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Benutzername: 
MarcoL
Wohnort: 
Füssen

Bewertungen

Insgesamt 203 Bewertungen
Bewertung vom 05.10.2022
Das Leben vor uns
Gorcheva-Newberry, Kristina

Das Leben vor uns


ausgezeichnet

Berührend, sensibel, und dennoch ein wahrer Pageturner

Westliche Popkultur ist selten in der ehemaligen Sowjetunion in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, dennoch versuchen Milka und Anja jeden zu ergatternden Schnippel in die Finger zu bekommen.
Beide sind beste Freundinnen, und Milka, deren Familie als dysfunktional bezeichnet werden kann, verbringt die meiste Zeit bei Anja. Deren Eltern besitzen akademische Grade, die politischen Ansichten sind dennoch sehr konträr. Die Großmutter ist Überlebende der Leningrader Blockade und leidet still vor sich hin, während dar Vater die Zustände im Land verherrlicht und die Mutter mit Wut und Sarkasmus auf die Zustände reagiert.
Die 90er beginnen – die Perestroika gibt Anlass zur Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Freundschaft zwischen den beiden Mädchen ist innig, endet aber sehr tragisch. Anja geht zum Studium noch vor dem Fall der Sowjetunion in die USA, und kehrt nach 20 Jahren wieder zurück. Russland hat sich verändert, und ihre Eltern bitten sie um Hilfe. Immobilienmogule durchkämmen das Land, versuchen den Einwohnern jedes Stück Land und Parzelle abzuluchsen – so auch Obstgarten und Datscha von Anjas Eltern. Der Zwangsverkauf soll verhindert werden.
Während dieser Zeit bricht vieles auf, es geraten Dinge an die Oberfläche, welche sehr schmerzen, und dennoch aufklären.
Die Autorin hat mit diesem sehr innigen Roman ein Opus über Exil und Heimat geschaffen; Zerfall, Verlust, Freundschaft gehen Hand in Hand. Er ist sehr berührend, und dennoch ein richtiger Pageturner. Das Buch findet Anlehnung an den „Kirschgarten“ von Anton Tschechow. Die russische Volksseele, eine Kultur geprägt von Traurigkeit und Wehmut quillt auf fast jeder Seite hervor – ganz große Literatur und absolute Leseempfehlung.

Bewertung vom 29.09.2022
SCHNEE
Sigurdardóttir, Yrsa

SCHNEE


ausgezeichnet

Spannend von der ersten bis zur letzten Seite ist dieser Thriller – den man mit wenigen Attributen beschreiben kann: Nordisch düster und isländisch mystisch.
Vier Menschen entschließen sich spontan, mit einem Wissenschaftsstudenten durch die Weiten des Isländischen Hochlandes zu wandern. Das Projekt soll Daten über die Gletscher vermitteln. Frisch, frohen Mutes und bestens eingekleidet machen sie sich auf den Weg – kaum jemand weiß über diesen Trip Bescheid. Eine armselige Schutzhütte wird als Obdach dienen genauso wie Zelte.
Das Wetter ist unwirsch. Sturm und Schnee sind die ständigen Begleiter.
Als sie vermisst werden, wird ein Rettungsteam geschickt, und findet … was nicht verraten werden darf. Aber es ist sehr mysteriös und teilweise spooky.
Ein anderer Handlungsfaden beschäftigt sich mit Hjörvar, einer der beiden Mitarbeiter einer Radarstation. Die Autorin webt ein perfektes Psychogramm um ihn, seiner Familie und seinen spärlichen sozialen Kontakte.
Was haben beide Stränge miteinander zu tun? Oder mit Johanna, welche Mitglied des Rettungsteams ist. Oder einem einzelnen Kinderschuh? Und dann die Stimmen, Visionen … alles nur Einbildungen eines erschöpften Verstandes?
Das alles ist nicht nur mysteriös, sondern bietet dem Leser auch das ein oder andere Gänsehautfeeling. Und alles eingepackt in trostlosen Weiten von Islands Natur … sehr stimmungsvoll.
Die Auflösung lässt lange auf sich warten, und kommt am Schluss fast etwas zu schnell und heftig daher. Man überlegt und grübelt dann schon mal, ob das alles tatsächlich so hätte laufen können … da war ich ein wenig überfordert mit dem abrupten Ende. Nichtsdestotrotz gibt es eine Leseempfehlung von mir, für alle Freunde von Thriller und die gerne nordische Bücher lesen.

Bewertung vom 22.09.2022
Schaut, wie wir tanzen
Slimani, Leïla

Schaut, wie wir tanzen


ausgezeichnet

Familienepos und Gesellschaftsstudie, wundervoll erzählt!

Marokko 1968, die Familiengeschichte der Belhajs geht weiter und führt uns in ein arabischen Land im Wandel. Frankreich verliert immer mehr an Einfluss, die Kolonialzeit ist definitiv vorbei, der wieder eingesetzte König Hassan versucht, seine Autorität auszubauen.
Der Jugend geht es verhältnismäßig gut. Studium, Partys und der Hauch eines DolceVita ist zumindest jenen vergönnt, die es sich leisten können. Die 68er Welle schwappt von Europa her rüber, die Hippies entdecken das Land und günstige Rauschmittel.
Mitten drinnen ist Aicha, Tochter von Mathilde Belhaj, eine Elsässerin, und Amine, ihrem marokkanischen Vater. Er hat durch harte Arbeit seine Landwirtschaft ausbauen können. Er traf zur passenden Zeit die richtigen Entscheidungen und ist Eigentümer eines florierenden Unternehmens. Dadurch wurde es Aicha auch ermöglicht, in Straßburg Medizin zu studieren und lernt eine komplett andere Welt kennen.
Zurück im Maghreb trifft sie auf eine Welt, welche noch wie eingefroren scheint und sich dennoch in einem Wandel befindet. Sie wird es als Ärztin nicht leicht haben, sich in einer patriarchalisch dominierten Welt zu behaupten.
Sie lernt in dieser Zeit einen Studenten kennen, den alle nur „Karl Marx“ nennen. Beide spüren eine gegenseitige Anziehung, und … mehr wird nicht verraten.
Die Autorin versteht es in diesem Buch meisterhaft, eine Gesellschaftsstudie, eingepackt in ein Familienepos, zu packen. All die Umbrüche in jener Zeit, die Rolle der Monarchie, und die Kluft zwischen Armut und Reichtum treten derart transparent zu Tage, dass man sich während des Lesens mitten in der Geschichte fühlt und die Protagonisten mit Haut und Haar erlebt. Gestochen scharfe Sätze, formuliert aus der Distanz, ohne zu bewerten, zeigen ihr wahres schriftstellerisches Genie.
Es kommen natürlich viel mehr Personen im Roman vor, mit all ihren Verbindungen zu einander, ihren eigenen Leben, Ängsten, Nöten und Freuden.
Somit ist es ist gar nicht so einfach, für dieses tolle Buch die passenden Worte er Begeisterung zu finden, außer: Lest es! Absolute Leseempfehlung

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.09.2022
Ein einsamer Ort
Hughes, Dorothy B.

Ein einsamer Ort


ausgezeichnet

Die Autorin gilt als Pionierin der Kriminalliteratur – und dieser Krimi hat es wirklich in sich. Sofern von einem Krimi überhaupt gesprochen werden kann. Für mich ist es viel mehr ein Psychogramm eines Täters. Das investigative Erscheinen eines Ermittler fehlt hier fast völlig. Und anders als bei den gefeierten europäischen Krimiautor:Innen wie z.B. Agatha Christie oder Canon-Doyle, bei welchem die Aufklärung im spannenden Mittelpunkt steht, geht es hier so gut wie nur um den Täter. Der ganze Schreibtstil ist, so meine ich, sehr amerikanisch.
Der Leser begleitet Dix Stelle, ehemaliger Jagdflieger im WW2, mehr oder weniger auf Schritt und Tritt. Er reist von New York in den Großraum Los Angeles, bekommt regelmäßig Schecks von seinem Onkel, kann im Appartement eines alten Bekannten wohnen, und ist dennoch immer knapp bei Kasse. Er trifft einen alten Freund und gleichfalls Veteran, Brub Nicolai. Dieser ist mittlerweile bei der Polizei und ermittelt in einem brisanten Fall: Ein Serienmörder geht um, der wahllos Frauen tötet. Die Spuren könnten sogar an die Ostküste führen ...
Sehr bald ist dem Leser klar, um wen es sich bei diesem Mörder handelt, welche grausamen Obsessionen und frauenfeindliche Gedanken er hegt. Der Zufall hat ihn an die Seite des Ermittlers gespült, und so sieht er sich den Kriminalisten immer einen Schritt voraus. Allein der Umstand, dass wir vom Täter alles wissen, und von den Ermittlungen nur das Allernötigste, macht die Lektüre für mich zu einem besonderen Leckerbissen.
Wie gesagt, die Aufklärung des Falles bzw. die Suche nach dem Täter kommt im ganzen Roman fast nicht vor – wenn, dann nur am Schluss. Die restliche Zeit sind wir im Kopf von Steele, mit seinen Gedanken, wie er der Justiz entkommen kann. Und dann kreuzen seinen Weg doch immer wieder Frauen, die ihn magisch anziehen.
Ich habe das Buch sehr gerne gelesen, und gebe eine ausdrückliche #Leseempfehlung für Freunde der Spannungsliteratur ab. Denn der #Krimi ist anders, und sprengt die üblichen Rahmen.

Bewertung vom 06.09.2022
Haie in Zeiten von Erlösern
Washburn, Kawai Strong

Haie in Zeiten von Erlösern


ausgezeichnet

Ein fantastisches Buch über das Leben

Hawaii. Die Zuckerrohrplantagen werden stillgelegt, unzählige Hawaiianer verlieren ihre Arbeit, während die „Haole“ - die Weißen - die Inseln überrennen und mit ihrem Protz und ihrer Geldgier einen Ausverkauf des Landes starten. Der Tourismus überfällt die Insel wie eine der sieben Plagen. Und die Magie der Inseln, die Geschichte der Götter wird immer weiter zurückgedrängt.
Familie Flores ist eine der Betroffenen. Um über die Runden zu kommen, wandern sie auf die Hauptinsel aus, um zumindest eine Arbeit zu bekommen. Irgendwie schaffen sie es, durch zu kommen. Ihre drei Kinder wachsen auf, und ihnen wird ein Studium auf dem amerikanischen Festland ermöglicht.
Mutter Malia versucht zumindest im Geiste, alte Traditionen und altes Wissen aufrecht zu erhalten. Es scheint auch in ihren Kindern weiter zu leben. Nainoa wird, so unglaublich es klingt, als Siebenjähriger von Haien gerettet. Und seitdem trägt er eine besondere Gabe in sich. Er wird zum Mittelpunkt der Familie, alles dreht sich um ihn, oft sehr zum Leidwesen seiner Schwester Kaui und Bruders Dean. Mit seiner Gabe kommt etwas Geld in die leere Familienkasse – also kein Wunder, dass seine Geschwister in seinem Schatten ausharren müssen.
Aber auch sie sind vom Schicksal begünstigt, haben Gaben und Talente. Nur dauert es sehr lange, bis sie ihrer gewahr werden und voll ausnützen können. Bis dahin leben sie ihr Leben auf dem Festland, jeder in einer anderen Stadt, so gut oder schlecht wie sie können.
Erst als ein Unglück passiert, zieht es es sie zurück zu ihren Eltern. Der Kreislauf des Lebens hat den Zenit überschritten und steuert seinem Anfang entgegen.
Doch was ist der Anfang? Und das Ende?
Washburn beschreibt in diesem wunderbaren Roman die Geschicke seiner Protagonisten. Diese kommen Kapitel für Kapitel selber zu Wort, teilen uns ihre Freuden, aber hauptsächlich ihre Sorgen und Ängste. Sie reifen alle heran, bis auch sie bemerken, dass sie etwas Besonderes sind. Jeder nutzt sein Talent letztendlich auf die beste Art und Weise.
Es ist ein Aufschrei, wie sich der Mensch von der Natur entfernt, obwohl er gleichsam ein wertvoller Teil davon ist. Erst der ein oder andere Schicksalsschlag lässt das alte Gespür für die Götter, die Weisheit der Natur, wieder in den Körpern aufleben.
Der Autor spannt somit, zumindest sehe ich das so, einen weiten Bogen über die hawaiianischen Legenden. Wie geht man mit Verlusten, Trauer um? Was bedeutet Hoffnung? Was sind Erfolg, Reichtum, Geld? Was ist Familie letztendlich?
Hoffnungsvoll und/oder melancholisch – jeder muss seinen eigenen Weg finden.
Washburn präsentiert und hier einen unvergleichbaren Roman. - Ganz große Leseempfehlung!

Bewertung vom 28.08.2022
Schwerer als das Licht
Raich, Tanja

Schwerer als das Licht


ausgezeichnet

Ein sehr eindrücklicher Aufschrei, wie wir mit uns umgehen!

Ich gebe zu: ich tue mich mit einer Rezension äußerst schwer, denn es ist wohl ein Roman, welcher beim ersten Mal lesen kaum die Gesamtheit der eingepackten Sprache entblättern kann. Es sind Kaleidoskope aus Botschaften, Aufschreie, wie wir mit unseren Leben und unserer Natur, unserem Planeten, umgehen.
Tanja Raich lässt die Welt, eine Frau auf einer Insel als ihre Protagonistin, aufschreien. Sie ist durchdrungen von einer Neugier, geplagt vom Durst des Unbekannten, und hat Angst. Verlust und Zerstörung bedrohen ihre Existenz, Menschen voller Argwohn und Fremdheit wollen sie vernichten. Sie hat sich auf der Insel, auf welcher das Leben sie angespült hatte, eingenistet, versucht von dem zu leben, was die Natur ihr bietet. Doch die Natur welkt, wird schwarz und ungenießbar. In ihrer selbst gezimmerten Festung stellt sie Fallen auf, um ja nicht gefangen zu werden.
Denn im Norden der Insel, da sind die Fremden, sie gehören vernichtet, zerstört, um das alleinige Lebensrecht aufrecht zu erhalten. Doch ist es so? Sind da wirklich andere Menschen, Kinder? Trommelgeräusche?
Oder sind es nur Trugbilder, im Wahn vor der finalen Vernichtung der Welt gesponnen, dankbare Opfer, Schuldige, um vom eigenen Tun abzulenken?
Der Ritt über die Zeilen ist mehr als ein Surfen auf den Wellen der Gefühle. Mal erzählt die Frau selbst, mal wird von außen berichtet. Mal scheint der Schrecken mehr als greifbar, mal werden Opfer zu Täter und umgekehrt.
Das mag verwirrender klingen als es ist, denn wir wissen letztendlich nicht, was die wahre Bedrohung ausmacht. Ist es die Natur oder ist es der Mensch? Wer ist wohl verantwortlich für den Verlust der Lebensgrundlage?
Ein Satz im Klappentext beschreibt es sehr treffend: „Ein kraftvoller, schonungsloser, sprachlich so messerscharfer wie hypnotisierender Text, der die Natur – und ihre Zerstörung - mit allen Sinnen erfahrbar macht.“
Viele mehr kann ich dazu nicht sagen, außer: kauft und lest dieses Buch. Es ist großartig! Absolute Leseempfehlung! Und ich erlaube mir hier, was die von mir gedeutete Intension angeht, einen Vergleich mit „Die Wand“ von Marlen Haushofer.

Bewertung vom 16.08.2022
Das versunkene Dorf
Norek, Olivier

Das versunkene Dorf


sehr gut

Ein psychologisch sehr fein konstruierter Krimi

Noémie Chastain, Kommissarin in der Drogenabteilung der Pariser Einsatzgruppe „Bastion“, wird bei einem Einsatz schwer verletzt. Ein Schuss mit einer Schrottflinte in ihr Gesicht ändert ihr Leben von Grund auf. Auch wenn die Genesung voranschreitet, so bleiben nicht nur äußerliche Narben zurück. Das schöne Antlitz bleibt für den Rest ihres Lebens entstellt – und damit muss sie klarkommen, was ziemlich schwierig wird. Das Trauma sitzt tief, ihr Lebensgefährte verlässt sie umgehend, und ihr Chef setzt sie aufs Abstellgleis, um seine Mitarbeiter zu schützen. Diese sollen sich durch Noémies Aussehen nicht in ihren oftmals gefährlichen Einsätzen einschüchtern lassen.
In der tiefen Provinz soll sie ein Kommissariat überwachen, um festzustellen, ob dieses überhaupt noch benötigt wird.
Aber für Noémie, die letztendlich diesen verächtlichen Job übernimmt, nur um eines Tages wieder zurück in ihre geliebte Großstadt zu gelangen und an ihre Arbeit anknüpfen kann, verändert sich in diesem Monat doch einiges.
Just an ihrem letzten Tag im Dorf Avalone, welches 25 Jahre zuvor einem Staudammprojekt weichen musste, und ein paar Kilometer weiter neu aufgebaut wurde, wird eine Leiche entdeckt. Und es wäre nicht Noémie, und ihre Liebe zu ihrem Beruf, um nicht sofort mit den Ermittlungen zu beginnen. Und diese führen in die Vergangenheit des Dorfes und der Menschen, die dort in einer Pseudoidylle miteinander zu leben versuchen.
Der Krimi ist ein Pageturner, spannend und gut geschrieben vom ersten bis zum letzten Buchstaben. Auch wenn das Ende vielleicht etwas zu hinausgezögert wurde mit mehr als einer überraschenden Wendung (aber auch in einer gewissen Weise vorhersehbar). Was mir besonders gut gefallen hat ist die Entwicklung und Gestaltung der Charaktere. Diese kommen absolut authentisch rüber, zeigen ihr menschliches Wesen mit allen Vor- und Nachteilen. Es gibt keine Superhelden, auch nicht bei den Einsatzgruppen.
Dem Autor ist es gelungen, einen psychologisch sehr gut aufgearbeiteten #Krimi zu verfassen, der einen nicht mehr loslässt (und mich auch abseits der Lektüre zeitweise in meinen Gedanken verfolgte). Der Ort Avalone samt dem Staudamm ist fiktiv, allerdings eingebettet in eine reale Landschaft mit existierenden Ortsnamen im Süden Frankreichs.
Ganz große Leseempfehlung für alle Freunde von Krimis und Spannungsliteratur.

Bewertung vom 31.07.2022
Nachtbeeren
Penner, Elina

Nachtbeeren


ausgezeichnet

Nun, das ist ein wirklich zu tiefst eindrücklicher Roman, welcher stark nachhallt und im Geiste noch weiter reift. Er zählt für mich zu jener bemerkenswerter Lektüre, dessen Gesamtheit ich erst ein paar Tage später so richtig begreifen konnte – und noch mehr genießen durfte.
Erzählt wird die Geschichte von Nelli Neufeld, Mennonitin und Russlanddeutsche. Ihre Muttersprache ist Plautdietsch (da musste ich erstmal googeln), und das kommt in so manchen Zitaten im Roman immer wieder mal vor. So wie es damals möglich war, kam sie mit ihrer Familie zu Beginn der 1990er Jahre nach Deutschland. Dies alles trifft auch für die Autorin zu.

Nelli ist und bleibt eine Außenseiterin, sowohl in der Gesellschaft als auch in der Familie. Ungeliebt und ungewollt – das sind nicht die besten Voraussetzungen für ein glückliches Leben, gar eine glückliche Kindheit. Von den Mitschülern gehänselt und ausgelacht, von den Eltern … ja, was wohl? Die einzigen, welche ihr am ehesten so etwas wie Liebe entgegen bringen konnten, waren ihre „Öma“, und ihr Bruder Eugen. Letzterer hat es selbst nicht leicht und verlässt die Familie. In ihrer eigene Familie mit Ehemann Kornelius und Sohn Jakob, den sie wirklich sehr liebt, bleibt ihr ebenfalls das erhoffte Glück versagt. Kornelius ist: „… kein Ehemann, sondern ein Mann in der Ehe ...“. Als Öma stirbt, zieht es Nelli restlich den Boden unter den Füssen weg.

Nelli, Jakob und Eugen erzählen die Geschichte über ihr Leben als Russlanddeutsche, über ihren Glauben und ihre Religion, Sprache und Familie. Sie versuchen darzustellen, wie es so ist, in einer entwurzelten Umgebung zu recht zu kommen, das „neue“ Leben in Deutschland contra den uralten Gepflogenheiten der Familie mit all ihren sonntäglichen Treffen und Ritualen zu meistern. Wie kann man (und frau) loslassen, wenn die Ketten derart stark sind. Es fängt von klein auf an bei Nelli, und der Bogen der verletzten und zerquetschten Seele reicht weit, beginnend von Essstörungen bis zu Misshandlungen und noch vielem mehr.

Ich könnte noch so viel darüber erzählen … auch darüber, dass trotz all der Tragik der Grundtenor gar nicht so schwarz war … obwohl, auch ein wenig schwarzer Humor taucht auf, wenn man dem Geheimnis einer Kühltruhe nachgeht, welches sich wie ein kleiner (schwarzer) Faden durch den Roman zieht.
Es ist ein sehr besonderes Buch, welches etwas Ruhe und viel Empathie beim Lesen benötigt. Letztendlich wird man mit einem außergewöhnlichen Lesegenuss und vielen Gedanken belohnt, welche es mehr als wert sind, bedacht zu werden.

Bewertung vom 26.07.2022
Das Adelsgut
Turgenjew, Iwan S.

Das Adelsgut


ausgezeichnet

Fjodor Lawretzki zieht es zurück in seine Heimat. Nachdem er turbulente Zeiten in Paris und Italien erlebte, möchte er sich gerne wieder zu Hause niederlassen. Ruhe und Beschaulichkeit, ja sogar russische Traditionen, sollen wieder mehr Platz in seinem Leben finden. Nach den Reisen durch die Städten bevorzugt er den Aufenthalt auf dem Land. Ein besonders verwahrlostes Landgut in seinem Besitz hat es ihm besonders angetan. Es wird wieder hergerichtet und wohn- und auch herzeigbar gemacht. Und eine neue Liebe, sehnsüchtig, verzehrend, unerfüllt, bemächtigt sich seiner. Lisa ,die junge, sehr tugendhafte Tochter seiner Cousine, hat ihm den Kopf verdreht, zumindest glaubt er das. Ob er, als weltgewandter Herr, sich den strengen Regeln des keuschen, erzkatholischen Russlands unterordnen kann, sei dahingestellt. Zudem ist er immer noch verheiratet, auch wenn diese Bindung nicht von Glück und Überschwang gesegnet ist. Im Prinzip klingt der Inhalt, der ganze Rahmen dieses im Jahr 1842 spielenden Romans wie eine leidvolle Lovestory (quasi älterer Herr verliebt sich in junge Frau). Doch dem ist nicht so. Es ist nur ein Konstrukt für den Autor, um all das zu erzählen, was ihm wohl wichtig erschien.
Turgenjew malt mit seinen Worten unglaubliche Bilder der damaligen Zeit. Auch wenn die Handlung selbst dahin weht wie ein laues Lüftlein, so merkt man, welcher Sturm der schreibenden Leidenschaft sich in den Zeilen verbergen mag. Das leidende „Ich“, charakteristisch für seine Protagonisten, wird eingebaut in eine Welt des russischen Landadels mit allem was dazu gehört. Manchmal kommt es einem vor wie eine ruhige Kamerafahrt durch die Landgüter, lauscht Gesprächen, bestaunt deren Leben zwischen russischer Tradition und dem Wunsch, am aufblühenden Wandel Europas teilzunehmen, und nimmt als Leser in gewisser Art selbst daran Teil.
Ruhig, ohne Hektik, entsteht so ein fein skizziertes, oftmals kritisch beleuchtetes Portrait der damaligen Gesellschaft. Die russische Wehmut plätschert sanft an die Ufer, ohne zu überfluten. Und selbst eine gewisse Ironie, besonders in den Dialogen, fehlt nicht, spiegelt sich gar in versteckter Kritik wider.
Ein ganz großes Lob geht an die Übersetzerin für diese sehr wundervolle Arbeit.
Meine Leseempfehlung richtet sich an alle Freunde klassischer und russischer Literatur, oder jene welche es noch werden wollen.
Das Buch selbst ist, wie immer beim Manesse Verlag, ein Fest für Haptik und Optik.

Bewertung vom 24.07.2022
Das Strahlen des Herrn Helios / Skarabäus Lampe Bd.1
Stoverock, Meike

Das Strahlen des Herrn Helios / Skarabäus Lampe Bd.1


ausgezeichnet

Beschwingt, frech, fröhlich. Ein tierischer Roman!

Gleichmal vorweg: War das ein Spaß, dieses Buch zu lesen! Ein Riesenkompliment an die Autorin für ihren fulminanten Einfallsreichtum, was vor allem die Protagonist:innen betrifft, denn es sind allesamt Tiere. Und da kommt so manche Eigen-Art auf die Leser zu. Fische an Land, wie der noble Advokat Herr von Oben zum Beispiel, behelfen sich eines sehr speziellen Apparates, um Atmen zu können.
Und dieser Anwalt bittet Herrn Skarabäus Lampe (auf Grund einer Narbe oft liebevoll Skar genannt (ich muss an Al Pacino „Scarface“ denken)) um Hilfe in einem Mordfall. Denn Skar ist ein Meisterdetekitv, in der Stadt allerdings nicht überall gerne gesehen. Mit einer Aufklärungsquote von 100% und ausgestattet mit einem sehr analytischen Verstand, liegt der Verdacht nahe, er hätte Hercule Poirot oder gar Mr. Sherlock H. himself ausgebildet. Übrigens: Herr Lampe ist ein Hase, den Zigaretten und ab und wann einer berauschenden Prise Gürteltier nicht abgeneigt.
Helios, ein Löwe, und Leiter eines Wanderzirkus ist ermordet worden. Die Sachlage schien den handelten Polizisten, allen voran Hr. Sutten, ein Beagle, mehr als klar. Es war Dante, der Gorilla. Die gefundenen Beweismittel sprechen für sich. Aber Lampe durchschaut das falsche Spiel sofort, die Polizisten, alles Hunde, kommen nicht so gut weg. Sutten muss immer wieder grollend und schmachvoll Herrn Lampe recht geben, und noch schlimmer – unterstützen. Mit Hilfe des jungen, liebenswürdigen Katers Teddy macht sich der Ermittlerhase auf die Verfolgung des Täters oder der Täterin. Die ersten Befragungen im Umfeld des Zirkus boten ihnen eine Fülle möglicher und überführenswerter Kanditat:innen, denn Motive für die Tat hatten viele Mitglieder des etwas skurrilen Ensembles.
Wie schon erwähnt, hat mich dieser Roman wunderbar unterhalten. Die handelnden Tiere sind sehr plastisch dargestellt. Ohne in den Beschreibungen zu übertreiben oder auszuschweifen, fügen sie sich perfekt in die Handlung ein, als wären sie das normalste der Welt. Sie haben alle eine Geschichte, eine besondere Vergangenheit, welche auch nicht zu kurz kommen darf (und auch nicht zu lange – der perfekte Mix).
Hiermit gebe ich sehr gerne eine Leseempfehlung. Beschwingt, frech, fröhlich. Ich hoffe, es gibt in Zukunft mehr davon.