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Benutzername: 
MarcoL
Wohnort: 
Füssen

Bewertungen

Insgesamt 260 Bewertungen
Bewertung vom 30.11.2023
Land der vielen Wahrheiten
Seierstad, Åsne

Land der vielen Wahrheiten


ausgezeichnet

Drei Schicksale aus Afghanistan, dazu eindrückliche Beschreibungen des Landes.

Ein Land, drei Schicksale. Die Autorin erzählt in diesem sehr bewegenden Roman über das Leben von drei Menschen in Afghanistan.
Jamila, geboren 1976, als Kleinkind an Kinderlähmung erkrankt, blieb in ihrer Familie das unliebsame Anhängsel. Sie hatte mit ihrer Krankheit schon als Kind keinen wert mehr. So konnte sie niemandem für die Heirat versprochen werden. Denn es ist und war üblich, Kinder schon im Säuglingsalter zu vergeben. Als Kind kämpfte Jamila gegen ihre Krankheit an. Halbseitig gelähmt lernte sie selbst eines Tages mit Krücken zu gehen. Sie erbettelte von ihrem Vater den Zugang zu Bildung, jedes Jahr aufs Neue. Letztendlich wurde ihre Hartnäckigkeit belohnt, sie schaffte einen Abschluss, und wurde sogar kurzzeitig Ministerin in der Ghani-Regierung. Doch der Kampf war immens. Sie musste sich tagtäglich gegen das Patriarchat stemmen. Ihre schlimmsten Gegner waren ihre Brüder und Cousins, denn ihr Verhalten bringe nur Schande über die Familie.
S.11: Bildung war gefährlich. Sie würde nur ihren Wert auf dem Heiratsmarkt vermindern, und darum ging es schließlich bei Töchtern – um den Marktwert.“
Baschir war 12, als er erstmals von zu Hause ausbüxte und Krieger werden wollte. Und das wurde er dann auch unter den Taliban, hatte viel Einfluss und war stets auf den Kampf gegen die Ungläubigen fixiert. Das geschah alles unter dem fanatischen Deckmantel der Religion. Die Autorin beschreibt sein Leben sehr detailreich, mit seiner Rolle in der Familie, mit vielen seiner Stationen in den Camps und bei den Angriffen.
Ariana wuchs in der Zeit zwischen den Talibanherrschaften in Kabul auf. Das Leben war moderat, den Mädchen und jungen Frauen stand der Weg zur Bildung wieder offen. Das Leben in der Stadt war von westlichen Einflüssen geprägt. Zumindest solange, bis die Amerikaner abzogen und das Land den Taliban überließen. Danach änderte sich das Leben, vor allem für die Frauen, schlagartig. Ariana war nur mehr ein Semester vor ihrem Jura-Abschluss entfernt, als ihr der Zugang zur Universität von der neuen Taliban-Regierung verwehrt wurde.
Rund um diese drei Einzelschicksale, welche stellvertretend für die Bevölkerung des Landes sprechen, baut die Autorin einen kompletten Geschichts- und Ethikunterricht über Afghanistan auf. Das Land funktioniert aus den Familien und Clans heraus. Es sind diese patriarchalischen Strukturen, die das Land regeln und beherrschen. Seierstad versteht es sehr gut, die Landesgeschichte in ihren Roman einzubauen. Auch die Rolle der al-Qaida unter BinLaden kommt nicht zu kurz. Es wächst während der Lektüre allmählich ein Verständnis, wie es im Land läuft, und auch warum. Im Prinzip ist sich jeder selbst der Nächste. Korruption und Denunzierungen sind an der Tagesordnung. Es geht den Männern und Familienoberhäuptern nur darum, für sich selbst den größtmöglichen Vorteil zu erschaffen. Wer gestern noch Verbündeter war, konnte heute schon ein Todfeind sein, wenn es zum eigenen Vorteil gereicht. Und so funktionierte auch die Ghani-Regierung von 2014-2021. Der Westen pumpte Milliarden von Dollars in das Land. Beim Volk kam es nie an. Es verschwand in den Kanälen der Korruption, die bis in die oberste Regierungsebene reichte.
„Solange wir die afghanische Familie nicht verstehen, können wir Afghanistan nicht verstehen.“ ÅSNE SEIERSTAD
Das Buch ist sehr vielschichtig, äußerst informativ, und erweckte mir beim Lesen beinahe schon ein Dauerkopfschütteln ob all der Ungerechtigkeiten. Und trotz des Inhaltes war es leicht und flüssig zu lesen. Es ist eine ganz große Erzählkunst, diesen sehr umfassenden Inhalt derart leicht in Worte zu fassen. Ganz große Leseempfehlung , und für mich ein ganz wichtiges Buch für das Verständnis des Landes.

Bewertung vom 25.11.2023
Der Weg der Wünsche
Rothfuss, Patrick

Der Weg der Wünsche


ausgezeichnet

Fantasy vom Feinsten, eingepackt in eine Sprache voller Anmut und Magie

Patrick Rothfuss is back! Mit einer wunderbaren Novelle aus seiner Königsmördertrilogie (deren Abschlussband sehnsüchtigst erwartet wird). In wunderbaren Sätzen voller Anmut und Poesie erzählt uns der Meister der Fantasy von einem Tag im Leben des Fae Bast.
Dieser arbeitete abends in der Wirtschaft seines Herren Kvote. Aber tagsüber streifte er draußen herum, hatte seine eigenen magischen Plätze, an welchen er sich wohlfühlte.
Und er liebte Tauschgeschäfte. Das hatte sich natürlich längst herumgesprochen, und so kamen immer wieder Personen zu ihm, meist Kinder, die einen Rat von ihm benötigten. Aber ist gab nichts ohne Gegenleistung. Manchmal wurde es ziemlich knifflig, Bast schien sich manchmal in ziemliche Schwierigkeiten hinein zu manövrieren. Mit viel Geschick und Anmut schwindelte er sich wieder aus diesen kleinen Fallen. Denn die Fragesteller, die zu ihm kamen, konnten ebenfalls sehr listig sein.
Es war ein Spaß, ihn den ganzen Tag zu begleiten, von seinen Ritualen am Blitzbaum, oder an einem versteckten Weiher. Die ihm anvertrauten Geheimnisse wusste er gut zu seinem Vorteil auszunützen. Oder er benützte sie, um manche Dinge ins rechte Licht zu rücken und um zu helfen.
Der Junge Rike hatte es ihm angetan, denn dieser kam mit einem sehr besonderen Anliegen zu Bast. Dieses Problem zu lösen erforderte einiges an Scharfsinn und Energie, und der Lohn, den Bast dafür verlangte, war nichts anderes als die komplette Unterwerfung Rikes.
Doch Basts Herz war groß und leitete ihm oft andere Wege, als er sie eigentlich beschreiten wollte. Die Lösung war genial wie anrührend …
Und bevor ich jetzt zu viel verrate und noch mehr ins Schwärmen komme: Lest das Buch! Es ist so wunderbar geschrieben, voller Sanftmut und Melodie. Von den ersten Zeilen an schwebt man mit in dieser Welt, hört das Gras unter den Füssen rascheln, den Bach plätschern, die Bienen summen oder den Wind durch das Blätterwerk rauschen.
Rothfuss besitzt eine eigene Magie des Schreibens, welche einen sofort verzaubert und mitnimmt. Dieses Buch ist Fantasy vom Allerfeinsten. Und ich bin mir sicher, seine Zeilen verzaubern nicht nur Fantasy-Fans. Absolute Leseempfehlung für diese Kostbarkeit in Buchform.
Ein Riesenlob gehört natürlich auch dem Übersetzer Jochen Schwarzer, der das schier Unmögliche möglich gemacht hatte und die wunderbaren Worte des Autors für uns übersetzte, sodass wir mitfliegen können durch diese Welten.

Bewertung vom 22.11.2023
NACHT
Sigurdardóttir, Yrsa

NACHT


ausgezeichnet

Nordisch düster. Spannend bis zum Abwinken.

Das Setting ist perfekt für einen Thriller. Ein abgelegener Fjord in Island, das Wetter schmuddelig bis stürmisch. Eine Familie, welche sich einen Bauernhof zu einem modernen Domizil umfunktioniert hatte, gab seit einer guten Woche kein Lebenszeichen von sich. An und für sich war das dort nicht besonders ungewöhnlich. Der Nachbar schaute dann doch vorbei und entdeckte ein grausames Blutbad.
Ein Ermittlerteam wurde abgestellt, darunter auch Karo und Tyr, welche zur Unterstützung aus der Hauptstadt angereist waren. Sie hatten zwar nicht die Befugnis, den Fall im Alleingang zu lösen, sondern mussten sich jeden Schritt von ihren Vorgesetzten absegnen lassen, aber sie kamen langsam hinter gewisse Geheimnisse, zögerlich …
In Rückblenden erzählt die Autorin vom Leben der Familie, und was in den Tagen vor der Tat geschah. Hauptprotagonistin ist die Hausangestellte Soldis. Sie kümmerte sich ums Essen und vor allem um das Wohl und den Unterricht der beiden Mädchen (15 und 8). Wohl war ihr auf dem Anwesen nie so richtig. Ein unbestimmtes Grauen baute sich auf. Kleine Dinge, unbedeutend könnte man meinen, passierten. Dinge verschwanden, tauchten wieder auf. Undefinierbare Geräusche, Schritte, und dazu das oft sehr eigenartige Verhalten der Hausherren. Die Frau, Asa, war sehr resolut, schien alles im Griff zu haben. Ihr Mann Reynir litt an den Folgen eines Gehirntumors, und war nach dem Massaker zugleich der einzige … und einen massiven Streit mit einem Nachbar gab es auch ... und wo war eigentlich Soldis Vorgänger … und …
Das sind alles wunderbare Zutaten für einen meisterhaften Thriller, nordisch düster bis zur Perfektion.
Was mich ein klein wenig gestört hatte, war, dass keine einzige der handelnden Personen für mich so richtig authentisch rüberkam. Besonders beim Polizisten Tyr hatte ich so meine Zweifel. Denn seine Vergangenheit, die er während der Ermittlungen in Erfahrung brachte, machte für mich den Roman ein wenig holprig – und ich denke: vielleicht etwas zu viel des Guten.
Trotzdem: gerne gebe ich eine Leseempfehlung, den Spannung kann die Autorin.

Bewertung vom 14.11.2023
Die Bibliothek im Nebel
Meyer, Kai

Die Bibliothek im Nebel


ausgezeichnet

Spannung. Unterhaltung. Bücherliebe. In den Wirren der Zeit von 1913-1957

Kai Meyer entführt uns in seinem neuesten Roman wieder in das Graphische Viertel von Leipzig. In jenes Mekka der Buchbranche mit unzähligen Verlagen und Druckereien.
Er schafft es wieder aufs Neue, die Liebe zu den Büchern darzustellen und auf die Leser:Innen zu übertragen, wie schon im fantastischen Vorgängerroman „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ (den man aber nicht gelesen haben muss für diesen Roman (aber sollte)).
Doch diesmal beschränkt er sich nicht nur auf Leipzig. Er entführt uns mit seinen Worten nach St. Petersburg in den Vorabend der Russischen Revolution. Büchermenschen hatten damals einen schwierigen Stand, und mussten teilweise um ihr Leben zittern. Oder flüchten, wie der junge Bibliothekar Artur.
Ein weiterer Schauplatz ist die Cote d'Azur. Die reichen Russen pflegten damals, die Wintermonate dort zu verbringen. So auch die russische Familie Kalinin. Dort trafen sie sich mit der Leipziger Verlegerfamilie Eisenhuth. Es entspann sich eine gewisse Freundschaft. Es war auch geplant, dass Artur, angenommenes Kind der Familie Kalinin, nach Deutschland geht, um Frederik Eisenhuth mit dem Verlegen von Märchen behilflich ist. Und dann war da noch Mara, ebenfalls von den Kalinins aufgenommen, welche eine besondere Gunst ereilte. Um sie rankten sich damals schon Mythen, wer sie sei, woher sie kam. Und noch viele andere spannende Geschichten. Sie wird quasi Dreh- und Angelpunkt des ganzen Romans, wie auch ein bestimmtes Buch.
Es ist ein Familienepos, erstreckt sich von 1913 bis 1957. Die Hotelbesitzerin Liette, selbst mit bewegten Kindheitserlebnissen, geht 1957 auf die Suche nach dieser ominösen Mara, um einem Freund einen gefallen zu tun. Wie es ausgeht? Wird natürlich nicht verraten.
Dieser Roman ist sehr vielschichtig, gliedert die Historien der drei Familien (Kalinin, Eisenhuth, Liette) geschickt in die Erzählung ein. Viele Details, welche das Buch anfangs vielleicht etwas in die Länge zogen, entpuppten sich später als äußerst wichtig für den kompletten Handlungsverlauf. Und es wird von Kapitel zu Kapitel spannender, denn bis zum Schluss bleiben die Geheimnisse gut verborgen.
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 07.11.2023
Wiener Wunder
Franzobel

Wiener Wunder


ausgezeichnet

Spannender Wien-Krimi, amüsant und hervorragend erzählt.

Kommissar Groschen bekam eine dubiose Email. In dieser wurde ein als Selbstmord getarnter Mord angekündigt. Nun, nachdem es derer Meldungen viele gab, wurde diese nicht besonders ernst genommen. Die Nachricht blieb dem Kommissar dennoch im Gedächtnis haften. An sich schon ein beunruhigendes Zeichen. Und auf seine Intuition konnte er sich meistens verlassen. Aber ohne konkrete Hinweise konnte man da nichts machen. Und ohne Leiche auch nicht.
Doch die gab es dann bald mal. Das „Wiener Wunder“, der 400-Meter Läufer, Rekordhalter etc. pp Wenninger war aus dem vierten Stock gestürzt. Selbstmord allem Anschein nach. Doch Groschen und sein Team ließen nicht locker.
Der Untersuchungsrichter verbot weitere Investigationen in Richtung Mord, trotz einiger Anzeichen, dass der Tod tatsächlich durch Fremdverschulden eintrat. Verzwickte Lage. Erst als sich manche Situationen rund um den Ermittler zuspitzten, bekamen sie ein kleines Zeitfenster für ihre Mörderjagd genehmigt.
Diese Untersuchungen führten sie mitten in den österreichischen Doping-Sumpf. Die Erkenntnisse waren haarsträubend, und so reihten sich bald Mordverdächtige an Mordverdächtige. Doch wer war es, falls es so war wie vermutet. Erst als Groschen schon glaubte, den Fall zu den Akten legen zu können, passierte noch eine überraschende, wenn auch zu erwartende Wendung …
Spannend, triefend wienerisch, erzählt uns Franzobel (Original erschien 2014 bei Zsolnay, TB jetzt bei BTB) in lockerem Ton diesen herrlichen Krimi. Seine Charaktere zutiefst menschlich, ohne irgendwelche Allüren oder Superman-Gehabe. Groschen, als Ermittler beinhart, dennoch mit einem weichen Kern, erinnert mich ein wenig an Maigret (auch ohne Pfeife). Nach außen der Charme eines Eisblockes, lodert im Inneren doch eine zarte Flamme.
Mich hat dieser #Krimi wunderbar unterhalten. Er gab Einblicke in die Wiener Beisel-Szene, enge Gassen und die typischen raunzigen Wiener:Innen, samt Augenzwinkern und amüsanten Absätzen.
Gerne gebe ich eine #Leseempfehlung – Franzobel kann einfach gut schreiben!

Bewertung vom 05.11.2023
18 Kilometer bis Ljubljana
Vojnovic, Goran

18 Kilometer bis Ljubljana


ausgezeichnet

Fremde, Heimat, Ankommen – die Suche nach dem Platz in der Gesellschaft.

Der Ich-Erzähler Marko Dordic erzählt von seinem Versuch, in seiner alten Heimat Slowenien wieder Fuß zu fassen. Zurück aus Bosnien, wo er sonst eine Haftstrafe hätte antreten müssen, bei seinen Eltern in Fuzine, ist er sich der quälenden Perspektivlosigkeit junger Männer willkürlich ausgesetzt. Nebenbei ist sein Vater an einem Tumor erkrankt. Dieser weigert sich aber strikt, diese Diagnose anzunehmen. Marcos Eltern stammten aus Bosnien, sind somit eigentlich „Ausländer“ in Slowenien, Tschefuren. An und für sich ein Schimpfwort – und es kommt im Roman sehr oft oft.
In den Jahren, und auch durch den Balkankrieg, hat sich vieles geändert. Auch in Fuzine steht vieles auf Veränderung – nicht nur der Ort an sich, auch die Menschen haben sich verändert.
Marko erzählt von seinem Aufenthalt in Bosnien bei seinen Großeltern. Und von seiner ersten großen Liebe Alma, eine Muslimin. Alles birgt im Hintergrund Konfliktmaterial – strenger Katholizismus versus Islam – die Wunden des Krieges schwären immer noch nach.
Seine Protagonist:Innen wählte der Autor mit viel Bedacht. Sie klingen authentisch, die Dialoge sind so, wie sie sein sollten und triefen von purer Realität. Familienzusammenhalt und die Konflikte des Erwachsenwerdens sowie fehlende Zukunftsperspektiven, Gefängnisaufenthalte, Drogenkonsum, prägen die Schreibart.
Für meinen Geschmack schießt der Autor dabei übers Ziel hinaus. Die Sprache ist oftmals äußerst derb, wohl so, wie sich Zwanzigjährige wohl unterhalten. Ein Umstand, mit dem ich eigentlich gar nicht umgehen kann. Mehr als einmal wollte ich deswegen das Buch schon abbrechen.
Und dennoch will man mehr von der Geschichte wissen – Vojnovic hat meines Erachtens hier einen sehr guten Gesellschaftsroman verfasst, der sich einer gewissen Tiefe nicht entziehen kann. Realistisch und authentisch bis in die verbalen Entgleisungen hinein. Aber damit muss man Leser:In erst mal klar kommen. Dennoch schafft er es, Wut, Trauer, Hass und Liebe, Fürsorge über die Zeilen zu vermitteln.

Bewertung vom 31.10.2023
Monsteranwalt / Monsteranwalt Daniel Becker Bd.2
Buckingham, Royce

Monsteranwalt / Monsteranwalt Daniel Becker Bd.2


sehr gut

Skurril, witzig, rasant. Von Hexenzirkeln, Riesenkraken und anderen Monstern

Ob sich das Daniel Becker auch gut überlegt hat, mit seiner sehr speziellen Anwaltskanzlei? Mittlerweile hat er einen gewissen Ruf in der Szene der nichtmenschlichen Rasse, obwohl er lieber seine eigene Spezies vor Gericht vertreten würde. Aber seine Werbung scheint Erfolg zu haben. Zumindest bei jenen, die sich angesprochen fühlen. Von den Menschen wird er eher belächelt und sie betrachten es als Werbegag.
Aber Becker vertritt tatsächlich Monster und ähnliches, welche ein Problem mit der irdischen Justiz haben, und als das was sie sind sich nicht zu erkennen geben können. Also muss Becker ran, der dann schon den richtigen Einfall haben wird (oder nicht).
Langweilig wird ihm zumindest nicht dabei. Er ist auch sehr sorgfältig darum bemüht, seinem Gehilfen Phil und gar seiner Tochter Lucy die Wahrheit vorzuenthalten. Er will die ahnungslosen Menschen aus gutem Grund vor der Monsterszene fern halten.
Denn er hat sich (bereits im ersten Band zu lesen) in Hexenkreisen nicht besonders beliebt gemacht. Und so trachtet eine sehr gemeine Hexe mit allerhand fieser Tricks nach seinem Leben. Und all die dubiosen Fälle rundherum machen seinen eigenen Fall nicht gerade einfacher.
Als dann sogar noch die Bürgermeisterin von Seattle zu seiner Mandantin wird, weil auf den großen Seen in und um der Stadt plötzlich Schiffe verschwinden – und sein Werbeslogan eben Abhilfe verspricht (ohne an Übernatürliches glauben zu müssen) – geht richtig die Post ab. Denn was da heraufbeschworen wurde … ich sage nur: hat monstermäßige Tentakel …
Der ganze Roman ist ein Kaleidoskop aus skurrilen Begegnungen der besonderen Art. Becker, sichtlich bemüht um Schadensminimierung (Untertreibung!), und auch Vertuschung, schafft es letztendlich doch nicht immer, seine Geheimnisse für sich zu behalten. Denn er benötigt für seine Fälle Hilfe.
Witzig und rasant düst Daniel durch die Seiten. Dem Einfallsreichtum des Autors scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein. An manchen Stellen im Buch hätte ich mir zwar gewünscht, dass der ein oder andere Fall gleich gar nicht zur Sprache gekommen wäre – es hat für mich den Lesefluss ein wenig gestört und von der eigentlichen Story etwas abgelenkt.
Nichtsdestotrotz gebe ich hier gerne eine Leseempfehlung für alle, die gerne mal so etwas wie einen „Blockbuster“ in Papierform haben möchte. Schnelle, witzige Unterhaltung ist garantiert. Nicht nur zu Halloween.

Bewertung vom 27.10.2023
One for the Rock
Major, Kevin

One for the Rock


ausgezeichnet

Neufundländische Idylle und ein perfider Mord. Dazu etwas Whiskykunde!

Sebastian Synard lebt in Neufundland. Er mag seine Heimat, liebt Bücher und Whisky über alles. Er betreibt sogar einen Blog, der zu einer Buchbesprechung gleich den passenden Whisky anpreist. Seinen Fans gefällt es; - und nach dem Lesen dieses Buches bin ich nun ebenfalls bestens darüber informiert. Aber diese „Passion“ ist nur eine Randnotiz im Krimi. Denn es gibt eine Leiche. Allerdings ist man sich nicht so schlüssig, ob es vielleicht doch ein Unfall war. Erst als Synard selbst etwas auf den Pelz gerückt wird, scheint die Sachlage klarer. Und er wird irgendwie Ermittler wider Willen, darf Opfer und Köder gleichzeitig spielen. Die bittere Note dabei: Inspektor Olsen ist der neue Partner seiner Ex-Frau. Könnte bessere Konstellationen geben. Auch Synards Sohn ist nicht sehr begeistert von diesem Olsen, und will am liebsten bei Synard einziehen. Nachdem das nicht so einfach ist, und sein Sohn einen Hund möchte, natürlich entgegen den Interessen dessen Mutter … und das Geld knapp ist … und sein Sightseeing – Unternehmen erst gerade anläuft …
Denn gerade während einer geführten Tour mit einigen teilweise schon betagteren Touristen passierte eben jenes Unglück, das zuerst weder als Eigen- noch Fremdverschulden betitelt werden konnte. Und so schlitterte Synard hinein in die Geschichte.
Es ist ein amüsanter, kurzweiliger Krimi, hält die ein oder andere Überraschung parat. Als Leser ist man sich nie sicher, wohin die Reise führen wird. Zudem wird man mitgenommen auf Wanderungen an die Küste Neufundlands oder ein paar Sehenswürdigkeiten im Hauptort. Und dann eben immer wieder etwas Whiskykunde …
Die Sprache ist lässig locker, für meinen Geschmack zu Beginn etwas zu derb, aber das legte sich gleich mal. So kann ich diesen Krimi gerne als kurzweilige Lektüre empfehlen, perfekt zum Entspannen und den Tag ausklingen zu lassen. Man muss auch nicht unbedingt ein Freund der destillierten Getreidemaische sein, um das Buch zu mögen.
Und noch was: dieser Roman ist der Auftakt zu einer Serie rund um den Helden mit seinem Tourismusunternehmen „On the Rock(s)“.

Bewertung vom 24.10.2023
Die Erinnerungsfotografen
Hiiragi, Sanaka

Die Erinnerungsfotografen


ausgezeichnet

Herr Hirasaka betreibt ein ganz besonderes Foto-Atelier. Die Personen, welche zu ihm kommen, tun das nicht freiwillig. Ihr Schicksal weht sie zu ihm, denn sie stehen an der Schwelle zum Tod – sie sind quasi in der Welt zwischen Diesseits und Jenseits. Sie sollen dort Fotos aussuchen. Fotos, von jedem Tag ihres Lebens. Und nur ein Foto pro Lebensjahr dürfen sie dann auswählen, damit Herr Hirasaka diese dann in eine Drehlaterne montieren kann.
So zieht dann das Leben an den Verstorbenen vorbei, und sie dürfen „gehen“. Ein schöne Idee, finde ich.
Manchmal sind Fotos unscharf, abgegriffen, und es ist nur sehr schwer erkennbar, was sie darstellen sollen. In diesem Fall dürfen sich die Atelierbesucher eine Kamera aussuchen, und Hirasaka verbringt mit ihnen jenen einen Tag nochmals, damit sie im richtigen Moment das Foto machen können.
Sanaka Hiiragi erzählt die Geschichten von drei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein können. Diese plaudern dann an jenem Tag von sich, lassen uns an ihrem Leben teilhaben.
Leicht, typisch japanisch würde ich beinahe sagen, kommen die Episoden daher. Sie erzählen von einer alten Dame nach einem erfüllten Leben als Kindergärtnerin. Oder von einem Ganoven, der es mit dem Gesetz nicht immer sehr genau nahm, dennoch einen gewissen Rest an Anstand bewahrt hatte. Er war nicht sonderlich über seinen gewaltsamen Tod überrascht.
Die dritte Person war ein Kind, ein Mädchen, welches alles andere als ein schönes Leben und liebevolle Eltern hatte. Während es ihm Fotostudie war, passierte noch einiges (mehr wird nicht verraten).
Über Herrn Hirasaka erfahren wir so gut wie gar nichts. Denn er selbst hatte keine Erinnerungen an sein früheres Leben. Es war gerade so, als ob diese allesamt ausgelöscht wurden.
Erst am Ende dieses bezaubernden Romans erfahren wir mehr über sein Schicksal, welches in gewisser Weise mit dem armen Mädchen zu tun hatte.
Der Sprachstil ist sehr angenehm, sanft, fast schon nüchtern. Und dennoch verströmt er einen angenehmen Leseeindruck, wie es für die japanische Literatur so typisch ist, frei von überflüssigen Einzelheiten, dennoch auf eine gewisse Art und Weise poetisch. Auf diesen nicht mal 180 Seiten kommt vieles zur Sprache, Eindrücke der japanischen Lebensart, die Nöte nach dem großen Krieg, oder Einblicke in die Bandenkriminalität.
Die Zeilen plätschern dahin, nehmen einen mit in diese Welten, und am Ende wünscht man sich, es könne doch noch mehr solche Episoden geben.
Sehr gerne gebe ich für diesen hinreißenden Roman eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 22.10.2023
Albanische Schwestern
Arapi, Lindita

Albanische Schwestern


ausgezeichnet

Eine schonungsloser Roman über die Unterdrückung der Frauen in Albanien

S.26: „In einem gottverlassenen Nest, wo zu dieser Zeit der einzige Wandel das Knospen und Welken der Blätter war, je nach Jahreszeit. Wo es sich für junge Frauen nicht gehörte, laut zu lachen, wo die Geburt eines Mädchens dessen Schicksal als minderwertiges Wesen besiegelte, ein Bewusstsein, das mit der Muttermilch eingesogen wurde und fortbestand als Existenz unter der Allmacht der Angst.“

Dies ist eines jener versteckten Schätze in Buchform, die wesentlich mehr Aufmerksamkeit bekommen müssten.
Lindita Arapi, eine der bekanntesten Albanischen Autorinnen, erzählt über das Leben von Alba, einer jungen Frau aus einer Provinzstadt in Albanien. Sie geht schonungslos mit den bestehenden Strukturen von blinder Parteitreue zum Kommunismus und dem mehr als vorherrschenden Patriarchat ins Gericht. Ungeschönt, erbarmungslos wirft sie uns in den albanischen Alltag, beherrscht von großer Armut und dem unsäglichen System. Selbst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bleibt ein Teil der Bevölkerung in der Indoktrination hängen.
Alba und ihre Schwester, welche vor dem „Mauerfall“ aufwuchsen, erfahren am eigenen Leib, wie es ist, sich auch nur im Ansatz gewissen Regeln zu widersetzen. Die Liebe der Eltern gilt dem Staat, aber nicht dem Nachwuchs, vor allem, wenn es nur Töchter sind. Für Pranvera, Albas ältere Schwester, war es noch ein wenig leichter. Aber Alba bekam immer zu spüren, wie unerwünscht sie war, weil sie nicht als der erhoffte Sohn das Licht der Welt erblickt hatte.
Unschöne Szenen (Triggerwarnung: Darstellung von körperlicher und seelischer Gewalt) aus ihrer Kindheit und Jugend hatten Alba traumatisiert.
S.103: „Prügel waren eine Erziehungsmethode. Wer dich liebt, schlägt dich, war die Rechtfertigung. Damit du als Mädchen noch braver wirst.“
Aus diesen inneren Kämpfen kam sie auch später nicht heraus. Sie verließ zwar ihre Heimat, ging nach Wien und heiratete. Aber die Schatten der Vergangenheit krochen immer wieder hervor, dimmten ihr eigenes Licht derart, dass sie sich immer mehr und mehr zurückzog und von ihrem Ehemann entfernte.
Ihr einziger Halt war die starke Verbindung zu ihrer Schwester. Das war in Albanien so, und auch, als Alba im Westen war. Dennoch drifteten irgendwann die Ansichten der beiden auseinander.
Als Albas Vater starb, ging sie zurück nach Albanien. Sie fand nur mehr alte Menschen und Verwahrlosung wieder, vom Leben zerstört.
Der Roman ist eine knallharte Abrechnung mit dem Regime, dem kommunistischen Fanatismus und vor allem dem vorherrschenden Patriarchat. Die Sprache ist geradlinig, die Szenen kommen in Rückblenden daher, und machen es einfacher, in Albas Welt einzutauchen. Die geballte Ladung an den frauenfeindlichen Strukturen kommen so Schritt für Schritt daher. Nichts wird beschönigt, ganz im Gegenteil.
Für mich war die Lektüre ein ergreifendes Erlebnis. Bisher wusste ich nicht viel von dem Land, und so nimmt Alba die Leser:Innen an die Hand und führt sie durch die unbarmherzige Geschichte einer der letzten Bastionen des europäischen Kommunismus.
Absolute Leseempfehlung für diesen tief schürfenden Roman – traut euch, kauft das Buch und lest es. Es lohnt sich allemal.
Was ich noch anmerken möchte: das Werk wurde durch Traduki gefördert. Ohne dieses Netzwerk wäre die literarische Vielfalt aus dem südosteuropäischen Raum wohl ziemlich eingeschränkt. Besonders Indie-Verlage schaffen es so, diese schriftstellerischen Kostbarkeiten uns näher zu bringen, und leisten aus meiner Sicht einen wertvollen kulturellen Beitrag.