jungen Casper Rosendale. Die Sachlage war eindeutig, so die Justiz.
Doch seine Tochter Molly, die seitdem bei ihrem Onkel Mick lebte, und Monat für Monat einen Scheck von einer Stiftung bekommt, sieht das anders. Sie glaubt nicht an das Geständnis ihres Vaters und macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Getarnt als Journalistin kann sie sich Zugang zu den Rodendales verschaffen. Was sie aufdeckt, macht sprachlos. Ihr bleiben weniger als einen Monat Zeit, bevor ihr Vater hingerichtet werden soll.
Der Name der Rosendales ist Programm. Sie sind sehr reich und haben viel Einfluss. Sogar der 6000-Seelen Ort an der Ostküste, in welchem sie leben, trägt ihren Namen. Und die Rosendales sind fanatische Verfechter der NAA, der amerikanischen Waffenlobby, welche sich auf den zweiten Artikel der amerikanischen Verfassung stützt.
Takis Würger zeichnet in seinem neuesten Roman ein Skizze dieser Art der Gesellschaft, wo man glaubt, mit Geld alles erreichen zu können, und wie man die eigenen Sprösslinge am besten ruhig hält. Es ist erschütternd, mit welchen Details der Autor aufwartet, die Grenzen zwischen arm und unermesslich reich aufzeigt.
Der Sprachstil bleibt dennoch ruhig, unbewertend. nüchtern und doch spannend. Das Buch ist ein Pageturner, der von Kapitel zu Kapitel nach mehr schreit.
Allerdings wurde mein Appetit dabei leider nicht ganz gestillt. Natürlich fragt man sich sehr bald, wie die Story wohl ausgehen mag – und siehe da, leider für mich ein wenig zu sehr vorhersehbar. Auch hätte ich mir ein wenig mehr Schärfe bei all den Themen gewünscht, aber nichts desto trotz hallt das Gelesene nach – macht nachdenklich, und auch kopfschüttelnd, über das sehr gut gezeichnete Bild des amerikanischen Lebens. Und das schafft der Autor immer wieder – präzise Bilder mit wenig Sprache zu erzeugen.
Hiermit gebe ich sehr gerne eine Leseempfehlung für diesen sehr gut geschriebenen Roman ab.

Bewertung vom 06.11.2022
Melodie des Bösen / Kommissar Julien Vioric Bd.2
Habekost, Britta

Melodie des Bösen / Kommissar Julien Vioric Bd.2


ausgezeichnet

Ein brillant recherchierter Krimi im Paris von 1925, geprägt vom Jazz.

Paris 1925, die Surrealisten sind präsent, leben ihr Leben in vollen Zügen, und genießen die neue aufstrebende Musik. Eine Musik abseits von Zwängen und Genres, frei wie das Leben es sein sollte, voller Schwung und Elan, abseits aller Konventionen. Der Jazz hat Paris erobert, sehr zum Argwohn der musikalischen Traditionisten. Es kommt zu Gewalt und Ausschreitungen, und der Rassismus schaukelt sich hoch in kaum dagewesen Höhen. Denn schließlich sind viele der Jazzmusiker Schwarze, oder Kreolen. Der vorläufige Höhepunkt: ein menschliches Herz wird am Grab von Fredéric Chopin abgelegt.
Spätestens jetzt ist die Polizei gefordert, denn dieser grausame Fund erinnert an eine ungeklärte Straftat aus dem Jahr 1913. Lieutenant Julien Vioric konnte den Fall damals nicht lösen. Nun sollte sich eine zweite Chance ergeben. Und dies vorerst gegen seinen Willen. Monate zuvor hatte er seinen Dienst quittiert, um einer Liebe wegen nach Antibes zu gehen. Doch er kehrt nach Enttäuschungen zurück in sein geliebtes Paris, und wird just vom Präfekten wieder in den Polizeidienst eingeführt, ohne Julien lange zu fragen. Der Präfekt ist Juliens jüngerer Bruder, arrogant bis in die Haarspitzen, mehr an seiner gesellschaftlichen Stellung interessiert als an den Grundzügen seines Postens, sprich die Antipathieperson non plus ultra.
Während der Ermittlungen gerät Vioric natürlich sofort in den Dunstkreis des Jazz mit all seinen Protagonist:Innen. Zusätzlich geraten die beiden Journalistinnen Heloise und Lysanen zwischen die Fronten … ein Katz und Maus Spiel beginnt.
Brillant recherchiert erzählt uns die Autorin von einer weiteren Epoche aus dem Paris der Zwanziger Jahre, mit alle seinem Glamour, und auch mit all den Schattenseiten. Der angeführte Rassismus trifft einen beim Lesen mit voller Wucht, und lässt mich immer wieder an der Menschheit zweifeln (natürlich auch in Anbetracht aller gegenwärtiger Probleme).
Manchmal poetisch, mal sehr direkt, bringt sie uns die Geschichte näher, lässt die handelnden Personen sehr authentisch und plastisch wirken. Es ist im Prinzip der Nachfolgeroman von „Stadt der Mörder“, kann aber ohne weiteres als eigenständiger Roman gelesen werden. Sehr aufschlussreich und interessant fand ich auch das Nachwort der Autorin zur Person von Nancy Cunard, welche eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat.
Ich gebe hier gerne eine Leseempfehlung für diesen historischen #Krimi , und bin schon sehr gespannt, in welche Kreise uns Britta Habekost in ihrem nächsten Paris-Roman führen wird (ich hoffe zumindest darauf).

Bewertung vom 16.10.2022
Penelope und die zwölf Mägde
Atwood, Margaret

Penelope und die zwölf Mägde


ausgezeichnet

Ein episch genialer Pageturner und eine etwas andere Darstellung von Homers Odyssee

Der Roman erschien bereits 2005, auch in einer deutschen Übersetzung. Die vorliegende Ausgabe wurde neu (und sehr genial) übersetzt.

Die Odyssee. Von einem Mann geschrieben, für Männer geschrieben. War es so, wie es Homer darstellt.? Alles nur fiktiv? Oder war es ganz anders? Oder nur auf die heroischen Teile zurecht gemünzt? War Penelope wirklich die tugendhafte Ehefrau, welche über 20 Jahre lang brav auf ihren Mann gewartet hat? Und warum mussten zwölf Mägde letzten Endes ihr Leben lassen?
Die Autorin geht den Fragen nach, stützt sich zwar in erster Linie auf Homer, aber bedient sich auch anderer Quellen (im Anhang erläutert). Denn all diese Sagen und Legenden wurden vorerst ja nur mündlich weiter gegeben.
Atwood nimmt den Stoff neu auf, und erzählt uns die Geschichte aus der Sicht von Penelope. Und in Chören und Gesängen kommen die Mägde zu Wort. Die Sagenwelt rund um Odysseus rückt so in einer etwas anderes Licht, die heldenhaften Abenteuer hätten ja auch anders interpretiert werden können. 
Die Sage wird etwas entzaubert, das Patriarchat angeprangert. Strahlende Königinnen werden zu Opfern, Könige zu schwachen Säufern. Die Heiratspolitik tut ihr übriges.
Aber wie war es denn nun wirklich? Natürlich weiß es niemand, aber Penelope webt (wie auch in der Mythologie) ein sehr glaubhaftes Bild über ihre Geschichte. Sie spart auch nicht an Kritik, sowohl all der Umstände, wie auch an sich selbst. Und dann war noch die schöne Helena …
Der Roman ist rasant, spielt mit Bildern, stellt vieles in Frage und manifestiert dennoch die ein oder andere Meinung. Die Sätze triefen teilweise vor Sarkasmus, ein Umstand, der mir sehr gut gefallen hat und das ganze Buch zu einem wahren Pageturner und Jahreslesehighlight macht.

S.51: „Und so wechsle ich den Besitzer wie ein abgepacktes Stück Fleisch. Mit der Besonderheit, dass die Verpackung aus reinem Gold bestand und wertvoller war als der Inhalt. Ich war sozusagen eine vergoldete Presswurst.“
S.89: „Dann wieder war Odysseus bei einer Zauberin gelandet, die seine Männer in Schweine verwandelte – was bei den Kerlen offen gestanden keine große Leistung ist.“

Neben Penelope kommen die Mägde zu Wort, in Sprechgesängen und Chören gemäß dem epischen Vorbild. Sie singen von sich, rücken ihr Schicksal in das Licht des Geschehens, sprechen aus, was Sache ist, prangern ihren Mord an und stellen die Frage, warum sie mit den Belagerern von Osysseus' Haus gehängt wurden.
Übrigens: Penelope und die Mägde erzählen uns dies alles erst, als sie schon tot sind und in der Unterwelt wandeln, und dabei auf die ein oder andere Bekannte oder Zeitgenossen treffen. Sehr genial, wie ich finde und gebe hier für dieses Ausnahmebuch eine absolute Leseempfehlung.

Bewertung vom 13.10.2022
Eine Insel
Jennings, Karen

Eine Insel


ausgezeichnet

Der Mensch und der Geflüchtete! Ein starkes Thema in einem wunderbaren Roman! Pageturner!

Samuel lebt seit mehr als 20 Jahren auf einer kleinen Insel als Leuchtturmwärter. Die südafrikanische Küste ist nicht weit weg, alle zwei Wochen kommt ein Versorgungsschiff, bringt das Nötigste, und ein kleiner Plausch ergibt sich auch. Das genügt Samuel völlig an sozialen Kontakten, mehr mutet sich der Siebzigjährige nicht zu. Seine Hütte ist karg, Wind und Wetter ausgeliefert, dem Verfall immer mehr preis gegeben.
Vieles wird angeschwemmt, meist Unnützes, selten Brauchbares. Oftmals sind auch Leichen im Treibgut, welche er dann notdürftig bestattet, denn die Regierung am Festland kümmert es nicht. Es sind Flüchtlinge, welche auf schwerer See ihre Passage mit dem Leben bezahlten.
S.12: „Wir können nicht jedes Mal auf die Insel kommen, wenn irgendwelche Ausländer auf der Flucht ertrinken. Die gehen uns nichts an.“
Eines Tages findet Samuel ein Fass, welches er gut gebrauchen kann, und einen leblosen Körper. Zuerst gilt es, das Fass zu bergen, dann würde er sich um den Toten kümmern. Doch der Mann ist nicht nicht tot, und so erbarmt sich Samuel seiner, hilft ihm so gut er kann, und würde den armen Kerl mit dem nächsten Schiff aufs Festland schicken.
Die sprachliche Barriere verhindert eine Konversation, und die spärlichen Handzeichen und Gebärden führen zu Missverständnissen. Samuel bekommt Angst um sein Leben, eine alte Paranoia steigt aus seinem Inneren hervor, mach ihn krank und lässt ihn zeitweise nicht mehr klar denken.

Während der Erzählung von der Insel schwenkt die Autorin zurück auf Samuels Lebensgeschichte. Von seiner Kindheit, geprägt durch Armut und soziale Abgeschiedenheit. Das Land stöhnte unter der Kolonialmacht, die Unabhängigkeit machte es nicht viel besser. Der Präsident wurde gestürzt, ein Diktator übernahm die komplette Kontrolle über den kleinen Staat. Es gab Widerstandsbewegungen – und viele Gefangene und Tote. Mehr erzähle ich nicht … selber lesen!, denn dieses Buch ist ein wahrer Pageturner, brillant und eiskalt erzählt. Jennings zeichnet ein sehr scharfes Portrait von Samuel und seinen Lebensumständen.

Subtil und unterschwellig werden nicht nur Regime, sondern die ganze globale Lebensweise, welche den Planeten an die Wand fährt, an den Pranger gestellt. Die Menschheit schottet sich selber ab, lebt wie Samuel, ohne Empathie, ausländerfeindlich. Um die armen Geflüchteten will sich niemand kümmern, sie sind ein unerwünschtes Treibgut im Meer der Gesellschaft.
S.66: „Und heute sagt uns die Landkarte, wer wir sind und wo wir sind, aber uns hat nie einer gefragt, ob das auch stimmt.“
Das Buch erschien im Original (An Island) 2019 und war für den Booker Prize nominiert – sehr zu recht, würde ich sagen. Es ist der erste Roman (von vier) der Autorin, welcher ins Deutsche übersetzt worden ist (bitte mehr davon). Absolute Leseempfehlung für dieses Lesehighlight.

Bewertung vom 09.10.2022
Die blinde Tochter / Die 18/4-Serie Bd.3
Haohui, Zhou

Die blinde Tochter / Die 18/4-Serie Bd.3


ausgezeichnet

Episch! Spannung pur!

Das ist der atemraubende, abschließende Teil der 18/4 Trilogie. Der Rächer Eumenides ist gefasst, und sitzt im Hochsicherheitstrakt der Gefangenenanstalt in Chengdu seine Haftstrafe ab. Aus Mangels an Beweisen hat er nur fünf Jahre bekommen, welche er in Ruhe absitzen möchte. Doch dann taucht ein Mithäftling auf, erste Fluchtpläne werden noch zur Seite geschoben. Doch der „Neue“ scheint etwas zu wissen, … und während neue Pläne geschmiedet, die Hackordnung in der Zelle neu gestaltet wird, geht es in der Stadt drunter und drüber.
Denn es ist keineswegs Ruhe eingekehrt. Neue, selbsternannte Bosse der Unterwelt, schenken sich nichts, und ein blutiger Machtkampf um die Vorherrschaft beginnt. Hauptmann Pei Tao von der Polizei und Sonderermittler ist gewieft, nutzt die Gunst der Stunde, und kann die beiden kriminellen Lager gegeneinander ausspielen.
Doch dann gelingt Eumenides die Flucht, und eine junge blinde Frau wird zum alles entscheidenden Drehpunkt. Wie es wohl ausgeht – wird von mir natürlich nicht verraten.
Ich kann aber sagen: Alles drei Teile sind nägelabkauend spannend, von der ersten bis zur letzten Seite.
Der Autor hat hier quasi eine eigene Welt geschaffen, wie es mir scheint. Handlungen, Beziehungen und Taten erstrecken sich über neunzehn Jahre, sind miteinander sehr geschickt verwoben. Für mich grenzt es an ein Wunder, dass der Autor hier nie den Überblick verliert, alles fügt sich nahtlos in einer unglaublichen Perfektion ineinander. Ereignisse vom 18.4.1984 werfen nach wie vor ihre langen Schatten bis ins Jahr 2003, zum ultimativen Showdown. Kein einziges Mal hatte ich beim Lesen das Gefühl, dass ein Detail der Logik nicht folgte. Im Gegenteil – der Inhalt strömt wie in einem reißenden Fluss dahin, ohne Wiederkehr, aber dennoch mit überraschenden Wendungen und einer Story, welche wirklich unvorhersehbar ist.
Ganz großes Kompliment an Zhou Haohui und den Übersetzer Julian Haefs. Ich bin/war schwer begeistert, und gebe hier eine absolute Leseempfehlung für alle Freunde von Thriller und Krimis.

Bewertung vom 06.10.2022
Miss Kim weiß Bescheid
Cho, Nam-joo

Miss Kim weiß Bescheid


ausgezeichnet

Normalerweise bin ich nicht unbedingt ein Freund von gesammelten Erzählungen, aber hier habe ich eine Ausnahme gemacht – und sie hat sich sehr gelohnt. Ich bin schwer begeistert von dem Buch der koreanischen Autorin.
Sie erzählt uns acht Alltagsgeschichten von und über Frauen, wie sie mit ihren Leben, Ängsten, Sorgen und Nöten klarkommen. Oder wie die Gesellschaft und ihr Umfeld auf diese Frauen Einfluss nehmen. Es gibt bittere, gesellschaftskritische Töne genauso wie heitere, oder sogar selbstkritische Texte der Autorin.
Es sind verschiedene Situationen, mit welchen diese koreanischen Frauen klarkommen müssen, und Cho Nam-Joo erzählt darüber, nicht bewertend, sondern objektiv, in einer wunderbaren Sprache. Ich hätte da ewig weiterlesen können, so leicht gingen diese teilweise auch schwierigen Themen über die Seiten. Bei einigen der Episoden kann man durchaus eine Globalisierung der Themen vornehmen, denn sie betreffen bestimmt alle Frauen auf der Welt.
Zum Beispiel: die Beendigung einer Beziehung in Briefform „Lieber Hyunnam“, welche ich sehr genossen habe, oder über das „Entsorgen“ und Mobben von Personal „Miss Kim weiß Bescheid“ (mein persönlicher Favorit). Diese Erzählungen habe ich sehr genossen, natürlich auch alle anderen. Auch „Die Nacht der Polarlichter“ ist eine wundervolle Beschreibung über die Macht von Sehnsucht und Wunscherfüllung.
Das Buch ist nicht wirklich ein Aufschrei, aber ein klares Statement, wie das Patriarchat agiert, dominiert, verletzt und unterdrückt. Es ist auch ein Hilferuf und ein Mutmacher.
Somit gebe ich sehr gerne eine ganz klare Leseempfehlung ab, und bin mir sehr sicher, dass ich die ein oder andere Geschichte bestimmt nochmals lesen werde.
Auch möchte ich hier noch erwähnen, dass Haptik und Optik vom Feinsten sind, und das Buch somit wirklich rundum mehr als gelungen ist. Großes Kompliment natürlich auch an die Übersetzerin Inwon Park.