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Bücherfreundin

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Insgesamt 340 Bewertungen
Bewertung vom 05.10.2023
Zwischen Mauern
Fuchs, David

Zwischen Mauern


sehr gut

Fürsorge für alle Menschen am Ende ihres Lebens?
Im Mittelpunkt des neuen Romans von David Fuchs steht die junge Bankangestellte Meta Blum, die während ihres Urlaubs ihr Ehrenamt in einem Pflegeheim antritt, das bald geschlossen wird. Ihre Aufgabe ist es, in den kommenden Nächten am Bett des schwerkranken Herrn T. Sitzwache zu halten. Er schreit, wenn er allein ist, und wenn es dunkel ist. Im Pflegeheim sind nur noch zwei Stationen belegt, für die Nacht gibt es lediglich einen einzigen Pfleger, den engagierten Moses, der für 52 Personen zuständig ist. Der betreuende Arzt des Heims ist Dr. Wendelin Pomp, der bald in Rente gehen wird und nur noch gelegentlich in seiner Praxis arbeitet.

Meta hat im Umgang mit Herrn T. viel Geduld, singt Kinderlieder für ihn und liest ihm Märchen vor. Zu ihrer Freude beruhigt sich Herr T. und schläft bald ein. Als Moses ihr etwas Schlimmes über Herrn T.'s Vergangenheit erzählt, gerät Meta in einen Gewissenskonflikt. Soll sie weiter an Herrn T's Bett sitzen und seine Hand halten, oder soll sie gehen?

In seinem Roman stellt der Autor die zentrale Frage, ob ein Mensch, der einmal etwas Böses getan hat, es verdient hat, dass man ihn so behandelt wie jeden anderen Menschen. Verdienen alle Menschen die gleiche Fürsorge, unabhängig davon, wie sie ihr Leben gelebt haben?

Das Buch ist in 6 Kapitel mit kurzen Abschnitten gegliedert, jeder Nacht ist ein Kapitel gewidmet. Es ist in klarer Sprache geschrieben und liest sich sehr flüssig. Dem Autor ist es gelungen, nicht nur die bedrückende Atmosphäre im Pflegeheim, das keine Zukunft mehr hat, sondern auch den allgemeinen Pflegenotstand sehr treffend aufzuzeigen. Er beschreibt neben Moses' und Pomps professioneller Arbeit während der letzten Tage im Heim auch Metas Ringen um die richtige Entscheidung sehr eindrücklich. Neben Meta, Moses, Pomp und Herrn T. begegnen wir auf eine ganz besondere Weise Frau Else, die seit vielen Jahren im Heim lebte, und der Krankenschwester Angelika, die Tagesdienst hat.
Meta zeigt vom ersten Tag an sehr viel Einsatz und versucht, beruhigend auf Herrn T. einzuwirken und ihm seine Situation zu erleichtern. Das hat mich sehr berührt, ebenso wie Moses' Rituale vor der letzten Reise eines Bewohners.

Ich habe das Buch gern gelesen, hätte aber auch gern mehr über das Leben der Protagonisten erfahren.
Die Geschichte hat mich betroffen und nachdenklich gemacht - Leseempfehlung!

Bewertung vom 29.09.2023
Tränen, Liebe, Lebensgier
Hagen, Kimberly

Tränen, Liebe, Lebensgier


sehr gut

Schritt für Schritt in ein neues Leben
Der Langen Müller Verlag hat "Tränen Liebe Lebensgier", das aktuelle Buch von Kimberly Hagen, veröffentlicht. Es ist ein Trauertagebuch, das die Autorin nach dem Tod ihres Mannes über den Zeitraum eines Jahres geschrieben hat. Das Cover ist äußerst liebevoll gestaltet und zeigt eine Libelle, die für Kimberly Hagen eine tiefere Bedeutung bekommen hat. 
In einem herzlichen Vorwort erzählt Pfarrer Rainer Maria Schießler über seine Begegnungen mit der Autorin, die durch ihre Tätigkeit als Gesellschaftskolumnistin bei der Münchner Abendzeitung im süddeutschen Raum keine Unbekannte ist.
 
Kimberly und Clemens Hagen sind ein glückliches Paar, seit sie sich 13 Jahre zuvor auf dem Oktoberfest kennengelernt haben. Es ist bei beiden Liebe auf den ersten Blick, nur 5 Tage später zieht Clemens bei Kimberly ein. Am 10. April 2022 bricht ihre Welt zusammen, als sie vom Krankenhaus die Mitteilung erhält, dass ihr Mann nach einem Routineeingriff vollkommen unverhofft verstorben ist. Mit ihren 41 Jahren ist sie zur Witwe geworden, muss nun nicht nur die Beerdigung des geliebten Mannes organisieren und viele Entscheidungen treffen, sondern auch ihr Leben neu ordnen, ihrer Trauer Raum geben.
 
Die Autorin durchlebt unterschiedliche Phasen der Trauer und lässt uns durch ihre Tagebuchaufzeichnungen an ihren Gedanken und Gefühlen teilhaben. Auch ihre Ängste und Panikattacken beschreibt sie mit großer Offenheit.
Ein soziales Netz fängt sie auf, ihre Familie, die Freunde, sie sind immer da für Kimberly und helfen ihr mit viel Geduld und Liebe durch eine schwere Zeit. Sie lachen und weinen mit ihr, sie lenken sie ab durch unzählige Treffen und Unternehmungen, und sie tragen sie durch ihr erstes Jahr ohne den geliebten Ehemann. Kimberly entdeckt für sich die heilende Kraft der Natur und gewinnt langsam ihre Lebensfreude und Lebensgier zurück. 
 
Das Buch ist in schöner, bisweilen recht jugendlicher Sprache geschrieben und liest sich sehr flüssig. Trotz des ernsten Themas lässt die Autorin sehr viel Humor in ihr Tagebuch einfließen, erzählt auch von vielen lustigen Erlebnissen. Das Buch ist kein Ratgeber, kann es nicht sein, denn jeder Mensch trauert anders. Aber es gibt viele Denkanstöße, vermittelt völlig neue Sichtweisen, macht Mut und gibt Hoffnung. Vieles hat mich berührt, vieles zum Schmunzeln gebracht, für einiges fehlte mir allerdings das Verständnis. 
 
Ich habe das Trauertagebuch gern gelesen. Es ist das sehr persönliche Buch einer starken Frau, die nach dem Verlust ihres Mannes Schritt für Schritt in ein neues Leben findet. Das Buch ist wunderschön gestaltet, es finden sich viele Schwarzweißfotos, und immer wieder begegnen uns fein gezeichnete Libellen. Leseempfehlung!
 

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.09.2023
Vatermal
Öziri, Necati

Vatermal


sehr gut

Bewegender Debütroman
Der Claassen Verlag hat "Vatermal", den Debütroman von Necati Öziri, veröffentlicht. Das Buch befindet sich auf Erfolgskurs und steht auf der Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises.

Der junge Literaturstudent Arda Kaya leidet an einer Autoimmunhepatitis mit Organversagen und liegt auf der Intensivstation. Seine Mutter Ümran und seine Schwester Aylin besuchen ihn täglich, allerdings zu unterschiedlichen Zeiten. Seit 10 Jahren haben die beiden nicht mehr miteinander geredet. Seinen Vater Metin hat Arda nie kennengelernt, dieser ging zurück in die Türkei, bevor sein Sohn geboren wurde. Ümran ist mit ihrem Alltag nach der Trennung vollkommen überfordert, sie trinkt zu viel Alkohol, das Geld ist knapp. Aylin hält es zuhause nicht mehr aus und wird von einer Pflegefamilie aufgenommen.

Arda, der nicht weiß, ob er seine schwere Krankheit überleben wird, schreibt dem Vater, von dem er weiß, dass er wiederverheiratet ist und zwei Kinder hat, einen Brief. Es ist sein Wunsch, dass der Vater, nach dem er sich immer gesehnt hat, ihn auf diese Weise kennenlernt, dass er weiß, was für ein Mensch sein Sohn ist und was er erlebt hat. Aus eigenen Erinnerungen und den Erzählungen seiner Mutter und der Schwester lässt Arda sein Leben und das von Ümran und Aylin Revue passieren. In seinem Brief erzählt Arda dem Vater von seiner Kindheit und Jugend, seinen Freunden und einem traumatischen Erlebnis. Er beschreibt nicht nur den Rassismus, dem er tagtäglich ausgesetzt ist, sondern auch den langen und zermürbenden Kampf gegen die Bürokratie der deutschen Behörden, bis er mit 18 Jahren endlich die ersehnte deutsche Staatsbürgerschaft erhält.

Das Buch ist in jugendlichem Sprachstil geschrieben und liest sich sehr flüssig. Der Autor lässt viele türkische Begriffe in die Geschichte einfließen, für deren Bedeutung ich mir am Ende ein Glossar gewünscht hätte. Obwohl "Vatermal" kein emotionales Buch ist, haben mich die unterschiedlichen Lebenswege von Ümran und Aylin, denen der Autor erfreulicherweise viel Raum gibt, sehr berührt. Ich habe das Buch gern gelesen, auch wenn mir einige der Kapitel, in denen Arda sich mit seinen Freunden trifft, etwas zu langatmig waren. Die Figuren beschreibt Necati Öziri authentisch und bildhaft. Der Roman, in dem es auch um häusliche Gewalt, Ausgrenzung und Drogen geht, hat mir sehr gut gefallen.

Leseempfehlung für dieses beeindruckende und intensive Debüt!

Bewertung vom 18.09.2023
Porträt auf grüner Wandfarbe
Sandmann, Elisabeth

Porträt auf grüner Wandfarbe


sehr gut

Unterhaltsame Familiengeschichte
Die Autorin Elisabeth Sandmann hat einen faszinierenden Familien- und Gesellschaftsroman veröffentlicht, dessen Handlung sich über einen Zeitraum von beinahe 80 Jahren erstreckt und der auf zwei Zeitebenen spielt.

London, 1992: Gwen, Mitte dreißig und frisch von ihrem Freund getrennt, kommt morgens vom Joggen in ihre Wohnung zurück, als sie einen Anruf ihrer betagten Tante Lily erhält. Lily möchte mit ihr und einer Freundin in die ehemalige DDR und von dort nach Polen reisen. Gwen hat eigentlich vor, gemeinsam mit ihrer Freundin Laura den bereits länger geplanten Urlaub in Italien anzutreten und ist vom Vorschlag der Tante wenig begeistert. Nach reiflicher Überlegung beschließt sie jedoch, Lily ihren Wunsch zu erfüllen und freut sich darüber, dass Laura mit von der Partie sein wird. Es wird nicht nur für Gwen eine emotionale Reise in die Vergangenheit.
 
In einem zweiten Handlungsstrang begegnen wir im Jahr 1918 der jungen Ella. Ihre Eltern sind arm, sie können kein weiteres Schulgeld mehr für ihre intelligente Tochter zahlen. So tritt Ella mit 13 Jahren eine Stelle bei Frau Huber an, die in Tölz eine Pension führt. Neben ihrer Tätigkeit beschäftigt Ella sich intensiv mit Kräuterheilkunde und geht wenige Jahre später für eine kaufmännische Ausbildung nach München. Anschließend tritt sie im legendären Hotel Schloss Elmau eine Stelle an, wo sie die junge und vermögende Ilsabé kennenlernt, die auf der Suche nach einem reichen Ehemann ist. Die beiden sehr unterschiedlichen Frauen werden zu Schicksalsfreundinnen. 

Gwen, deren Mutter Marga bereits in Folge eines Unfalls verstorben ist, weiß wenig über die Geschichte ihrer Familie. Ihr Interesse wird jedoch geweckt, als sie die roten Tagebücher von Ella liest, die diese über mehrere Jahrzehnte hinweg geführt hat. Gwen taucht intensiv ein in Ellas Leben und stößt dabei auf dramatische Geheimnisse. Nach und nach gelingt es ihr mit Hilfe von Briefen, Fotos, der Tagebücher, und durch viele Gespräche die Familiengeschichte aus unzähligen kleinen Puzzleteilen zusammenzusetzen. 

Der komplexe Familienroman, in den die Autorin auch viele historische Ereignisse hat einfließen lassen, hat mir gut gefallen. Zu Beginn bedarf es einer gewissen Konzentration, um sich die Namen der zahlreichen Personen und ihre Beziehung zueinander einzuprägen. Das Buch hat mich von Anfang an gefesselt. Es ist in angenehm klarer Sprache geschrieben und liest sich sehr flüssig. Die interessanten Charaktere sind authentisch und bildhaft gezeichnet. Es war spannend, Gwen bei ihrer Spurensuche und der Aufdeckung der Familiengeheimnisse zu begleiten. Meine absolute Lieblingsfigur war Ella, deren Lebensweg mich am meisten beeindruckt hat.  
Ich habe die Geschichte gern gelesen und mich gut unterhalten gefühlt, allerdings fand ich, dass das Buch am Ende leider etwas ins Kitschige abdriftete.

Leseempfehlung für diese unterhaltsame Familiengeschichte! 

Bewertung vom 17.09.2023
Die weite Wildnis
Groff, Lauren

Die weite Wildnis


sehr gut

Allein in der Wildnis
Der neue Roman der amerikanischen Autorin Lauren Groff spielt im 17. Jahrhundert in Nordamerika. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein junges Mädchen, Lamentatio Venal genannt, das im Alter von 4 Jahren in England von der Frau eines Goldschmieds aus dem Armenhaus geholt wird und als Dienstmagd arbeitet. Ein Jahr später wird die kleine Bess geboren, um die sich Zett, wie die Herrin Lamentatio nennt, fortan kümmert. Später wandert die Familie, die Dienstherrin ist inzwischen mit einem Pfarrer verheiratet, in die Neue Welt aus.

Nun befindet sich das Mädchen auf der Flucht Richtung Norden. Es ist Winter, das Mädchen, "sie ist 16, 17 oder 18 Jahre alt" friert und ist hungrig. Sie kämpft ums Überleben, jeder Tag stellt sie vor neue Herausforderungen. Ständig ist sie auf der Suche nach Essbarem und Gefahren durch wilde Tiere und Verfolger ausgesetzt. Verletzungen und Fieber zwingen sie zu Ruhepausen, sie hat Visionen und Halluzinationen. Sie lässt ihre Vergangenheit Revue passieren und erinnert sich an ihr hartes Leben in der kolonialen Siedlung, an die Gewalt, der sie hilflos ausgesetzt war, an Krankheiten und Nahrungsmangel. Auch der junge Glasbläser aus Holland, in den sie sich auf der Überfahrt nach Amerika verliebte, ist in ihren Gedanken. Nach und nach enthüllt sich Lamentatios Leben, das voller Entbehrungen war, und wir erfahren den erschütternden Grund für ihre Flucht. 

Die Autorin schildert sehr eindrucksvoll den Überlebenskampf des Mädchens in der rauen und kargen Wildnis und ihre wachsende Verzweiflung in sehr spezieller und auch bisweilen drastischer Sprache. Ich fand es nicht angenehm, immer wieder detailreiche Schilderungen der Verdauungsvorgänge zu lesen. Die Beschreibung der Einsamkeit und Trostlosigkeit des Mädchens, ihr Kampf ums Überleben in der Wildnis und ihre Auseinandersetzung mit dem Glauben gehen unter die Haut und haben mich sehr berührt. Faszinierend fand ich die Darstellung der kargen Landschaft im Wechsel der Jahreszeiten mit ihren jeweiligen Wetterverhältnissen.

Die Überlebensgeschichte hat mir gut gefallen, sie ist spannend und hat mich sehr berührt. Leseempfehlung für dieses außergewöhnliche Buch, das ich mir sehr gut als Vorlage für einen Film vorstellen kann.

Bewertung vom 12.09.2023
Die Wahrheiten meiner Mutter
Hjorth, Vigdis

Die Wahrheiten meiner Mutter


ausgezeichnet

Beeindruckender und intensiver Roman, der unter die Haut geht
Der S. Fischer Verlag hat "Die Wahrheiten meiner Mutter", den neuen Roman der norwegischen Autorin Vigdis Hjorth, veröffentlicht, der in Norwegen bereits 2020 unter dem Titel "Er mor død (Ist Mutter tot)" erschienen ist. Das Buch stand auf der Longlist für den diesjährigen International Booker Prize.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die 60-jährige Ich-Erzählerin Johanna. 30 Jahre ist es her, dass die Jurastudentin, die mit einem jungen Anwalt frisch verheiratet war, einen Abendkurs in Aquarellmalerei besuchte. Sie verliebte sich in den amerikanischen Kursleiter Mark und brannte mit ihm nach Utah durch. Später kam Sohn John auf die Welt, und Johanna arbeitete erfolgreich als Malerin. Nach dem Tod ihres Mannes ist Johanna nun wieder in der Heimat, da dort eine Retrospektive ihrer Werke geplant ist. Sie bezieht eine Wohnung am Fjord, die nur 4 1/2 km von der Wohnung ihrer Mutter entfernt liegt. Später mietet sie sich zusätzlich eine kleine Blockhütte im Wald, in der Hoffnung, dort gut arbeiten zu können.

Ihren plötzlichen Weggang haben die Eltern trotz erklärender Briefe von Johanna nie verstanden, ihre Berufung als Malerin nie akzeptiert. Sie finden ihre Bilder "Kind und Mutter 1 und 2" empörend und reagieren gekränkt. Als der Vater einen Schlaganfall erleidet, reist Johanna nicht in die Heimat, sie kommt auch nicht zur Beerdigung. Ihre Mutter und ihre jüngere Schwester Ruth sind so verletzt, dass sie den Kontakt zu Johanna abbrechen.

Seit Johanna zurück ist, versucht sie, ihre mittlerweile 85-jährige Mutter in ihrer Wohnung anzurufen. Sie erreicht sie nicht, versucht es immer wieder. Warum geht die Mutter nicht ans Telefon? Hat Ruth ihre Nummer gesperrt? Johanna fragt per Email bei der Schwester nach und erhält keine Antwort. Auch auf ihre Briefe an die Mutter erfolgt keine Reaktion. Sie wünscht sich verzweifelt, mit der Mutter in Kontakt zu treten, um über die Vergangenheit zu sprechen, und sie beginnt, sich den Alltag der Mutter, wie er sein könnte, vorzustellen. Ihr Wunsch, sie zu sehen, ist so groß, dass sie sie heimlich beobachtet und ihr auf ihren Wegen folgt.

Das Buch über den krampfhaften und verzweifelten Versuch der Wiederannäherung einer Tochter an ihre Mutter hat mich gleichermaßen gefesselt und erschüttert. Ich konnte nicht verstehen, dass eine Mutter ihre Tochter nicht sehen will, dass sie sich nicht für Johanna, deren Sohn und den Enkel interessiert. Johanna lässt nicht nur ihre Kindheit Revue passieren und sucht nach den Gründen, weshalb ihre Mutter zu der geworden ist, die sie nun ist, sie hinterfragt auch ihre eigene Vergangenheit und ihre Entscheidungen. Die Autorin schreibt in wunderbarer und intelligenter Sprache, die Kapitel sind kurz, bisweilen umfassen sie nur einen oder zwei Sätze. Die Charaktere sind authentisch und bildhaft gezeichnet. Vigdis Hjorth ermöglicht es dem Leser, intensiv in Johannas Gefühls- und Gedankenwelt einzutauchen und dabei ihren Schmerz zu erleben. 

Mir hat der intensive und berührende Roman, der mich noch lange beschäftigen wird, sehr gut gefallen - absolute Leseempfehlung! 

Bewertung vom 11.09.2023
Sylter Welle
Leßmann, Max Richard

Sylter Welle


ausgezeichnet

Beeindruckender Debütroman
Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat "Sylter Welle", den autobiographischen Debütroman des Sängers, Songwriters und Dichters Max Richard Leßmann, veröffentlicht.

Der Ich-Erzähler Max fährt Ende September mit dem Intercity nach Westerland, um seine Großeltern zu besuchen. Diese machten fast 60 Jahre lang Campingurlaub, hatten 30 Jahre davon sogar einen Wohnwagen. Für drei Tage haben ihn die Großeltern, die bald 90 Jahre alt sind und für die es vielleicht ihr letzter Sylt-Urlaub sein wird, in ihre Ferienwohnung mit Meerblick eingeladen. Diesmal ist einiges anders. Oma Lore holt ihn ab, sie ist zu Fuß gekommen, und sie hat ihm erstmals keine Apfelringe mitgebracht.

Während dieser drei Tage erinnert sich Max nicht nur an die Ferien seiner Kindheit und Jugend, die er mit den Großeltern auf dem Campingplatz verbrachte, sondern auch an die Mitglieder seiner Familie. Wir erfahren, dass seine Mutter wegen Max' übermäßigen Zuckerkonsums regelmäßig im Clinch mit ihrer Schwiegermutter lag, dass Oma nichts von Sonnenschutzmitteln hielt und Onkel Jacob Max' Lieblingsonkel war. Oma Lore, die sich als Familienoberhaupt sieht, ist eine resolute und harte Frau, bei der die Liebe hauptsächlich durch den Magen geht, während Opa Ludwig Tagebuch führt, Stufen zählt und seine Frau so nimmt, wie sie ist, Hauptsache, das Mittagessen steht jeden Tag pünktlich um 12 Uhr auf dem Tisch.

Die Handlung springt zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her. Die Erzählung über die Ereignisse während Max' Besuch bei den Großeltern in der Ferienwohnung wird unterbrochen durch seine Erinnerungen. In Rückblenden setzt sich so nach und nach die Familiengeschichte zusammen. Wir lernen eine Familie kennen, die nach außen hin eher rau als herzlich miteinander umgeht, aber trotzdem immer füreinander da ist. Der Autor erinnert sich auch an tragische und traumatisierende Ereignisse.

Das Buch liest sich flüssig, ich mag den Sprachstil, ganz besonders aber gefällt mir der Humor, den der Autor in sein Buch einfließen lässt. Viele Anekdoten brachten mich zum Schmunzeln, und es gab ernste Begebenheiten, die mich nachdenklich gestimmt haben. Es geht in dem Buch auch um Depressionen und Demenz, um Tod und Trauer. Max Richard Leßmann charakterisiert seine Großeltern und andere Familienmitglieder liebevoll und mit viel Humor.
 
Ich habe die warmherzige Hommage des Autors an seine Großeltern, die mich berührt und erheitert hat, mit sehr viel Freude gelesen. Klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 10.09.2023
Vom Himmel die Sterne
Walls, Jeannette

Vom Himmel die Sterne


ausgezeichnet

Mitreißend und unterhaltsam
Der Hoffmann und Campe Verlag hat "Vom Himmel die Sterne", den neuen Roman der Amerikanerin Jeannette Walls, veröffentlicht. Ich habe vor 15 Jahren mit großer Begeisterung ihren autobiografischen Bestseller "Schloss aus Glas" gelesen, der auch als Verfilmung sehr erfolgreich war, und war daher sehr neugierig auf ihr neues Werk. Ich bin nicht enttäuscht worden.
 
Im Mittelpunkt des Romans, der in der Zeit der Prohibition spielt, steht die Ich-Erzählerin Sallie Kincaid. Sie wächst in einer Kleinstadt in Virginia als Tochter des mächtigen und vermögenden Duke auf, der durch einen Gemischtwarenladen, den Erwerb von Mietobjekten und den Verkauf von Schwarzgebranntem zu Reichtum gekommen ist. Nach dem Tod von Sallies Mutter heiratet der Vater bald wieder und bekommt mit seiner Frau Jane einen Sohn, Eddie. Als Sallie 8 Jahre alt ist, möchte sie ihrem Halbbruder das Fahren mit dem roten Bollerwagen beibringen, den der Duke ihr geschenkt hat. Dabei kommt es zu einem schweren Unfall, in dessen Folge Jane durchsetzt, dass Sallie zu ihrer Tante Faye nach Hatfield geschickt wird. Der Vater, der seine Tochter selten besucht, lässt Faye nur eine geringe Unterstützung für Sallies Lebensunterhalt zukommen, so dass Faye und ihre Nichte gezwungen sind, als Wäscherinnen zu arbeiten.
 
Als nach fast 10 Jahren Jane an der Grippe stirbt, darf Sallie wieder nach Hause zurückkehren. Ihre Aufgabe ist es fortan, Eddie zu unterrichten. Der Duke heiratet bald wieder, seine neue Ehefrau Kat nimmt sich nun des Jungen an, und Sallie überredet ihren Vater, für ihn als Chauffeurin und Geldeintreiberin arbeiten zu dürfen. Nachdem der Vater überraschend stirbt, tritt nach weiteren Todesfällen Sallie das Alleinerbe an.  Um das Überleben des Unternehmens und ihrer Familie zu sichern, wird sie zur Schmugglerin und zur Anführerin eines Bandenkriegs.
 
In gewohnt schönem Sprachstil erzählt die Autorin die mitreißende Geschichte der Familie Kincaid. Wir erleben den Duke, der als Alleinherrscher die Geschicke seiner Familie und des Unternehmens lenkt, und die eigensinnige und mutige Sallie, die nicht dem damaligen Frauenbild entspricht und dafür kämpft, sich in der Männerdomäne zu behaupten. Sallies Leben hat weniger Höhen als Tiefen, sie muss Schicksalsschläge und Enttäuschungen verkraften. Ihre Entwicklung im Laufe des Buches hat mich beeindruckt. Als sie erkennt, dass die Prohibition zu mehr Armut und stärkerer Arbeitslosigkeit führt, handelt sie. Im letzten Teil des Romans kommt es zu überraschenden Wendungen, und es werden einige Familiengeheimnisse aufgedeckt. 
 
Das Buch, das sich auch mit den Themen Gewalt und Rassismus auseinandersetzt, hat mir sehr gut gefallen, es hat mich von der ersten Seite bis zum stimmigen Ende gefesselt und fasziniert. Klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 09.09.2023
Wie ich lernte, den Fluss zu lieben
Vinogradova, Laura

Wie ich lernte, den Fluss zu lieben


ausgezeichnet

Wunderschön erzählt und sehr berührend
Der Paperento Verlag hat den Roman "Wie ich lernte, den Fluss zu lieben" der lettischen Autorin Laura Vinogradova, der 2021 mit dem Europäischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde, veröffentlicht. Das gebundene Buch ist Teil der Schöne Bücher Bibliothek, die von unabhängigen Verlagen zusammengestellt wurde und 10 Bände umfasst. Es ist sehr liebevoll gestaltet, hat ein Lesebändchen und enthält zahlreiche wunderschöne schwarz-weiße Illustrationen.

Auf 120 Seiten erzählt die Autorin in wunderschöner Sprache die Geschichte der 36-jährigen Rute. Sie hat Schlimmes erlebt, die Mutter sitzt im Gefängnis, ihre drei Jahre ältere Schwester Dina verschwand 10 Jahre zuvor nach einem Besuch bei Rute spurlos. Rutes Schmerz sitzt tief, die ständige Frage, was mit ihrer Schwester passiert ist, quält sie. Regelmäßig schreibt sie emotionale Briefe an Dina.

Nach dem Tod des Vaters Jule, den Rute nie kennengelernt hat, erbt sie dessen kleines Haus am Fluss und beschließt, dort den Sommer zu verbringen. Sie verzichtet auf ihr luxuriöses Zuhause in der Stadt und begnügt sich nun damit, ganz einfach zu leben, ohne fließendes Wasser, ohne Sanitäreinrichtungen. Bald lernt sie ihre Nachbarin, die schwangere Matilde kennen, die einen kleinen Sohn hat. Durch Matilde lernt sie auch deren Bruder Kristofs kennen, der ihr viel von ihrem Vater erzählt. Rute muss das Bild korrigieren, das sie von Jule hatte, ihre Mutter hatte den Vater immer ganz anders dargestellt.

Der Roman hat mir sehr gut gefallen, es ist ein ruhiges, in wunderbarer Sprache geschriebenes Buch, in dem es um Liebe und Freundschaft, Sehnsucht und Leid, aber auch um Hoffnung geht. Die Figuren sind sensibel und authentisch beschrieben. Ich konnte mich sehr gut in Rute hineinversetzen und ihren Schmerz und ihr Leid spüren. Sehr berührend fand ich die emotionalen Briefe, die Rute an ihre Schwester schreibt.

Es hat mir viel Freude bereitet, diese wunderschöne Geschichte, die mich sehr bewegt und zutiefst berührt hat, zu lesen. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 07.09.2023
Der beste Platz zum Leben
Weiß, Anne

Der beste Platz zum Leben


ausgezeichnet

Humorvoll, informativ und bestens recherchiert
In ihrem neuen Buch "Der beste Platz zum Leben - Wie ich loszog, ein Zuhause zu finden, das zukunftstauglich ist und glücklich macht" stellt Anne Weiss unterschiedliche Wohnformen vor und schildert mitreißend und humorvoll ihre persönlichen Erfahrungen mit den von ihr durchgeführten Wohnexperimenten. Sie beschreibt die Wohnungsprobleme und Wohnungsnot in unserem Land und erklärt kurzweilig und fesselnd geschichtliche, politische und gesellschaftspolitische Hintergründe.

Die Autorin ist Ende vierzig, Minimalistin aus Überzeugung, ökologische Nachhaltigkeit ist ihr wichtig. Anne Weiss fährt mit dem Fahrrad und dem Zug statt mit dem Auto, macht sich Gedanken über unsere Zukunft sowie menschenwürdiges und bezahlbares Wohnen. Sie beschließt, unterschiedliche Wohnexperimente durchzuführen und erzählt in ihrem Buch, welche Erfahrungen sie dabei machte. So begleiten wir sie bei ihren Umzügen u.a. in ein Haus auf dem Land und in einen Eisenbahnwaggon. Sie wohnte in einem Tiny House, im Smart Home eines Freundes, hat sich in einem Ökodorf mit Selbstversorgung eingebracht und in einer Jurte gewohnt. Mitreißend und äußerst unterhaltsam beschreibt sie nicht nur ihre Aufenthalte und deren Vor- und Nachteile, sondern vermittelt auch weiteres Hintergrundwissen über die jeweilige Wohnform. Über ihre Wohnexperimente hinaus gibt es auch interessante Kapitel über Wohngenossenschaften und Projekte, Wohnen im Alter sowie den Wohnungsmarkt. In ihrem Nachwort widmet sich die Autorin besonders den Problemen wohnungsloser Menschen.

Anne Weiss' gründliche Recherche zu vielen Themen hat mich sehr beeindruckt, die Ausführungen zur Wohnsituation im 19. Jahrhundert fand ich hochinteressant. Außerdem weiß ich nun mehr über smartes Wohnen, Solarstromgewinnung, autofreie Siedlungen, Selbstversorgung, optimale Baumaterialien und deren Lebensdauer, Strohballenhäuser und Genossenschaftsmodelle. Ich kann mir vorstellen, dass das Buch vielen, die ihren besten Platz zum Leben noch nicht gefunden haben, wertvolle Denkanstöße geben kann. Sehr hilfreich sind auch die zahlreichen Links, die zu weiteren Informationen führen, sowie das 12-seitige Quellenverzeichnis am Ende des Buches. Ich finde die Mischung aus Sachbuch und eigenen Erlebnissen der Autorin äußerst gelungen und hatte dank des schönen Sprachstils und ihres netten Humors sehr viel Lesefreude.

Absolute Leseempfehlung für dieses unterhaltsame, informative und bestens recherchierte Buch!