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Benutzername: 
meany
Wohnort: 
Seligenstadt

Bewertungen

Insgesamt 160 Bewertungen
Bewertung vom 14.03.2023
Der Fluch der dreizehnten Fee / Magic Kingdom Bd.1
De la Cruz, Melissa

Der Fluch der dreizehnten Fee / Magic Kingdom Bd.1


sehr gut

Alte Märchen neu erzählt

Durch eine gewisse Prädisposition, die erst gegen Ende des Buchs aufgeklärt wird, gerät die zwölfjährige Filomena in ein Abenteuer zwischen zwei Welten, in denen die von ihr bevorzugte Fantasyreihe eine Rolle spielt. Diese beiden Sphären bereichern und ergänzen einander und sind einfallsreich miteinander verwoben. Dabei amüsiert mich ganz besonders, wie de la Cruz die archaischen Märchenmotive und Episoden mit der frischen, jugendlichen Sprache Filomenas konterkariert in ihrem Pandämonium aus Grimm, 1001 Nacht und Alice im Wunderland.

Differenzierte Charaktere, übersichtliche Spannungsbögen und einfallsreiche Motive und Szenerien erleichterten mir die Lektüre, denn oft stieß mich bei der Fantasieliteratur ab, wie wahllos und willkürlich möglichst sensationelle, aber wackelige Luftschlösser aneinandergepappt werden. Nur die Verse holpern leider ein bisschen, ob das die Autorin selbst oder die Übersetzerin verbrochen hat, sei dahingestellt.

Humor kommt für mich ins Spiel, wo sie die Stories gegen den Strich bürstet und umdeutet, wie zum Beispiel bei den Wölfen, durch die als Motorradgang genauso wie durch die modebewusste Gretel ein moderner Touch ins Spiel kommt.

Die pfiffige Idee, Märchen komplett umzuschreiben, zeigt sich auch in der dem Buch hinzugefügten Leseprobe mit Aschenputtels Schuhen. Wahrhaftig goutieren werden das aber nur Kenner der Märchenwelt, denen sich die Zusammhänge erschließen. Aber wer noch keiner ist, kann noch einer werden, denn schon Bruno Bettelheim stellte fest: "Kinder brauchen Märchen". Sich mit dieser Welt voller Archetypen und engem Bezug zur Psyche zu befassen ist es nie zu spät - und dazu könnte diese Geschichte eine wertvolle Anregung sein. Das Material wird dieser inspirierenden Reihe jedenfalls so schnell nicht ausgehen.

Bewertung vom 07.03.2023
Ein Geist in der Kehle
Ní Ghríofa, Doireann

Ein Geist in der Kehle


sehr gut

Ihre Träume erben

Eine junge Mutter erforscht wie besessen die Ursprünge und Personen eines Gedichts, das sie schon seit ihrer Kindheit begleitet. Wie schafft sie das, wo sie im Grunde mit ihren häuslichen Pflichten ausgelastet ist, die sie mit Hilfe von To-do-Listen beherzt und mit staunenswertem Gleichmut in Angriff nimmt? Kein Wort der Klage kommt über ihre Lippen, mit unendlicher Liebe wendet sie sich Tag und Nacht ihrem Nachwuchs zu, aber auch ihrem Ehemann, denen sie allen keinen Namen verleiht.

Ein Leitmotiv ist dabei das Thema Stillen im Sinne von Leben Spenden. Bei drei Kindern gibt sie ihre problemlos fließende Muttermilch ab für Frühgeborene. Dann ereilt sie das gleiche Schicksal nach einem Notkaiserschnitt. Die medizinischen Fakten beschreibt sie akribisch, ihre psychische Verfassung und den Betrieb auf der Neugeborenenstation. Wer das noch nicht selbst erlebt hat, kann sich das gar nicht vorstellen.

Viellicht hilft ihr dabei aber auch die intensive Beschäftigung mit der früh verwitweten Adligen aus dem 18. Jahrhundert, von der das Gedicht handelt, und die Identifizierung mit ihr lenkt die Ich-Erzählerin von ihrem Alltag ab und überhöht diesen.

Es entsteht dabei ein Buch über das weibliche Leben in der Vergangenheit und Gegenwart, über emotionale Betroffenheit durch Literatur und über die weibliche Psyche allgemein. Sie reflektiert ja auch selbst die Gründe für ihre Obsession: sie will die Frau als Hauptakteurin mit all ihren persönlichen Eigenschaften beleuchten. Sie geht ihren Spuren nach, indem sie die Schauplätze aufsucht, stellt literaturwissenschaftliche Betrachtungen über Gedichte von Frauen an, die oft nur mündlich überliefert wurden, weil man die Autorinnenschaft nicht anerkannte, und betreibt Quellenforschung in allen möglichen Bibliotheken und im Internet. "Das ist ein weiblicher Text."

Zwei Sphären prallen dabei aufeinander und vermischen sich: die des alltäglichen Lebens und die geistig-wissenschaftliche.

Dieses hochliterarische Werk der Autorin, die sich schon mit ihrer Lyrik einen Namen machte, hat mich bereichert, aber auch stark gefordert. Es beginnt schon mit den gälischen Namen und Begriffen, bei denen mich eine Aussprachehilfe unterstützt hätte. Unterhaltungsliteratur ist das nicht, aber wenn man Verständnis aufbringt für Frauenbewegte, die trotzdem in ihrer Familie aufgehen, und die Geschichte Irlands, wird man hier eine Erweiterung des Horizonts erfahren.

Bewertung vom 02.03.2023
Anpfiff! / Die Zauberkicker Bd.1
Schreuder, Benjamin

Anpfiff! / Die Zauberkicker Bd.1


gut

Eigentlich bin ich Spielmacher

Alle jungen Menschen mit Interesse an Fußball werden sich in der hier beschriebenen Welt wiederfinden: in der Fachsprache, in der beschriebenen Organisation, aber auch in den mentalen Psychospielchen der Akteure. Gewisse Typen sind überall vertreten. Benjamin Schreuder charakterisiert sie treffend. Ben, der Ich-Erzähler bietet sich in seiner sympathischen Sprechweise als Identifikationsfigur an.

Eine originelle Idee ist es, diese profane Sportart in ein magisches Ambiente zu verpflanzen, das fügt noch eine ganz besondere Dimension hinzu. Hierzu verwendet er Elemente, die auch andernorts schon erfolgreich waren: die eingeschworene, durch Quertreiber aber auch krisenanfällige Welt eines Internats, verständnisvolle Pädagogen und Verdacht erweckende Individuen.

Dieser erste Band stellt die Weichen für im Grunde angelegte Konflikte, die er wegen des knappen Umfangs aber nicht weiter ausführt, sondern nach einem Handlungshöhepunkt mit einem Cliffhanger enden lässt. Die unmittelbar danach angefügte Leseprobe aus Band 2 zeigt, wie stark die Story auf eine Serie angelegt ist, ohne deren kompletten Erwerb ein einzelner Teil unvollständig und unbefriedigend ist. Diese geschickte Marketingstrategie des Verlags soll die jungen Leser erst einmal anfixen und dann zum Erwerb weiterer Bände zum Preis von jeweils 12 Euro veranlassen. Das wären bei drei Bänden bereits 36 Euro für eine bisher relativ dünne Story.

Bewertung vom 12.02.2023
Getraut / Andrea Schnidt Bd.12
Fröhlich, Susanne

Getraut / Andrea Schnidt Bd.12


weniger gut

Das große Ja-Wort

Dem Hören-Sagen nach kenne ich Susanne Fröhlich als Bestsellerautorin, die ihrem Namen alle Ehre macht, aber da das Genre "Heiteres" nicht zu meinen zentralen Interessen gehört, hatte ich noch nicht die Gelegenheit einer persönlichen Bekanntschaft.

Der im Rhein-Main-Gebiet gebräuchliche Dialekt nimmt nicht gerade die Spitzenstellung ein in der Rangliste der deutschen Regionalidiome, besonders was die Assoziation mit überdurchschnittlichem Intellekt anbelangt. Vor allem in Fassenachtszeiten dient er aber unverdrossen der Belustigung, allerdings mehr in der gesprochenen als in der geschriebenen Form, die immer etwas sperrig zu konsumieren ist. Damit ist er einerseits gut geeignet für ein Buch wie "Getraut", schränkt aber unter Umständen die Zielgruppe etwas ein.

Mit diesem Ersteindruck machte ich mich an die Lektüre. Dass Susanne Fröhlichs Fangemeinde jede ihrer Neuerscheinungen sehnlichst erwartet, gönne ich ihr.

Harmlos, aber dramatisch dargestellt sind die Episoden, außerdem zugeschnitten auf einen speziellen Humortyp. Slapstickartige Szenen handeln von mehr oder weniger geglückter Verdauung von Mensch und Tier oder mit der Suche nach Trauringen in deren Hinterlassenschaften.

Womit sich Fröhlich wirklich auskennt, sind Frauenseelen aller Art, und da kann sie auf erheiternde Weise richtig schön bösartig werden, was sie aber dann wieder konterkariert durch Kommentare zu den Geschehnissen wie aus einem Psychoratgeber von der Stange. Mit einem Pandämonium aufgeblasener Belanglosigkeiten hat sie einfach ein paar Fässer zu viel aufgemacht: der halbseidene Selbsterfahrungscoach, die Tücken der Patchworkfamilie, die demente Mutter im Heim, der beziehungsunerfahrene Taubenmann, die Freundinnen mit allen möglichen Beziehungskisten, Hochzeitsvorbereitungen, jede Menge Senioren, die von Altersweisheit weit entfernt sind, und die Betreuung des geliebten Enkels, besonders spektakulär im Geschäft für Brautmoden.

Bewundernswert, wie sie nach 300 Seiten die Kurve kriegt und einen allerseits versöhnlichen Knoten schürzt, so dass die Leserin auf der Suche nach Ablenkung von den Übeln der Welt das Buch zufrieden aus der Hand legt.

Bewertung vom 26.01.2023
Der Inselmann
Gieselmann, Dirk

Der Inselmann


sehr gut

Das dunkelweiße Nichts eines nicht endenden Winters

Den undefiniert schwierigen Lebensverhältnissen entflieht eine kleine Familie auf eine menschenleere Insel, die eine unwirtliche Zuflucht bietet. Der Junge Hans lechzt nach Zuwendung, aber die Eltern sind in ihren eigenen Problemen zu befangen, um sich ihm zu öffnen. Eine emotionale Heimat findet er in der Natur. Bei all der Härte des Insellebens ist Hans schließlich der absoluten Absurdität ausgeliefert, als ihn die Schulpflicht wieder in die sogenannte Zivilisation zwingt. Nachdem er sieben Jahre lang die traumatisierenden Zustände im Erziehungsheim überlebt hat, gelingt ihm die Rückkehr auf seine Insel, ohne jedoch noch einmal eine Beziehung zu Vater und Mutter aufnehmen zu können.

Rasch hat man das Bändchen gelesen, doch lange hallt es nach, durchtränkt von geballter Atmosphäre. Durch die Umstände gezwungen sucht Hans die Einsamkeit bewusst und absichtlich auf. Die innere Realität und die archaischen Gewalten schildert Gieselmann in einer hochartifiziellen Sprache, in der jedes Wort handverlesen ist. Dabei nutzt er auch surrealistische Bilder: "Ein Mädchen auf dem Gehsteig spielte Werwolf." (S. 63). Häufig kulminieren die Betrachtungen in philosophischen Bonmots: "So wie die Vernunft den Wahnsinn braucht [...] braucht die Gemeinschaft die Einsamkeit [...]."

War ohnehin das ganze Buch wie von einem Nebelschleier verhangen, verschwindet am Ende alles im Nichts.

Bei all der Trostlosigkeit im menschlichen Zusammenleben, in dem kaum eine Kommunikation möglich ist, feiert der Autor eine Hymne auf die Natur und ihre Kraft zur Regeneration. Empfehlen würde ich dieses Werk nachdenklichen Lesern von Lyrik und stilistisch ambitionierter Literatur.

Bewertung vom 23.01.2023
Saubere Zeiten
Wunn, Andreas

Saubere Zeiten


ausgezeichnet

Oben im Drempel

Eigentlich habe ich ähnliche Geschichten schon häufig gelesen über die Erbschaften des Nationalsozialismus; die Last der deutschen Geschichte legt sie ja nahe: die Nachkriegsgeneration holt die Leichen aus dem Keller ihrer Väter - oder eben wie hier vom Dachboden. Doch so vielfältig die Menschen gestrickt sind, kann ein Autor immer wieder neue Aspekte in den Fokus stellen.

In diesem Fall geht es also um die Entwicklung eines Produkts und dessen wirtschaftliche Verwertung im Zusammenhang mit der "Arisierung" von Firmen. Aber so einfach wie man anfangs denkt, entwickelt es sich doch nicht. Die Kunst liegt in der Subtilität.

Hier ist ein fähiger Erzähler am Werk. Mit seinen lakonischen, kurzen Sätzen im Stakkatostil entfacht er von der ersten Seite an einen Sog und schafft es, in den kleinen Episoden einen Spannungsbogen zu setzen, ohne dabei den großen Zusammenhang aus den Augen zu verlieren. Einfühlsam und voller Sympathie charakterisiert Andreas Wunn die Personen und verdeutlicht die psychologischen Sachverhalte in passenden und originellen Bildern weit ab vom Klischee.

Dramaturgisch spielt er gegen Ende mehr und mehr mit den Lesern, indem er die Ereignisse aus der Vergangenheit und Gegenwart ineinander verschachtelt und dabei mit Cliffhangern arbeitet. Eigentlich schätze ich das nur bedingt, aber ich habe insgesamt das Gefühl, als würde eher er sich auf die Folter spannen, weil er den Kern der Geschichte verdrängt. Es ist ein psychologisches Problem wie bei den Kriegskindern und -enkeln im Werk Sabine Bodes. Deshalb geht es genauso um Jakobs Heute wie um das Gestern seiner Familie, das ihn unterschwellig belastet. Die Aufeinanderfolge der Szenen fädelt Wunn so geschickt ein, dass man nicht aufhören kann weiterzulesen.

Dieser bemerkenswerte Erstlingsroman hat mich so beeindruckt, dass ich ihn gerne weiterempfehle.

Bewertung vom 14.01.2023
Rote Sirenen
Belim, Victoria

Rote Sirenen


sehr gut

Nichts verschwindet spurlos

Als Victoria Belim diese familiäre Spurensuche schrieb, konnte sie vielleicht ahnen, aber nicht wissen, auf welch aktuelles Interesse die Geschichte ihres Heimatlands Ukraine noch stoßen würde. Umso anstößiger wirkt sich deshalb der anfängliche Dialog mit ihrem Onkel Wladimir aus, der eigensinnig die russische Position vertritt und in heutigen Tagen in der westlichen Welt eine gewaltige Provokation darstellt. In meinem Leseeindruck äußerte ich schon die Hoffnung, dass im Laufe des Buchs auch andere Positionen zur Sprache kommen würden, und so ist es ja dann auch.

Mit vielen Dialogen schildert die Autorin in einer sinnlich bildhaften Sprache sehr anschaulich die Menschen und die Milieus, in denen sie agieren. Bei der Spurensuche in erster Linie nach ihrem verschollenen Großonkel Nikodims werden wir vertraut mit der Geschichte, Mentalität, Kultur und Folklore der Ukraine, führen uns aber auch dramatische Episoden vor Augen wie die Rolle der Kosaken, den Hitler-Stalin-Pakt und die Massaker der Weltkriege, danach die Große Hungersnot und die Tyrannei des Geheimdiensts bis zu den Ungereimtheiten der aktuellen Politik wie die Besetzung der Krim.

Diese Fülle an Themen rollt sie auf anhand von Begegnungen mit Verwandten und deren Bekanntenkreis, indem sie aus ihrem US-amerikanischen Wohnort immer wieder für längere Zeit nach Hause reist. Ihre Intention beschreibt sie mit den folgenden Worten auf Seite 174: "Die Ukraine mit neuen Augen zu sehen, war so fesselnd wie die Erforschung meiner Familiengeschichte." Dabei erlebt sie Zeugnisse einzigartiger Gastfreundschaft und Zugewandtheit, aber auch plötzliches Verschweigen von Tabuthemen.

Es fiel mir anfangs schwer, im Laufe der Lektüre aber zusehends leichter, in diesem Mosaik einen roten Faden zu finden und durch einen Spannungsbogen bei der Stange zu bleiben. Wie sie am Ende sogar den Kreis schließt bis hin zur Klärung existenzieller Missverständnisse und eigener psychischer Konflikte, zeigt im Individuellen die Auswirkungen solch historisch-politischer Zwiespälte sehr anschaulich.

Bewertung vom 01.01.2023
Ria Regenbogen und die Wetterlinge / Ria Regenbogen Bd.1
Anderson, Laura Ellen

Ria Regenbogen und die Wetterlinge / Ria Regenbogen Bd.1


sehr gut

Auf jeden Sturm folgt ein Regenbogen

Wer von den Gestalten mit den wetterspezifischen Namen Metaphern für das Klimageschehen auf der Erde erwartet, geht fehl, denn sie dienen zunächst der überbordenden Fantasie der Verfasserin, um eine Art Scheibenwelt für Kleine im Stil Terry Pratchetts zu entwerfen. Im anfänglichen Klamauk, der mich erst einmal verwirrte, habe ich sogar eine Brise Monty Python geschnuppert.

Aus dieser Anfangskonstellation entwickelt Anderson eine Abenteuerstory dreier jugendlicher Bewohner der Himmelssphäre mit existenziellem Bezug zur Erde, aber einer Eigendynamik, die sich auf unseren Planeten in einer nicht näher beschriebenen Art und Weise auswirken soll. Dabei kommt auch der hintersinnige Humor nicht zu kurz wie zum Beispiel bei dem Besuch des Britesischen Museums.

Gegen Ende entfaltet die Geschichte schließlich noch eine zielgerichtete Logik, die in weiteren Bänden fortgeführt werden kann, den aktuellen Umweltgedanken untermauert und in eine hoffnungsvolle Richtung lenkt.

Wenn das ideenreich gestaltete Buch mit seinen Funken sprühenden, dynamischen Illustrationen auch ein frühes Lesealter nahelegt, würde ich es wegen der chaotischen Ausgangssituation und der schwierigen Wortschöpfungen, die sicherlich auch für die Übersetzer eine Herausforderung darstellten, erst ab 10 Jahren empfehlen. Dann werden fantasiebegabte Kinder mit Sinn für Sprachspielereien aber bestimmt ihren Spaß daran haben.

Bewertung vom 24.11.2022
Blutmond / Harry Hole Bd.13
Nesbø, Jo

Blutmond / Harry Hole Bd.13


ausgezeichnet

Bleib nicht in dem finstren Wald

Nach vielen, vielen Harry Hole-Krimis ist mir der problematische Ermittler, gebeutelt von Schicksalsschlägen und seiner Alkoholsucht, aber getrieben von einem unerbittlichen Drang, den Kriminalfall zu lösen, so ans Herz gewachsen, dass ich keine Folge missen möchte, zumal ich nach dem "Messer" dachte: das war's dann.

Diesmal bleiben die krassen Alkoholexzesse aus, und es entwickelt sich eine Verbrechensaufklärung, die mehr verstandesgesteuert abläuft als von Actionszenen durchsetzt. Genial, wie der Meister der Dramaturgie Situationen entfaltet und damit eine ganz subtile Spannung erzeugt, wenn er die strategisch geschickt inszenierte Doppelbödigkeit auch manchmal auf die Spitze treibt und förmlich Schlittschuh fährt mit seinem Publikum. Doch das ist ein Thriller ja auch: ein vergnügliches Spiel mit den Rezipienten. Das ist mir besonders beim nachträglichen Zurückblättern aufgefallen: bei welchen Andeutungen man frühzeitig hätte stutzig werden sollen.

Verfilmt würde ich diese Geschehnisse schon aus ästhetischen Gründen nur schwer aushalten, aber während des Lesens trägt einen der Nervenkitzel zügig von Seite zu Seite, ohne große Rückblenden, aber mit der zweiten Ebene des Täters Prim, dessen Identität das zentrale Rätsel bildet. Auch hier setzt man sich wieder mit Zeichen der Verwahrlosung auseinander, sowohl bei Armen als auch bei Reichen, erlebt unauflösbare Konstellationen im Familien- wie im Liebesleben, aber auch bewegende Zeugnisse aufrichtiger Freundschaft.

Nesbø gelingt es wieder, dies alles zu einer richtig runden, überzeugenden Sache zu verschmelzen, und so habe ich den dicken Pageturner mühelos innerhalb weniger Tage bewältigt.

Eine Meisterleistung des Suspense ist der finale Showdown - Nesbø hat die Klaviatur der Effekte voll im Griff und lässt die Leser noch einmal Achterbahn fahren - typisch Nesbø halt.

Bewertung vom 19.11.2022
Ein Alman feiert selten allein
Atmaca, Aylin

Ein Alman feiert selten allein


gut

Wie eine fremde Spezies im Zoo

Der "clash of cultures" manifestiert sich ganz besonders deutlich an emotionsbelasteten Festtagen wie Weihnachten. Das ist häufig schon innerhalb des christlichen Kulturkrieses ein Problem, umso mehr, wenn Andersgläubige oder Nichtgläubige ins Spiel kommen. Die Komik des vorliegenden Bands, verfasst von einer türkischstämmigen Autorin, ist der Tatsache zu verdanken, dass sie offensichtlich an eine überdurchschnittlich bornierte Familie geraten ist. Das kann man mit aller gebotenen Selbstkritik lesen, oder es geht einem nach einer Weile auf die Nerven, weil man vor lauter flächendeckend aufgestellten Fettnäpfchen nicht mehr weiß, wohin man seinen Fuß setzen soll.

Da wird nichts ausgelassen: ein straff durchgetakteter Zeitplan, der Kult um den Weihnachtsbaum, geschenkegeile Kids, zu üppiges Essen und Alkoholgenuss, einmal ganz abgesehen von der fehlenden Distanz zu Selbstverständlichkeiten, die auf andere Nationalitäten merkwürdig oder unzumutbar wirken. Aber die Reaktion der Ich-Erzählerin ist auch von keinem bisschen Empathie belastet.

Den Gipfel setzt dann der Besuch des Gottesdienstes auf. Ob ich die Blasphemie in Kapitel 8 witzig finden soll, erschließt sich mir nicht.

Gendern in einem Roman habe ich bisher noch nicht erlebt, hier bleibt mir auch das nicht erspart: auch noch mit Doppelpunkt.

Gut getan hätte diesem Opus ein Lektorat, das die Rechtschreib- und Wiederholungsfehler eliminiert. So gewandt und flott die Autorin formuliert, oft geht ihr vor lauter Begeisterung der Gaul durch. Wie ein Falschfahrer in der Einbahnstraße findet sie alle anderen blöd ohne den geringsten Selbstzweifel.

Indem Aylin Atmaca hier ihren lange aufgestauten Frust ungefiltert und hochemotional ablädt, dient sie weder der gegenseitigen Akzeptanz und Verständigung. An dieser Stelle hätte ich die Lektüre beinahe abgebrochen. Am Ende bin ich froh, dass ich tapfer bis zum Ende durchgehalten habe, und da es sich hier um keinen Krimi handelt, kann ich bemerken ohne zu spoilern, dass irgendwann der allseitige Stimmungsumschwung erfolgt, jedoch allzu abrupt, dass er noch so manches, aber nicht alles den Bach heruntergegangene wieder auffängt. Aber es hat mich schließlich dann doch noch ein bisschen versöhnt.