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Benutzername: 
MarcoL
Wohnort: 
Füssen

Bewertungen

Insgesamt 203 Bewertungen
Bewertung vom 20.07.2022
Der Bär
Krivak, Andrew

Der Bär


sehr gut

Endzeitmelodram contra Leben in und mit der Natur

S.7: „Die letzten beiden waren ein Mädchen und sein Vater.“
So beginnt dieser beeindruckende Roman über die letzten beiden Menschen auf dem Planeten, erzählt von einem Bären, welcher die beiden beobachtet. Sie leben irgendwo in der Wildnis auf dem nordamerikanischen Kontinent. Eine einfache Hütte ist ihr zu Hause, die Natur bietet ihnen genügend, um zu überleben. Aber der Alltag ist schwer und mühsam. Das Kind lernt begierig alles, was ihm sein Vater beibringt. Essbare Pflanzen gehören da genauso dazu wie das Erlegen von Wild . Hier bin ich allerdings der Meinung, dass der Autor über dieses Thema viel zu ausschweifend berichtet – es liest manchmal wie ein richtiger Survival-Guide. Die Kernbotschaft geht da etwas unter. Das Leben geht nur mit der Natur, und nicht dagegen – diese Botschaft wird des öfteren angesprochen, allerdings oftmals in versteckten Bildern, wie beispielsweise die Ungeduld des Mädchens, als es alleine war und im Winter unbedingt einen Fluss überqueren wollte, obwohl alle Anzeichen der Natur, ob es gelingen mag oder nicht, vorhanden war.
Auch die Gier des Menschen, die Umwelt nach wie vor sich untertan zu machen, oder nach Besitz, wird für mich in versteckten Bildern dargestellt. Trauer und Loslassen, sowie die Achtsamkeit gegenüber allen Handelns und der Natur, schälen sich für mich als zentrales Thema heraus.
Der Roman liest sich leicht und flüssig, aber, wie ich schon erwähnte, manchmal zu einfach und nur auf das Erlegen von Beute gerichtet. Allerdings reifen die Zeilen einige Tage nach dem Lesen nach, und man bekommt ein etwas anderes, abgerundetes Bild des Inhaltes. Viele Dinge, welche zuerst nur herum baumelten,.verflechten sich zu einem Ganzen.
Insofern kann ich das Buch allen empfehlen, welche gerne über Endzeitszenarien lesen, oder sich in Naturbeschreibungen verlieren möchten.

Bewertung vom 13.07.2022
Mutabor
Scheuer, Norbert

Mutabor


ausgezeichnet

Wieder ein großer, poetischer Roman des Autors!

Norbert Scheuer entführt uns auch in seinem neuesten Roman wieder in das kleine Städtchen Kall in der Eifel.
Es ist ein Ort, in welchem man glauben könnte, dass ein jeder jeden kennt und absolut nichts im Geheimen liegt. Und es hat tatsächlich den Anschein, als würden die „Grauköpfe“, welche sich regelmäßig in der Cafeteria treffen, alles wissen, alles sehen, alles hören. Allerdings halten sie sich dennoch mit Informationen und Gesprächsbereitschaft bedeckt, wenn es um die Frage der Eltern von Nina geht.
Nina wächst elternlos auf. Ihr größter Wunsch ist es, mehr über ihre Eltern zu erfahren, doch ihre Suche scheint erfolglos und frustrierend zu sein. Sie kann nur mit spärlichen Fakten, was ihre Eltern anbelangt, aufwarten. Und die Grauköpfe sind stumm. Ebenso Sophia, eine pensionierte Lehrerin, welche sich Nina angenommen hat, weiß wohl mehr, aber auch ihre Lippen bleiben versiegelt. Und dabei war es Sofia, welche Nina einen Halt im Leben gab, sie aus der Einsamkeit und sozialer Verwahrlosung geholt hat. Doch auch Sofia scheint ihre Geheimnisse zu haben … und eine schleichende Demenz macht alles nicht einfacher.
So wächst Nina auf, im Ort ansässig und nirgendwo zugehörig, widerspenstig. Mehr als einmal schaffte es ihr Sozialbetreuer mit Müh' und Not, sie vor einem Heim zu bewahren.
Sie jobt bei dem Griechen Evros, dessen bekritzelte Bierdeckel mit Texten aus der Mythologie sie in ihren Bann ziehen – und so bilden sie eine Brücke zwischen Realität, Traum- und Märchenwelt. Nina hat es trotz allen Bemühungen schwer, Anschluss zu finden. Auch ihre vergebliche Liebe zu Paul Arimond verkompliziert die Sache noch mehr.
Norbert Scheuer schafft es, den Leser durch dieses Labyrinth aus vergangenen Tagen und Personen der Gegenwart zu schleusen. Seine Protagonist:Innen sind wie so oft Außenseiter, aber mehr als authentisch. Sie sind greifbar, wie auf einer Theaterbühne, und bleiben dennoch unberührbar weit entfernt, alle auf der Suche nach einer Geborgenheit und ihren Platz im Tohuwabohu des täglichen Seins.
Allein der Sprachstil voller Poesie ist ein Genuss, der einen jede Seite wie eine zarte Praline kosten lässt.
Zusätzlich zu den spannenden Seiten regen Illustrationen von Erasmus Scheuer die Fantasie der Leser:Innen an und machen das Buch zu einem ganz besonderen literarischen Werk.

Bewertung vom 10.07.2022
Biest
Riel, Ane

Biest


ausgezeichnet

WOW! Eine sehr ergreifende und bewegende Geschichte über das Anderssein und die Macht von Freundschaft! Irgendwo im Süden, ich tippe auf Ex-Jugoslawien, irgendwann vor vielleicht 70, 80 oder 90 Jahren – eine genaue Zuordnung überlässt die Autorin der Fantasie der LeserInnen (äußerst genial). So plumpst man mitten in die Geschichte hinein, in eine undefinierte Zeit, umgeben von Land und Menschen, denen wir fast vergeblich eine namentliche Heimat geben möchten.
Dort, mitten drinnen, wird Leon geboren. Er ist größer und viel stärker als Gleichaltrige, von Geburt an mit starken Muskeln versehen. Leon ist im Alter von sieben Jahren schon so groß und stark wie ein Erwachsener. Er hat ein einfaches, zärtliches Gemüt, ist im Prinzip die Gutmütigkeit in Person, wenn er nur seine Kräfte im Zaum halten könnte. Er streichelt gerne Tiere, liebt es, wenn der weiche Pelz seine Finger schmeichelt. Allerdings „liebt“ er oftmals zu heftig, sein ungezügelte Kraft siegt über seinen einfältigen Verstand.
Seine Eltern, Danica und Karl, haben große Mühe mit ihrem Sprössling. Nur der Nachbarsjunge Mirko, der auf dem Hof der beiden hilft, kann Leon so richtig ins Herz schließen, und versteht es auch, sich um ihm zu kümmern. Nach einer schicksalhaften Nacht, in welcher sich all die Unglücke vereinen, welche nur das eine Ziel hatten, zu … (kann ich nicht verraten, sorry, bitte selber lesen).
Soweit der ganz grobe Rahmen. Natürlich ist der Roman sehr vielschichtiger.
Die Autorin erschafft eine ländliche Welt um die Protagonisten, einem Familienepos gleich, und dennoch bleibt alles sehr kurzweilig und spannend. Aus verschiedenen Blickwinkeln werden wir gekonnt ins Bild gesetzt. Auch Leon erzählt viel. Er wartet in einer Lichtung am nahen Fluss auf Mirko, denn es ist wieder mal etwas passiert mit seinen Kräften. Und während er wartet, erzählt er selbst seine Geschichte einem Vogel, welcher geduldig zuhört.
Der Roman ist sehr ergreifend, eine Grundtragik versucht einem beim Lesen ein wenig hinunter zu ziehen, doch die tiefe Freundschaft Mirkos, und dessen Streben nach der Aufmerksamkeit zu Danica, heben einen immer wieder empor.
Und die Sprache: ein Wahnsinn, sage ich euch. Man fühlt sich hineinversetzt in eine Stimmung, welche Thomas Hardy oder George Eliot zur Ehre gereicht; und John Steinbeck wäre sehr stolz auf dieses Werk. Ein ganz großes Lob ergeht hier auch an die Übersetzerin, welche es letztlich erst ermöglichte, uns dieses Juwel aus der Feder von Ane Riel in einer sehr gekonnten Art und Weise schmackhaft zu machen.

Bewertung vom 19.06.2022
Städte aus Papier
Fortier, Dominique

Städte aus Papier


ausgezeichnet

WOW! Das ist eines der schönsten Bücher, welche ich in letzter Zeit (oder überhaupt) gelesen habe, und zählt definitiv jetzt schon zu einem Jahreshighlight
Die Autorin erzählt uns sehr feinfühlig, poetisch anmutig, über das Leben der „Einsiedlerin aus Amherst“. Emily Dickinson zählt zu den bedeutendsten Dichterinnen der USA, ihr Werk wurde fast komplett erst posthum veröffentlicht.
Sie ist eine Einsiedlerin, verlässt in ihrer zweiten Lebenshälfte so gut wie gar nicht mehr ihr Haus, pflegt nur mehr Kontakt mit ihrer Schwester. Sie entrückt der Welt, und schafft sich gleichzeitig mit Stift und Papier ihr eigenes Universum.
Luftig leicht schafft es Fortier, das Leben von Dickinson einzufangen, verzichtet auf eine strenge Biographie, sondern schenkt uns Episoden aus deren Leben, um zu verstehen, in welcher Gedankenwelt sich Dickinson eingenistet hat.
Und das ist ihr wirklich meisterhaft gelungen. Die Autorin schafft es, uns ein Porträt einer Frau zu zeigen, welche einen ganz eigenen Bezug zur Welt und zur Realität hatte. Es fühlt sich an, als würde man Hand in Hand mit der Dichterin durch ihre geschriebene Welt wandeln, sich verzaubern lassen von ihr, wie sie dank ihrer Fantasie ihr Umfeld mit anderen Augen sieht. Ihre Welt wird vor unseren Augen lebendig, sei es ihr Umgang mit Mitmenschen, der Kirche, ihre Ansicht über Familie und Ehe, oder ihr geliebter Garten. Sie macht auch keinen Hehl darüber, dass sie sich als Frau oft fehl am Platz fühlte.

S.14: „Man muss Emily Dickinson nicht sonderlich gut kennen, um zu erahnen, dass es für sie keine Strafe ist, allein mit ihren Gedanken in der Stille eingeschlossen zu sein.“
oder: “Wer braucht schon Gott, wenn es Bienen gibt?“

Wer mehr über das Leben der Dichterin wissen, und in ein Buch voller schöner Sätze eintauchen möchte, sei dieses Werk allerwärmstens ans Herz gelegt – mehr als eine riesengroße Leseempfehlung für dieses Fest der Sinne.

Bewertung vom 21.05.2022
heute graben
Schlembach, Mario

heute graben


ausgezeichnet

Nach den ersten zwei Seiten stand für mich fest: Ich bin sehr begeistert von dem Buch. Allein diese knappe Art der Erzählweise, welche für mich dennoch eine schlichte Art der Poesie enthält, erzeugt einen Sog, dem man nicht entrinnen kann. In fünf „Heften“ erzählt uns der Autor eine Reise seines Ich-Erzählers durch die Landschaft des Leidens. Seelisch wie körperlich scheint der junge Mann nach und nach den Boden zu verlieren. In den kurzen Tagebucheinträgen erfahren wir von seiner Pein, unbedingt seine große Liebe, welche nur mit „A.“ betitelt wird, wieder zu finden. Er schreibt sogar einen Roman darüber, müht sich dabei ab. Von Beruf ist er Totengräber. Auch hier bekommen wir immer wieder Einblicke in seine Arbeit, die er hauptsächlich mit seinem Papa durchführt. Eine Lungenkrankheit macht das Chaos in seinem Körper perfekt.
Der Ich-Erzähler gibt sehr viel über sich preis, und bleibt dennoch auf eine gewisse Art ein grauer Unbekannter, den es gilt, näher kennen zu lernen - fast so, als wären die Tagebucheinträge ebenfalls für den Verfasser gedacht, sich selber zu suchen und betrachten. Das Rätsel um A. macht die ganze Sache natürlich noch zunehmend spannend.
Traumsequenzen, von welchen der Erzähler manchmal selbst nicht mehr weiß, ob es tatsächlich nur Träume waren, oder er es doch erlebt hat, wechseln sich ab. Es bildet sich ein gordischer Knoten aus vermischten Gefühlen. Krankheit, Liebe, Sehnsucht, Selbstbestimmung verheddern sich zunehmend, der Ansatz einer Entwirrung scheint schwierig …
Es ist eine Akzeptanz der Gegebenheiten. Die Gesundheit ist eine Sache, die Liebe und viele kurze Beziehungen eine andere. Der Mut, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, ist wieder ganz etwas anderes. So verstehe ich diesen autofiktionalen Roman rund um den Totengräber. Heute graben, in uns!
Mir hat der Roman sehr gut gefallen, er ist erfrischend anders, aber auch nicht leicht zu lesen. Gerne gebe ich hier eine Leseempfehlung ab, nicht zuletzt auch auf Grund von richtig schönen Sätzen:

S.75: „Ich werfe meine Angel nach Sprache aus. Nur Gestammel rüttelt an der Schnur. Warten. Mit dem falschen Köder, zur falschen Zeit, in falschen Gewässern.“

Bewertung vom 19.05.2022
Der Pfad des Rächers / Die 18/4-Serie Bd.2
Haohui, Zhou

Der Pfad des Rächers / Die 18/4-Serie Bd.2


ausgezeichnet

Dies ist nun der zweite Teil der dreitteiligen 18/4 Serie des Autors. Ich bin wieder voll auf meine Kosten gekommen und zu tiefst überrascht, mit welchem feinsinnigen Gespür der Autor eine Story entwickelt, die den Leser von der ersten bis zur letzten der knapp 570 Seiten total fesselt.
Die Charaktere der handelnden Personen kommen sehr authentisch rüber, es klingt alles total glaubhaft. Es gibt keine Übertreibungen und Superhelden, weder bei den Ermittlern noch bei den Bösewichten. Sie zeigen alle sehr menschliche Züge (gute wie schlechte).
Die Handlung ist vielschichtig, die aktuellen Ermittlungen greifen auf teilweise ungelöste Fälle aus vergangenen Tagen zurück. Irgendwie scheint es, dass alle in einer gewissen Art und Weise zusammenhängen. Es fehlt nur das letzte, eindeutige Verbindungsglied.
Für das tiefere Verständnis sollte man den ersten Teil gelesen haben, dann versteht man die Zusammenhänge viel leichter.
Der Täter von Teil eins, „Eumenides“ ist zwar tot, lebt aber in seinem Nachfolger weiter. Nach wie vor tauchen Todesankündigungen mit Opfername und Datum der Vollstreckung auf, die Polizei tappt wieder im Dunkeln. Durch akribische Investigation und dem Austüfteln eines psychologischen Täterprofils kommen die Ermittler dem Täter so allmählich auf die Spur, doch dieser führt sie wie sein Mentor an der Nase rum … und auch mögliche Trittbrettfahrer sorgen für zunehmende Verwirrungen bei der Polizei. Mehr kann und will ich vom Inhalt gar nicht erzählen, jedes weitere Wort wäre gespoilert.
Spannung pur und ein sehr gewitzter Einfallsreichtum des Autors machen auch diesen Teil wieder zu einem sehr kurzweiligen Leseerlebnis. Dafür gebe ich für alle Fans des gehobenen Thrillers eine ausdrückliche Leseempfehlung. Ich freue mich schon sehr auf den dritten Teil, welcher im September erscheinen wird.

Bewertung vom 12.05.2022
Ein Zug voller Hoffnung
Ardone, Viola

Ein Zug voller Hoffnung


ausgezeichnet

Neapel im Jahr 1946. Das Land ist zu tiefst gebeutelt vom Krieg, im Süden herrscht eine große Armut. Der siebenjährige Amerigo wohnt alleine mit seiner Mutter, welche sehr verbittert ist und von Amerigos Erzeuger im Stich gelassen wurde. Das Viertel hilft zusammen, so gut es geht. Aber anstatt, dass der Junge in die Schule geschickt wird, muss er Lumpen sammeln, damit zumindest ein kärglicher Lohn nach Hause kommt.
Auf Initiative einer wohltätigen Gemeinschaft bietet sich die Möglichkeit, die Kinder für ein Jahr in den Norden des Landes zu schicken. Dort gibt es Familien, welche genug haben, um ein weiteres Kind aufzunehmen. Trotz aller Zweifel und Ängste entpuppt sich die Zugfahrt nach Bologna für das weitere Schicksal Amerigos als ein Segen. Mehr zu erzählen wäre gespoilert – ich kann nur sagen: Lest dieses fantastische und zu tiefst ergreifende Buch.
Die ersten drei Abschnitte erzählt uns Amerigo sein Leben aus der Sicht des Siebenjährigen. Die Sprache ist dementsprechend gehalten. Im vierten Abschnitt kommt, 48 Jahre später, abermals Amerigo zu Wort, und erzählt uns aus der Sicht eines 55-jährigen. Die Autorin wechselt nicht nur die Zeit, auch der Erzählstil ändert sich von der kindlich naiven Weise zu einem etwas kühlen Sprachstil eines Mannes, der viel erlebt hat, der dankbar ist für sein jetziges Leben, aber mit der Vergangenheit seiner kleinen Familie sehr hadert.
Diesen Sprung der beiden Stile finde ich als besonders gelungen, und zeigt uns mehr als deutlich, wie sich jene dunkle (und durchaus unbekannte) Zeit aus Italiens Geschichte in den Köpfen festgesetzt hat. Es ist ein sehr gelungenes Portrait jener Epoche, in welcher Kinder, wenn auch vorübergehend, weg gegeben wurden, damit es ihnen zumindest für eine kurze Zeit besser geht.
Ganz große Leseempfehlung.

Bewertung vom 01.05.2022
Nebenan
Bilkau, Kristine

Nebenan


ausgezeichnet

Ein Ort irgendwo am Nord-Ostsee-Kanal, zweigeteilt an beiden Ufern, verbunden über eine Fähre. Die Kreisstadt in der Nähe, dazwischen die Natur, unberührt könnte man meinen, und dennoch von der Zivilisation verschmutzt. Das Alte scheint brüchig, das Neue zögert, wie so oft. Familien ziehen zu, andere gehen, Häuser werden verkauft, andere abgerissen. Mitten in diesem Trott leben Julia und Astrid. Julia, 40, und Chris sind hinzugezogen, nisten sich ein. Astrid, 60, ist Ärztin und denkt darüber nach, allmählich ihre Praxis abzugeben. Eine verloren geglaubte Freundschaft zu einer Nachbarin, welche wegzog und unvermutet wieder auftaucht, bekümmert Astrid. Und dann ist da noch Elsa, die eigensinnige aber liebenswerte Tante von Astrid.
Ein leerstehendes Haus – eine Familie, welche ohne Abschied gegangen ist, beschäftigt vor allem Julia. Was hat es mit dem mysteriösen Kind auf sich, welches dort eine kryptische Botschaft hinterlassen hat? Die Unwissenheit nagt an ihr ein wenig, und weit mehr noch ihre eigene Zukunft. Julia verzehrt sich in ihrem Wunsch nach einem Kind, versucht alles, sogar eine künstliche Befruchtung. Sie hat ein Keramikatelier eröffnet, zögert aber, als sie das Angebot erhält, mit Teenagern zu töpfern.
Julia und Astrid kennen einander kaum, nur vom Sehen, ihre Wege mögen sich kreuzen. Und so verschieden ihre Leben sind, es verbindet sie der Wunsch nach Beständigkeit, nach einem geborgenen Platz im Leben. Sie teilen ihre Sorgen, Nöte, Ängste und auch Freuden, ohne einander näher zu kennen.
Die Autorin zeichnet hier sehr einfühlsame Portraits der handelnden Frauen, und was es in dieser Gesellschaft bedeutet, Frau und Mutter zu sein. Über Generationen gelebte Verhaltensmuster und Verpflichtungen bröckeln auf, gleichsam wie alte Gebäude marode werden und ersetzt werden. Einsichten, dass das Leben möglicherweise mehr zu bieten hat als stumme Erwartungen und das Leben von Rollen, tauchen auf, unspektakulär und latent.
Es ist ein sehr sanfter, aber tiefgreifender Roman, und ich gebe hier mehr als gerne eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 29.04.2022
Was man sieht, wenn man über das Meer blickt
Geda, Fabio

Was man sieht, wenn man über das Meer blickt


sehr gut

Das ist eines jener schönen Bücher, die man eine Weile setzen lassen muss. Während des Lesens, besonders im ersten Drittel, hatte ich so meine Zweifel, ob die Geschichte nicht gar zu konstruiert und erzwungen wirkte. Manche Handlungen der Protagonisten wollten mir nicht so recht einleuchten. Am Ende dann fügt sich aber alles zu einem großen Ganzen zusammen, und ein paar Tage später dreht sich das Gedankenkarussell immer noch um die Geschichte, vor allem um die Botschaften, welche der Autor einem wohl vermitteln mag.
Freundschaft, die Suche nach sich selbst, das Entdecken der eigenen Fähigkeiten, der Mut, auch mal ganz neue Wege zu beschreiten, schälen sich für mich deutlich heraus. Solche Entscheidungen zu treffen sind im Leben nie einfach, ganz besonders dann, wenn es unmittelbar andere Personen trifft, die einem sehr nahe stehen bzw. standen.
Und dies schafft Geda in diesen 300 Seiten in einer schönen Sprache zu verpacken – großes Lob hier auch an die Übersetzerin.
Über den Inhalt möchte ich mich gar nicht besonders ausschweifen. Es geht um Andrea, Kunstlehrer in Italien. Allerdings beschränken sich seine Anstellungen selten länger als ein Jahr, er wird nur als Aushilfe benötigt. Seine Frau Agnese hingegen ist erfolgreich in ihrem Job, und trägt somit auch finanziell den größeren Teil bei. Der ersehnte Wunsch nach einem Kind platzt mit einer Fehlgeburt, Agnese verliert sich zunächst in einer starken Depression, und dann umso mehr in ihrem Job. Für Andrea scheint nirgendwo platz zu sein. Er flüchtet nach New York, und damit in Erinnerungen an eine unbeschwerte Welt. Doch die Vergangenheit ist nun mal das, was sie war, und die Gegenwart ist ein Irrgarten an Türen für die Zukunft. Irgendwann muss sich Andrea entscheiden … und das macht er dann auch. Auf seiner kleinen Odyssee zu sich selbst stehen ihm neben einem beschwerlichen Weg fremde Menschen zur Seite, die ihm dabei helfen … nicht alles ist schlecht unter der Menschheit, es gibt auch gute Seelen …

Bewertung vom 24.04.2022
Levi
Buttjer, Carmen

Levi


sehr gut

„Niemand hat mir gesagt, dass sich Trauer wie Wut anfühlt“

Levi begleitete seine Mutter oft an deren Arbeitsplatz in der Pathologie. Er beschäftigte sich selber, spielte, oder versteckte sich manchmal unter dem Schreibtisch. Genau dort war er auch, als seine Mutter und mysteriösen Umständen vor seinen Augen starb, auch wenn er eigentlich nichts davon mitbekommen hatte. Er war sich sicher, dass es ein Tiger war, der nach wie vor durch die Straßen und Gassen der Großstadt schlich um sein Unwesen zu treiben.
Levis Vater kümmerte sich nicht besonders um ihn, weder vor oder nach dem Tod seiner Frau. Die kleine Familie war zerrüttet, von elterlichem Streit geprägt. Manchmal kam Levi der Gedanke, dass es doch kein Tiger war, sondern sein eigener Vater, der Mutter tötete.
Auf der Beerdigung schnappte sich Levi kurzerhand die Urne mit der Asche seiner Mutter und rannte davon. Er flüchtete sich in das mehrstöckige Wohnhaus, und nistete sich tagelang auf dem Dach in einem provisorischen Zelt ein. Als er sich sicher sein konnte, dass sein Vater, ein Rechtsanwalt, nicht im Haus war, traute sich Levi nach draußen. Er unternahm Ausflüge mit seinem Nachbarn Vincent, oder ging in den Kiosk zu Kolja, der selbst mit seinem Schicksal haderte und mit den Traumata seiner Vergangenheit als Kriegsfotograf nicht klar kam.
Der Roman hat ein irres Tempo, die Szenen fliegen vorbei, die Flucht von Levi und seiner zwei „Fluchthelfer“ strömt dahin wie ein reißender Fluss, der kaum mal irgendwo zur Ruhe kommt.
Levi bastelt sich in den paar Tagen eine neue Realität zurecht, abseits seines zu Gewalt neigenden Vaters. Erinnerungen tauchen auf wie kleine Insel, die nur ein Gestrüpp von Streit und Disharmonie aufzuweisen haben.
Trauerbewältigung und die schlimmen Geister der Vergangenheit sind das zentrale Thema des Buches, Levi löst es auf seine eigene, kindlich naive, und dennoch mutige Art. Während Kolja sein Heil im Whiskey und Schlaf sucht. Jeder trauert auf seine Weise.
Ich gebe hier sehr gerne eine Leseempfehlung für diese Achterbahn der Gefühle ab, es ist ein temporeicher Roman, der während des Lesens die volle Aufmerksamkeit fordert; also nichts für Müde Geister spät am Abend.